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Nordirland: 20 Jahre Karfreitagsabkommen

Rücken an Rücken

10. April 2018 | Vor genau zwanzig Jahren beschlossen die Regierungen in London und Dublin das Abkommen von Belfast, das Nordirland endgültig befrieden sollte. Doch die Probleme sind nicht verschwunden. Warum?

Die Erwartungen waren gross, die Hoffnungen nicht unbegründet. Würde es zum entscheidenden Deal kommen, der den nordirischen Krieg beendet, der ab 1969 über 3500 Tote und Zigtausende Verletzte gekostet hatte und in dessen Verlauf Tausende im Gefängnis landeten, die meisten davon zu jahrzehntelanger Haft verurteilt? Entsprechend nervös verfolgten daher viele in den Regierungsvierteln von London und Dublin, in Washington und im Brüsseler EU-Hauptquartier die Verhandlungen in Belfast.

Bis dann an Karfreitag, dem 10. April 1998, eine ganze Reihe von Politikern erleichtert vor die Medien traten: der britische Premier Tony Blair, der irische Taoiseach (Ministerpräsident) Bertie Ahern, der US-amerikanische Unterhändler George Mitchell, der Vorsitzende der Ulster Unionist Party und spätere Friedensnobelpreisträger David Trimble, der Chef der pro-irischen Social Democratic and Labour Party John Hume (der ebenfalls den Friedensnobelpreis bekam). Und – am Rande – die ehemaligen Kommandanten der irischen Untergrundorganisation IRA, Gerry Adams und Martin McGuinness (die ebenfalls den Nobelpreis verdient gehabt hätten, aber als frühere Paramilitärs dafür weniger in Frage kamen). Nur die Democratic Unionist Party (DUP) des rabiat-protestantischen Predigers Ian Paisley war nicht dabei (Begriffserklärung: siehe Randspalte).

Es sei ein epochales Abkommen, das sie gerade geschlossen hätten, sagten sie in zahllose Kameras und diktierten sie in die Notizblöcke der JournalistInnen. Der Begriff «epochal» war gar nicht mal zu hoch gegriffen, wenn man die Hürden betrachtet, die da genommen wurden:

● Die Republik Irland verzichtete – die Zustimmung durch eine Volksabstimmung vorausgesetzt – auf seinen in der Verfassung verankerten Anspruch auf die ganze Insel, das heisst auf die irische Wiedervereinigung;

● im Gegenzug verpflichtete sich die britische Regierung, einen Anschluss Nordirlands an die Republik zu akzeptieren, falls sich die nordirische Bevölkerung in einem Referendum dafür entscheidet;

● die bewaffneten Verbände – die IRA auf der einen, die loyalistisch-protestantischen Paramilitärs auf der anderen Seite – erklärten sich bereit, die Waffen ruhen zu lassen und ihr Arsenal unbrauchbar zu machen;

● gleichzeitig wird eine Entlassung der Untergrundkämpfer beider Seiten aus der Haft in Aussicht gestellt (und später auch umgesetzt);

● die Behörden in Nordirland und der Republik sollten – so hiess es damals – grenzüberschreitend zusammenarbeiten;

● die NordirInnen sollten das Recht bekommen (was auch geschah), sowohl die irische wie die britische Staatsbürgerschaft zu erhalten.

Protestantisch-unionistische Skepsis

Endlich Friede! Nie wieder Krieg! Diese Stimmung hatte fast alle erfasst: In den folgenden Referenden stimmten die IrInnen im Süden mit 94 Prozent für die Änderung der Verfassung und das Karfreitagsabkommen, und die NordirInnen votierten ebenfalls dafür (71 Prozent Ja-Stimmen) – allerdings war die Zustimmung im Nordosten der irischen Insel eher durchwachsen: Während rund 94 Prozent derer, die sich dort als IrInnen verstehen (und zumeist katholisch geprägt sind), ein «Ja» in die Urne legten, konnten sich nur rund 57 Prozent der unionistisch-protestantischen Abstimmenden zu einer Akzeptanz durchringen. Damals stellten die UnionistInnen, die vielfach den Logen des Oranier-Ordens angehörten und sich als Teil einer protestantischen Volksgemeinschaft empfanden, noch die Mehrheit der nordirischen Bevölkerung.

Woher die eher widerstrebende Zustimmung? Es gibt offenkundige Gründe: Die mehrheitlich konservativen UnionistInnen haben den Krieg stets als Law-and-Order-Konflikt begriffen, bei dem eine legitime Staatsmacht (nämlich ihre) gegen «Kriminelle» und «Terroristen» vorging, die das System umstürzen wollten. Und ausgerechnet diese «Banditen» sollten nun freigelassen, also nachträglich belohnt werden. Ausserdem fürchteten sie, dass die britische Regierung ihrer überdrüssig geworden war und Nordirland los werden wollte.

Dazu kam, dass das Abkommen in den ärmeren irisch-nationalistischen Quartieren regelrecht gefeiert wurde. Wenn die sich so freuen, so fürchteten viele auf der anderen Seite des gesellschaftlichen Grabens, müssen wir verloren haben. Und sie hatten ja auch etwas eingebüsst – die Illusion nämlich, dass es einen Weg zurück zu alten Herrlichkeit geben könnte, die von der Teilung Irlands 1922 bis zur Übernahme der nordirischen Verwaltung durch London im Jahre 1972 gegeben war: Ein halbes Jahrhundert lang hatten die UnionistInnen Nordirland nach Belieben regieren können – mit Ausnahmegesetzen, mit offener Diskriminierung der katholischen Minderheit, mit Wahlkreismanipulationen. Nordirland war seinerzeit ein «protestant state for a protestant people» gewesen, wie es der erste nordirische Regionalpremier James Craig einst formuliert hatte: Ein protestantischer Staat für ein protestantisches Volk.

Dass sich viele irische NationalistInnen und RepublikanerInnen 1998 so sehr über das Karfreitagsabkommen freuten, lag wiederum an der Führung von Sinn Féin, damals der politische Flügel der IRA. Diese hatte den Vertrag als ersten grossen Schritt in Richtung der irischen Wiedervereinigung gepriesen – und gleichzeitig versichert, dass die IRA weiterhin bewaffnet bleiben und notfalls wieder aktiv werden würde. Was die UnionistInnen natürlich sofort als Beleg für ihre Skepsis nahmen. Und das ist die eigentliche Crux: Die beiderseits verschränkte Wahrnehmung jenseits der Fakten. Dass das Abkommen die Teilung (bis zu einem gegenteiligen Referendum) international absicherte und somit die Union zwischen Nordirland und Britannien stärkte, ignorierten die UnionistInnen ebenso wie die NationalistInnen. Statt den Sachverhalt zu analysieren, blickten sie nur auf die Reaktion der anderen – und interpretierten diese entsprechend. Die pro-britischen ProtestantInnen sahen sich als VerliererInnen, obwohl die gewonnen hatten. Und die irischen NationalistInnen wähnten sich auf der SiegerInnenseite, obwohl das Abkommen den nordirischen Staat – den die IRA hatte zerschlagen wollen – stärkte.

Keine Friedensdividende

Dass die Bevölkerungsminderheit im Deal einen Erfolg erkannte, lag jedoch nicht nur an der Sinn-Féin-PR. Endlich kamen ihre Gefangenen frei, die sie ja als FreiheitskämpferInnen betrachteten. In den ArbeiterInnenquartieren von Belfast und Derry war die IRA als Schutzmacht gegen die Übergriffe der britischen Armee und die Attacken der pro-britischen Todeskommandos verstanden worden – grossteils zu Recht. Die Freilassung der IRA-Freiwilligen (und der Inhaftierten der loyalistischen Verbände) war in der Tat eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass an der bewaffneten Front Ruhe einkehrte. Hier war London deutlich klüger als die spanische Regierung, die die baskischen Inhaftierten immer noch gefangen hält, obwohl ETA schon längst den Kampf eingestellt hat.

Dennoch blieben auf beiden Seiten viele Zweifel, die zum Teil auch damit zu tun haben, dass die viel versprochene Friedensdividende dort nie ankam, wo der Krieg geführt worden war – in den republikanischen und loyalistischen Armenvierteln. Für die protestantische ArbeiterInnenklasse ist das besonders bitter – hatte sie doch mit dem Niedergang der Werft-, Textil-, Tabak- und Flugzeugindustrie die alte Gewissheit verloren, dass sie gegenüber der irisch-nationalistischen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt im Vorteil ist, dass die traditionellen Fabrikanten, mit denen sie in denselben Oranier-Logen sassen, lieber ihre Arbeitskraft ausbeuten als die der anderen. Parallel zur Deindustrialisierung setzte die britische Regierung – auf Druck der internationalen Öffentlichkeit – effektive Antidiskriminierungsmassnahmen um, die von Konzernen und Investoren (beispielsweise aus den USA) auch befolgt wurden. «Das war ein Doppelschlag, von dem sich die protestantische Arbeiterklasse bis heute nicht erholt hat», sagt beispielsweise Jackie Redpath vom Sozialzentrum an der loyalistischen Shankill Road in Belfast. Für die Betroffenen selber seien diese Entwicklungen lediglich eine Folge des Kampfs der IRA.

Und so misstraut auch heute eine grosser Teil der unionistischen Bevölkerung dem Friedensprozess. Es dauerte fast zehn Jahre, bis sich die konservative DUP – inzwischen zur stärksten unionistischen Partei aufgestiegen – mit der ehemals linken Sinn Féin (mittlerweile ebenfalls stärkste pro-irische Kraft) zusammensetzte und eine Regionalregierung bildete, mit Paisley, dem radikalen Gründer der Free Presbyterian Church, und Guinness, einst IRA-Stabschef, an der Spitze. Wie brüchig die Koalition war, zeigte sich Anfang 2017, als sie auseinander brach. Seither hat Nordirland keine eigene Exekutive.

Schulische Segregation

Dass sich die Pole des politischen Spektrums treffen müssen, liegt an einer historisch begründeten Massgabe des Karfreitagsabkommens. Es schreibt eine Machtteilung vor. Die Konstrukteure des Abkommens wollten damit verhindern, dass eine Seite (konkret: die unionistische) die andere dominiert. Und so war festgelegt worden, dass erstens die Exekutive aus unionistischen und nationalistischen Parteien bestehen muss und zweitens neue Gesetze von jeweils mindestens vierzig Prozent der Abgeordneten der einen und der anderen Gemeinschaft verabschiedet werden müssen. Das führte freilich dazu, dass – abgesehen von der Verabschiedung des Haushalts – so gut wie kein Gesetzesvorschlag durchkam.

Das Problem dieser Regelung: Alle Parteien mussten sich für die eine oder andere Seite entscheiden, wenn sie Einfluss ausüben wollten. Das hat die politische Spaltung vielleicht nicht vertieft, aber auf jeden Fall verlängert. Ausserdem führte die Regelung dazu, dass – abgesehen von der Verabschiedung des Haushalts – so gut wie kein Gesetzesvorschlag durchkam. Grundlegende Reformen wie die des Bildungswesens waren chancenlos. Dabei wäre die Aufhebung der schulischen Segregation eine wichtige Voraussetzung dafür, dass aus der Waffenruhe ein dauerhafter Friede entstehen könnte. Noch heute besuchen fast neunzig Prozent der SchülerInnen entweder kirchlich-katholische oder staatlich-protestantische Einrichtungen. Oder anders formuliert: In den ArbeiterInnenbezirken haben Heranwachsende so gut wie keine Chance, Gleichaltrige von der anderen Community zu treffen. Also versammeln sich die Halbwüchsigen an lauen Sommerabenden an den sogenannten Inter-Faces zwischen den verschiedenen Wohngebieten, um sich zu verprügeln oder zumindest Flaschen über die Friedensmauern zu werfen, deren Zahl seit dem Abkommen noch angestiegen ist.

Wie fragil die Verhältnisse sind, demonstrierten etwa die lang anhaltende Flaggenproteste in den Jahren 2012 und 2013. Damals kam es nicht nur zu Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen, sondern zu den ersten grossen Strassenschlachten zwischen den Loyalisten und der Staatsgewalt, die früher auf derselben Seite gestanden hatten. Solche Spannungen erledigen oft ausgerechnet jene Projekte, die wirklich gemeinschaftsübergreifend angelegt. «The Other View» zum Beispiel war eine Zeitschrift, die von ehemaligen IRA-Mitgliedern und früheren Paramilitärs der loyalistischen Ulster Volunteer Force (UVF) herausgegeben wurde. Im Magazin setzten sich die republikanische AutorInnen mit den Sichtweisen von linken LoyalistInnen auseinander, die wiederum die Gegenseite kritisierten – es war ein produktiver Streit, der die Fallstricke des gemütlichen, aber belanglosen Miteinanders beim gemischten SeniorInnennachmittag vermied. Denn «danach gehen die Leute wieder in ihre Quartiere zurück», sagt Tommy McKearney, der schon viele Initiativen angestossen hat – «und alles ist wie vorher».

Doch dann kündigten die UVF-Leute die Zusammenarbeit auf: Sie seien von den eigenen Leuten unter Druck gesetzt worden. Sophie Long wiederum, eine engagierte loyalistische Frauenrechtlerin und Sozialistin mit guten Kontakten zur republikanischen Workers Party wurde gleich aus der UVF geschmissen, als sie nach McGuinness' Tod twitterte: «Farewell, Comrade» («Lebwohl, Genosse»). Das Eis ist also noch ausgesprochen dünn – selbst für jene linke nordirischen RepublikanerInnen und LoyalistInnen, die sich in ihrer Opposition zur neoliberalen Politik eigentlich einig sind.

Aber vielleicht kommt ja jetzt wieder Bewegung in den allseits akzeptierten Stillstand. Die Folgen des Brexit-Referendums für Nordirland sind noch nicht abzusehen. Tatsache aber ist, dass der Abschied von der EU, die mit rund einer Milliarde Euro zahllose Friedensprojekte unterstützt hatte, festgefahrene Auffassungen und die nordirischen Verhältnisse – inklusive die Beziehungen zwischen den beiden Gemeinschaften – gehörig durcheinander wirbeln wird. Die Frage ist: zum Guten oder zum Schlechten? (pw)