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Nordirland: Die Verhandlungen stehen auf der Kippe

Das letzte Spiel?

2. September 2004 | Zehn Jahre nach dem Waffenstillstand machen die irischen RepublikanerInnen ihrem alten Widersacher Paisley ein besonderes Geschenk – sie diskutieren über die Auflösung der IRA.

Nun verhandeln sie also doch, die alten KämpferInnen der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) und die Jünger des militanten protestantischen Predigers Ian Paisley.

Genau zehn Jahre, nachdem die IRA ihre erste Waffenruhe ausgerufen hat, rücken die VertreterInnen der beiden wichtigsten nordirischen Parteien – der probritischen Democratic Unionist Party (DUP) und der irisch-katholischen IRA-Partei Sinn Féin (SF) – aufeinander zu. Man muss das so umständlich formulieren, denn die Delegierten treffen sich nicht, sie sitzen nicht im selben Raum und schon gar nicht am selben Tisch – denn Vis-à-vis-Verhandlungen mit den «Terroristen» lehnen Paisleys rechtschaffene Vertreter des «auserwählten Volks Gottes» weiterhin ab.

Aber sie befinden sich immerhin zur selben Zeit in denselben Gebäuden – diese Woche im Schloss Stormont am Rande von Belfast und Mitte September im Leeds Castle in der englischen Grafschaft Kent. Die Laufarbeit übernehmen andere. In Stormont werden der irische Aussenminister Brian Cowen und der britische Nordirlandminister Paul Murphy als Emmisäre über die Korridore wetzen, in Kent übernehmen dann die beiden Premierminister Bertie Ahern und Tony Blair das Kommando. Vor allem Blair hofft, bis Ende Jahr wieder Bewegung in den nordirischen Friedensprozess gebracht zu haben (vgl. Randtext).

Laut dem 1998 unterzeichneten Karfreitagsabkommen müssen sich die beiden wichtigsten Parteien im gespaltenen Nordirland gemeinsam auf eine Regionalregierung einigen und die anderen grossen Parteien in die Exekutive einbeziehen. Das war bisher schon schwierig genug, aber immer wieder möglich gewesen, da auf britisch-protestantischer Seite die eher gemässigte Ulster Unionist Party (UUP) und auf irisch-katholischer Seite die sozialdemokratische SDLP den Ton angaben.

Der Druck, unter dem alle stehen

Seit der Neuwahl des nordirischen Parlaments im November 2003 herrscht allerdings Funkstille: Die DUP gewann die Wahl, weil sie all jenen ProtestantInnen aus dem Herzen spricht, die Konzessionen an die katholische Bevölkerungsminderheit ablehnen. Und die IRA-Partei Sinn Féin überflügelte die SDLP, weil sie die Interessen der KatholikInnen besser zu vertreten schien.

Dass die Parteien nun verhandeln, hat mit dem Druck zu tun, unter dem sie stehen:

● Zwei Jahre lang hat die britische Regierung die Situation in Nordirland ignoriert. Tony Blair war vollauf mit dem Irak beschäftigt, mit der Kriegsvorbereitung, seiner Rechtfertigung und den vielen Vertuschungsmanövern danach. In spätestens einem Jahr wird es jedoch zur nächsten Unterhauswahl kommen – und da braucht Blair zumindest an einer Front vorzeigbare Ergebnisse. Mit einer neuen Vereinbarung könnte der angeschlagene Kriegspremier den Friedensengel geben. Wenn die von ihm jetzt angeordnete Verhandlungsrunde keinen Erfolg bringe, so drohte er vor ein paar Wochen, werde Nordirland in den nächsten Jahrzehnten von London aus regiert.

● Gegen eine britische Direktverwaltung hätte die DUP im Prinzip nichts einzuwenden, stärkt sie doch die erwünschte Union mit Britannien. Allerdings haben wesentliche Teile der DUP (wie auch von Sinn Féin) Gefallen an der Macht gefunden, die ihre bisherigen Minister immer wieder haben ausüben können. In der DUP bröckelt zudem die Front der NeinsagerInnen, die keinen Zentimeter preisgeben wollen. Dem pragmatischen Flügel kommt dabei zupass, dass der 78-jährige Parteigründer Ian Paisley schwer krank ist und die Verhandlungen auf Anraten seiner Ärzte nicht führen wird.

Das gibt seinem Stellvertreter Peter Robinson, der nicht der klerikalen Fraktion angehört, etwas Spielraum. Vor allem aber treibt die DUP-Führung eine Sorge um: Was wird, wenn die Briten – wie schon geschehen – mit Sinn Féin und IRA ein Geheimabkommen schliessen und die ProtestantInnen vor vollendete Tatsachen stellen? London hat die Drohkulisse bereits aufgebaut: Wenn die DUP stur bleibt, könnte die bei den nordirischen UnionistInnen besonders verhasste Dubliner Regierung an einer Direktverwaltung beteiligt werden. Allein schon der Gedanke daran lässt jeden Protestanten frösteln.

● Die Sinn-Féin-Führung plagen andere Sorgen. Da ist zum einen das Versprechen, das sie ihrer Basis vor zehn Jahren gab: Eine Einstellung des bewaffneten Kampfes bringe politischen Zugewinn und eine Beteiligung an der Macht, die man nutzen werde, um dem Ziel der irischen Wiedervereinigung näher zu kommen. Da derzeit aber nicht einmal das Regionalparlament zusammentreten kann, fehlt dieser Hebel - und mit ihm fehlen auch Jobs für die vielen jungen, aufstrebenden Parteimitglieder aus der katholischen Mittelschicht. Dazu kommt, dass SF auch in der Republik Irland zum grossen Sprung ansetzen will. Nicht erst seit der Europawahl im Juni (bei der sie auch im Süden ein Mandat gewinnen konnte), halten viele eine Regierungsbeteiligung von SF für möglich.

Neoliberal und flexibel

Dass die Partei, die einst für ein «vereinigtes sozialistisches Irland» angetreten war, in diesem Fall als Juniorpartnerin von Fianna Fáil deren erzkonservative Politik mitvertreten müsste, stört die Führung um die IRA-Strategen Gerry Adams und Martin McGuinness wenig. Hatten nicht McGuinness als Erziehungsminister und Bairbre de Brùn als SF-Gesundheitsministerin im vergangenen Nordirland -Kabinett problemlos Vorgaben aus London erfüllt und etwa die Teilprivatisierung des nordirischen Bildungssystems durchgesetzt? De Brùn zum Beispiel schloss Spitäler in einem Tempo, das protestantische PolitikerInnen nie gewagt und nie für möglich gehalten hätten.

Voraussetzung für eine Regierungsbeteiligung in Dublin ist jedoch die Selbstauflösung der IRA. Die ehemalige Guerilla hat zwar mehrfach erklärt, dass der bewaffnete Kampf vorbei sei, und einen grossen Teil ihres Waffenarsenals vernichtet, aber dies genügt weder den Briten noch der DUP. Und – so denken die StrategInnen im SF-Vorstand – auch nicht den WählerInnen im Süden. «Die Unionisten benutzen die IRA als Ausrede», sagte daher SF-Präsident Gerry Adams vor vier Wochen, «daher müssen die Republikaner bereit sein, diese Ausrede zu beseitigen.»

Vieldeutige Abkürzung

Seine Bemerkung schlug unter den RepublikanerInnen ein wie eine Bombe. Hatten sie nicht so vieles schon hingenommen? Sie wollten die Briten aus Nordirland vertreiben – und mussten mit dem Karfreitagsabkommen von 1998 akzeptieren, dass diese so lange bleiben dürfen, bis eine Mehrheit in Nordirland für einen Anschluss an die Republik votiert. Sie wollten den nordirisch-protestantischen Staat abschaffen – und mussten erleben, dass ihre Führer diesen Staat neu aufbauen. Sie hatten den klerikal-konservativen Süden abgelehnt – und mussten erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass Adams und McGuinness (langjährige Mitglieder des IRA-Armeerats) mit Dublin gemeinsame Sache machen. Und nun sollen sie auch noch das Einzige preisgeben, das ihnen geblieben war – die Armee, die sie vor möglichen Übergriffen der protestantischen Unionisten schützen könnte?

Vor allem in South Armagh, wo die IRA den britischen Truppen lange Zeit Paroli bieten konnte, war die Unruhe so gross, dass die Parteispitze eine hochkarätig besetzte Delegation dorthin beorderte, um den neuesten taktischen Schwenk zu erläutern. So wie sie das schon früher getan hatte. Auch vor dem Waffenstillstand 1994 hatte die Führung die Basis bearbeiten müssen – und zu mancherlei Trick gegriffen. Die Geheimverhandlungen und die Waffenruhe seien Teil des TUAS-Konzepts. TUAS stehe für «tactical use of armed struggle», erläuterte sie den Mitgliedern, also taktischer Einsatz des bewaffneten Kampfes, der jederzeit wieder aufgenommen werde, sollte der politische Vorstoss scheitern. London, Dublin und der damaligen US-Regierung gegenüber interpretierte sie das Kürzel als «totally unarmed strategy»: gänzlich unbewaffnete Strategie. Und das meinten sie ernst.

Whiskey, Benzin und Spitzel

Nicht alle sind der Meinung, dass es die IRA noch braucht. «Sie ist längst überflüssig geworden», sagt beispielsweise Tommy McKearney, der lange Zeit den Rebellen angehörte und dafür sechzehn Jahre lang im Gefängnis sass. «Seit ein paar Jahren beschäftigt sie sich ohnehin nur noch mit dem Schmuggel von Zigaretten, Whiskey und Benzin, denn der Apparat braucht Geld.» Als er aktiv war, hätten die Freiwilligen acht Pfund in der Woche bekommen, ein Taschengeld, erinnert sich McKearney. «Später erhöhte die Führung den Sold auf den Durchschnittslohn, jetzt erhalten die rund vierhundert verbliebenen IRA-Mitglieder einen Facharbeiterlohn, etwa 400 Pfund pro Woche.» Auch so kann man Abhängigkeit schaffen. «Da die IRA keine Banken mehr überfällt, muss sie das Geld anderswie besorgen.» Die Behörden wissen das, drücken aber beide Augen zu.

Überhaupt sehen die Parteien über so manches hinweg. So haben die Briten in South Armagh, dem «Banditenland», entgegen früheren Zusagen die meisten Militäreinrichtungen inklusive der Beobachtungstürme stehen lassen. In Crossmaglen muss man beispielsweise nicht lange warten, bis der nächste Militärhelikopter angeknattert kommt mit Soldaten in der geöffneten Tür, das Gewehr im Anschlag. Auch die versprochene Reform der Polizei und der Justiz ist bis auf eine Namensänderung nicht vorangekommen. Auf 5000 Armee- und Polizeiangehörige wollte Britannien einst seine Militärpräsenz zusammenkürzen, heute sind immer noch 15.000 da (weit mehr als im Irak). Dass die loyalistischen Paramilitärs, die seit Anfang der neunziger Jahre weitaus mehr Menschen getötet haben als die IRA, immer noch keinen Waffenstillstand erklärten, scheint niemanden zu kümmern.

Und dass die Auseinandersetzungen zwischen den Communities weiterhin anhalten und Minderheiten immer noch vertrieben werden (ProtestantInnen aus dem katholischen Nordbelfast, KatholikInnen aus den protestantischen Dörfern in der Grafschaft Derry) interessiert bestenfalls die lokalen Medien.

Dafür wollen immer mehr RepublikanerInnen wissen, wie eng ihre Führung mit den Briten zusammengearbeitet hat und wer eigentlich welche Befehle erteilte. So hat erst letzte Woche die Schwester von Patrick Kelly von Polizeichef Hugh Orde Aufklärung über den Tod ihres Bruders verlangt. Kelly war 1987 mit sieben anderen IRA-Mitgliedern erschossen worden, als er die Polizeiwache von Loughgall überfallen wollte.

Statt die Angreifer festzunehmen (was möglich gewesen wäre), mähten Polizisten und eine Eliteeinheit der Armee die acht Republikaner nieder. Vieles deutet darauf hin, dass ein Informant in der IRA-Führung die Aktion verpfiffen hatte; auch in den folgenden Jahren endeten alle Aktionen der Brigade von Tyrone mit dem Tod der Freiwilligen. In der Grafschaft Tyrone waren die örtlichen IRA-Kommandanten dem Kurs der Partei- und Armeeführung um Gerry Adams besonders skeptisch gegenübergestanden. Wurden sie deshalb gezielt ausgeschaltet?

Wer traut da wem?

Mittlerweile ist ein hochrangiger Spitzel aufgeflogen. Aber war Freddie Scappaticci, lange Zeit stellvertretender Sicherheitschef der IRA, der Einzige? Zweifel sind angebracht. «Scappaticci stand schon länger unter Verdacht und kam die letzten Jahre nicht mehr an wichtige Informationen heran», sagt ein ehemaliges IRA-Mitglied in Tyrone. «Dennoch wissen die Briten immer noch sehr gut Bescheid. Sie müssen ganz oben einen sitzen haben.»

Tatsache ist jedenfalls, dass es den britischen Diensten in letzter Zeit immer wieder gelungen ist, Sinn Féin und IRA in Verlegenheit zu bringen. Besonders spektakulär war im Oktober 2002 die Enttarnung von IRA-Informanten in den nordirischen Regierungsbehörden – kurz danach brach die Regierung zusammen, weil die UnionistInnen nicht mehr mit SF zusammenarbeiten wollten. Adams und McGuinness haben jedenfalls die Lektion gelernt.

Die Verhandlungen werden sich lange hinziehen. Tony Blair braucht ein Ergebnis vor der Wahl, die DUP hingegen wird sich ohne Auflösung der IRA kaum als verantwortliche Regierungspartei den WählerInnen stellen wollen. Wann sich die IRA auflöst, ist derzeit noch unklar. Aber sie wird in den kommenden Monaten einen weiteren wesentlichen Abrüstungsschritt vollziehen. Ein Zuckerbrot hat der DUP-Verhandlungsführer Peter Robinson der republikanischen Führung bereits hingehalten: Er halte es für durchaus möglich, sagte er vor einer Woche, dass Sinn Féin in einer künftigen Regierung das Polizei- und Justizressort zugesprochen bekommt. Dann können sich die Republikaner wenigstens selber bespitzeln. (pw)