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Buchkritik: «Belfaster Auferstehung»

147 Messerstiche

24. November 1996 | Ein neues Buch des irischen Schriftstellers Eoin McNamee ist so nah an der Realität gestrickt, dass es fast schon schmerzt. Und das ist gut so.


Cover des Buchs «Nord-Irland»Im richtigen Leben hiess der Anführer der «Schlächter von der Shankill Road» Hugh Leonard Thompson Murphy, nicht Victor Kelly. Und anders als Victor Kelly, den der Autor Eoin McNamee von einem britischen Geheimkommando erschiessen lässt, wurde der wirkliche Murphy sehr wahrscheinlich von der IRA getötet. Aber das sind auch schon die wesentlichsten Unterschiede. Den Rest der Geschichte teilen sich Wirklichkeit und McNamees Roman «Belfaster Auferstehung» in schöner Übereinstimmung und bis in viele Details hinein. Ein «Faction»-Buch also, und ganz sicher keins der schlechteren.

Überall zogen sie ihn auf, den späteren Massenmörder Lennie Murphy – in der Schule, in der Nachbarschaft, in den Pubs. Auch die ebenfalls protestantischen Polizisten machten sich irgendwann lustig über Lennie: Deine Mutter hat einen «Katholen» gebumst. Oder gibt es einen katholischeren Namen als Murphy (ausser Kelly vielleicht)? Der Vater – warum war er nie mit Bekannten zu sehen, warum verliess er so selten das Haus? Für die Nachbarn war die Sache einfach, das Resultat ihres Verdachts verheerend. Schon als Halbstarker trieb den 1952 geborenen (und rein protestantischen) Lennie Murphy der Hass um: Die KatholikInnen seien «Abschaum», seien «Tiere». Das sagte er bei jeder Gelegenheit.

Seine Sprüche kamen gut an in den protestantischen Armenvierteln, und nicht nur dort. Seit die (katholische) Minderheit gleiche Rechte beansprucht, fürchtet die nordirische Bevölkerungsmehrheit um ihr Geburtsrecht. Die meisten Protestanten fürchten immer noch, dass alle Katholiken über sie hinweg trampeln und die Macht ergreifen, wenn man sie nur lässt.

Schon den Gedanken daran konnte Lennie Murphy nicht ertragen. Anfang der 70er Jahre trat er der loyalistisch-paramilitärischen Ulster Volunteer Force (UVF) bei und gründete, weil ihm die Todeskommandos der UVF zu betulich erschienen, seine eigene Gang. Diese spezialisierte sich darauf, Menschen einzusammeln, die ihr katholisch vorkamen, sie in Garagen oder Pubs zu verschleppen, dort öffentlich oder privat halb totzuschlagen und anschliessend langsam zu zerstückeln mit langsam und chirurgisch exakt applizierten Messerstichen. Im Fall des 48-jährigen Fabrikarbeiters Thomas Madden zählte der Leichenbeschauer 147 Einstiche, keiner davon tödlich: Madden wurde anschliessend langsam stranguliert. Insgesamt haben Murphy und seine Gang mindestens 19 Menschen gefoltert und getötet.

Für die UVF, die ihm 1982 ein paramilitärisches Begräbnis mit allen Ehrbezeugungen ausrichtete, war Murphys Handlungen weitgehend in Ordnung. Es ist seit jeher Strategie der loyalistischen Paramilitärs, harmlose Katholiken abzuknallen, um die IRA unter Druck zu setzen. Was die UVF aber störte, war Murphys besonders brutales Vorgehen, das in der eigenen Community Abscheu hervorrief, und seine vom Hass geleitete Disziplinlosigkeit, die die UVF-Führung nicht dulden konnte. Als Murphy nach einer kurzen Haftstrafe die Organisation erneut in Verruf brachte, weil er wieder einen Katholiken folterte und tötete, führten mutmasslich UVF-Informationen eine IRA-Einheit auf seine Spur.

McNamee hat Murphys Leben und Welt präzise aufgezeichnet und dabei – und das ist wohl seine grösste Leistung – auf den moralischen Zeigefinger verzichtet. Er beschreibt die loyalistische Welt zwischen Sozialwohnung, Fürsorgeamt und Pub auf eine Weise, die Figuren wie Murphy/Kelly oder Billy Wright begreifen lässt. Die derzeitige Auseinander um Wright, den umstrittenen und von der UVF verstossenen «König Ratte», macht «Belfaster Auferstehung» zu einem höchst aktuellen Buch. Denn in Wahrheit geben solche Leute im Verbund mit Politikern wie Ian Paisley in Nordirland den Ton an, und nicht die IRA. (pw)