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Nordirland: Bernadette Devlin-McAliskey
Eine Kritikerin nach allen Seiten
15. Mai 2003 | Seit der Aufregung um Londons Top-Spion am vergangenen Wochenende ahnt alle Welt, dass die britische Regierung auch in der IRA die Befehle gab. Eine wusste es schon früher.
Der Hieb war schlecht platziert, aber er machte Geschichte. «Junge Abgeordnete verprügelt Minister im Parlament», kreischten die britischen Medien hinterher, dabei war Innenminister Reginald Maudling nicht einmal zu Boden gegangen. Aber beeindruckend muss der Vorgang schon gewesen sein. Jedenfalls können sich ältere Berichterstatter noch gut daran erinnern, wie die empörte Abgeordnete Bernadette Devlin auf Maudling zuging und ihm eine schmierte. Devlin hatte gute Gründe für ihren Schlag – und auch viel gelernt danach. «Die britische Öffentlichkeit hat sich mehr über die Ohrfeige empört als über den Mord an vierzehn Menschen», sagte sie später; dadurch sei ihr erst richtig bewusst geworden, wo «die Engländer» die irische Bevölkerung einordnen – nämlich ganz weit unten.
Ein paar Tage vor ihrem denkwürdigen Auftritt im Unterhaus hatte die couragierte Abgeordnete selber in Deckung gehen müssen. Das war am 30. Januar 1972. An diesem Tag demonstrierten zehntausende in Nordirlands zweitgrösster Stadt Derry gegen die Internierungspolitik der britischen Regierung. Seit Monaten hatten britische Truppen im Verbund mit der protestantischen Regionalregierung die irisch-katholische Bevölkerung terrorisiert: Hunderte wurden nachts aus den Betten geholt, in Lager gesperrt, schikaniert und gefoltert – ohne Gerichtsverhandlung, ohne Haftprüfungstermin, ohne die Möglichkeit, einen Anwalt anzurufen.
Angehörige wussten oft wochenlang nicht, wo die Verschleppten geblieben waren. Die Empörung war gross, und so kamen auch viele zusammen, als die nordirische Bürgerrechtsbewegung zum Protestmarsch in Derry aufrief. Bernadette Devlin – wie sie damals, vor ihrer Heirat, noch hiess – war eine der HauptrednerInnen der Kundgebung in Derry. Sie hatte gerade das Mikrofon ergriffen, als Schüsse über den Platz peitschten. «Ich dachte erst, da feuert jemand in die Luft», erinnerte sie sich später. «Aber alle rannten fort.» Vorsichtshalber legte sie sich auf die Lkw-Ladefläche, die als Redebühne gedacht war. «Als ich wieder hochschaute, habe ich mich gewundert: Warum liegen da Leute auf der Strasse, warum rennen die nicht weg?» Es dauerte eine Weile, bis sie und alle anderen begriffen, dass ein britisches Fallschirmjäger-Regiment gezielt in die friedlich demonstrierende Menge geschossen hatte, um den widerspenstigen KatholikInnen eine Lektion zu erteilen. Vierzehn Menschen blieben auf der Strecke.
In der darauf folgenden Unterhausdebatte über den Vorfall liess der Parlamentspräsident die einzige anwesende Augenzeugin des Massakers vom «Bloody Sunday» – die Abgeordnete Devlin – nicht zu Wort kommen. Der verantwortliche Innenminister Maudling aber durfte langschweifig über eine Attacke der IRA referieren, gegen die sich die tapferen britischen Soldaten nur gewehrt hätten (eine glatte Lüge, wie inzwischen feststeht). Also bekam er eine verpasst.
Die nordirische Jeanne d'Arc
Für diese Tat wird sie heute noch in den irisch-katholischen Vierteln Nordirlands in Ehren gehalten. An Mut hat es der Frau, die schon in jungen Jahren zur Ikone des Protests gegen ein ungerechtes Regime wurde, nie gefehlt. Sie gehörte zu den Ersten, die in den sechziger Jahren gegen die Benachteiligung der irisch-katholischen Minderheit im nordirischen Einparteienstaat demonstrierten, der den Armen das Kommunalwahlrecht verweigerte, ein Ausnahmegesetz nach dem anderen erliess, ProtestantInnen bei der Vergabe von Jobs und Sozialwohnungen bevorzugte. Der erste Bürgerrechtsmarsch 1968 (er begann in Coalisland, wo sie immer noch wohnt) wurde von der rein protestantischen Polizei und probritischen Loyalisten ebenso attackiert wie der legendäre Protestzug von Belfast nach Derry (1969).
Kurz danach wurde die gerade 21 Jahre alte Devlin (sie hatte die linke Organisation People's Democracy mitbegründet) als Vertreterin des Wahlkreises Mid-Ulster ins Londoner Unterhaus gewählt. Als im August 1969 erneut die protestantische Polizei, Nordirlands RUC, einen Bürgerrechtsmarsch überfiel, stand sie mitten im Schlachtgetümmel der «Battle of Bogside» (Derry). Die RUC zog sich zurück, das «Freie Derry» war geboren, London schickte Truppen. Devlin habe den Widerstand koordiniert, wurde später in einem Prozess behauptet, der ihr – der Abgeordneten – ein halbes Jahr Gefängnis eintrug. Für die einen war sie danach eine «irische Jeanne d'Arc», die anderen hielten sie für einen «Castro im Minirock».
«Uns ging es damals um Bürgerrechte für die katholische Bevölkerung, aber wir kämpften auch für die Rechte der Armen, inklusive die der protestantischen Arbeiterklasse», sagte sie später in einem ihrer vielen Interviews mit der WoZ. «Doch die britische Reaktion auf unsere Forderungen und die bewaffnete Gegenwehr hat vieles verändert.» Die demokratische Bewegung verlor an Spielraum, die Forderung nach Gleichheit büsste ihre Brisanz ein, anstelle offener Debatten trat die Geheimniskrämerei - ein Merkmal aller militärischer Konflikte. «Dies alles hat bewirkt, dass wir den Kampf nicht mehr führten, sondern von ihm geführt wurden.»
Ab 1969 und vor allem ab dem Blutsonntag 1972 galt nur noch das enge Denken von «uns» und den «anderen». Diskussionen über die richtige Strategie waren genauso wenig möglich wie etwa eine Erörterung der Rolle der Frau in der nordirischen Gesellschaft oder der unterschiedlichen Vorstellungen «von revolutionären Frauen und bürgerlichen Frauen». Auch die soziale Frage sei in den Hintergrund getreten. «Wer sich vor allem in Kategorien der nationalen Identität und der ethnischen Zugehörigkeit bewegt, will von Klasse nichts mehr wissen. Du kannst nicht den katholischen Kapitalisten um Geld für die nächste Waffenlieferung anhauen und dann sagen: ‹Ach ja, was ich schon lange mal loswerden wollte: Ich finde es Scheisse, dass du deine Arbeiter ausbeutest.›»
Dass all diese Fragen in den folgenden Jahrzehnten nie wieder aufs Tapet kommen konnten, ist ihrer Meinung nach der Hauptgrund für die Niederlage einer Bewegung, die einst die Gesellschaft verändern wollte.
Sieben Kugeln
1973 heiratete sie den Lehrer Michael McAliskey, 1974 verlor sie ihren Sitz im Unterhaus, weil die Bürgerrechtsbewegung zerfallen war und die gemässigt-katholischen Sozialdemokraten gegen sie kandidierten (es gewann ein konservativer Protestant). Es wurde ruhig um sie. Bernadette McAliskey gebar drei Kinder - und war mit all ihrer Eloquenz, ihrer Wut und ihrer Energie wieder da, als in den britischen Gefängnissen irisch-republikanische Häftlinge gegen die Aberkennung ihres politischen Status kämpften.
Schon vor dem ersten Hungerstreik der republikanischen Gefangenen 1980 war sie als Sprecherin des nationalen Solidaritätskomitees, dem Kern einer breiten politischen Bewegung, ständig unterwegs. Drei führende Mitglieder dieses Komitees wurden erschossen – auf Geheiss der britischen Sicherheitskräfte, wie sich später herausstellte. Am 16. Januar 1981 tauchten protestantische Killer auch bei ihr auf – sie überlebte den Mordanschlag nur mit viel Glück (Näheres steht in meinem Buch «Die Trommeln von Drumcree»).
Sieben Kugeln hatten sie getroffen (und vier ihren Mann), und doch war sie kurz danach wieder auf den Beinen – um die IRA-nahe Partei Sinn Féin zu einer politischen Strategie zu bewegen. Die Sinn-Féin-Führung um Gerry Adams lehnte anfangs ab, liess es dann aber doch zu, dass Bobby Sands, Führer des zweiten Hungerstreiks 1981, für eine Nachwahl kandidierte – und diese gewann. Das war eine gewaltige Niederlage für den britischen Staat, dessen Aufstandsbekämpfer Bernadette McAliskey nicht zufällig auf ihre Zielliste hatten setzen lassen.
McAliskey war gefährlich, weil sie stets dazu aufrief, den militärischen Kreislauf von Schlag und Gegenschlag zu durchbrechen. Denn militärisch hatten die Briten alles im Griff – und zwar weit mehr, als die IRA bis zum letzten Wochenende wahrhaben wollte (siehe Kasten). Was sie fürchteten, waren politische Bewegungen wie die der BürgerrechtlerInnen Ende der sechziger Jahre, gegen die ihnen nicht mehr einfiel als nackte Gewalt, die im damaligen politischen Umfeld jedoch nur neue Gewalt erzeugte, welche sich jahrzehntelang nicht kontrollieren liess.
Eine Tochter als Geisel
Sie plädiert für die Beteiligung an Wahlen, ohne an den Parlamentarismus zu glauben; sie streitet gegen die Militaristen, ohne Pazifistin zu sein (im nordirischen Kontext hat sie das Recht auf bewaffneten Widerstand stets verteidigt) – und sie wirft Fragen auf, die keine Seite beantworten will. So hat sie beispielsweise den ab Anfang der neunziger Jahre erkennbaren Kurs der Sinn-Féin-Führung in Richtung einer britischen Lösung des Konflikts scharf kritisiert. Wer gibt den Tenor vor? Was bringt die Integrationsstrategie von Adams den völlig verarmten Menschen? Warum wurden Ende der achtziger Jahre so viele Kritiker des Sinn-Féin-Kurses von britischen Einheiten oder von probritischen Killerkommandos erschossen? Wer gab da Tipps?
Sie war nicht die einzige Linke, die den Friedensprozess kritisierte, der im Karfreitagsabkommen mündete (es schrieb die britische Herrschaft über Nordirland auf Dauer fest). Aber sie war die Prominenteste. Und so war es wohl auch kein Zufall, dass mitten in der Debatte über das Friedensabkommen ihre Tochter Róisín 1996 verhaftet und unter dem Vorwurf festgehalten wurde, an einem Anschlag in Deutschland beteiligt gewesen zu sein. Es gab zwar jede Menge EntlastungszeugInnen, dennoch wurde Róisín nach England gebracht, trotz Krankheit und Schwangerschaft in Einzelhaft gesperrt und misshandelt. Erst im März 1998 kam Róisín McAliskey – die im Mai 1997 unter erschwerten Haftbedingungen eine Tochter zur Welt bringen musste – dank einer internationalen Solidaritätskampagne wieder frei. Die Angst um Róisín und die vielen langen und teuren Reisen von Coalisland ins Londoner Frauengefängnis absorbierten Bernadette McAliskey – da blieb nicht mehr viel Raum für Kritik an den politischen Entwicklungen.
Eine Entschuldigung vonseiten der zuständigen Behörden hat es nie gegeben, eine Gutmachung schon gar nicht. Mittlerweile hat sie, die über zwanzig Jahre hinweg auf allen schwarzen Listen stand und nie eine Beschäftigung fand, immerhin einen Job – als Leiterin des EU-finanzierten South Tyrone Empowerment Programms (Step), das vor allem arbeitslosen Frauen zu einem Job und zur Wiedergewinnung ihrer Würde verhelfen soll. «Sicher, generell gesehen ist Step Teil der Pazifizierungsstrategie», sagt Bernadette McAliskey, «aber unsere Arbeit nützt den Menschen mehr als alle Sprüche von einem Frieden, der keiner ist.» (pw)