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Offensive oder Rückzug

Ein 1. Mai in stürmischen Zeiten

27. April 2023 | Noch könnte der Arbeitskampf im öffentlichen Dienst weitergehen. Denn über das Schlichtungsergebnis entscheiden die ver.di-Mitglieder nächste Woche. Sollten sie die angebotene Reallohnkürzung ablehnen, folgen weitere Streiks. Doch es gibt noch viel mehr Gründe, am 1. Mai auf die Straßen und Plätze zu gehen.

Pressekonferenz im Konstanzer DGB-Haus. Ob es nach der beachtlichen Empfehlung der Schlichter im öffentlichen Dienst überhaupt noch einen kämpferischen 1. Mai brauche, will eine Journalistin wissen. «Aber natürlich», antwortet Ursel Hanser, Ortsvereinsvorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Das Angebot sei «annehmbar, aber es ist halt auch ein Kompromiss». So richtig enthusiastisch klingt sie nicht.

Auch Gabriele Wülfers, Konstanzer ver.di-Sekretärin, hält sich in der Beurteilung eher zurück. Man könne nicht rundum zufrieden sein, sagt sie. Und ja, unter dem Strich laufe die vorläufige Vereinbarung auf eine tarifliche Reallohnkürzung hinaus. Aber noch hätten die Mitglieder nicht zugestimmt.

In der Tat: Kommende Woche wird die Gewerkschaft ihre Basis befragen, ob diese mit dem Ergebnis einverstanden ist. Es sieht eine steuer- und abgabenfreie Inflationsausgleichszahlung von 3000 Euro vor, die ab Juni beginnt. Die Löhne steigen jedoch erst ab März 2024 um einen Sockelbeitrag von 200 Euro im Monat plus 5,5 Prozent; Azubis und Praktikant:innen erhalten entsprechend weniger (Details siehe hier). Die Crux dabei: Bereits im letzten Jahr sanken die Reallöhne im Schnitt um vier Prozent. Und niemand weiß, wie viel die Preissteigerung von der bescheidenen Erhöhung noch wegfressen wird – denn der Tarifvertrag läuft bis Ende 2024. Wenn man vom einmaligen Inflationsausgleich absieht, ist von der ursprünglichen Forderung (10,5 Prozent, mindestens aber 500 Euro) nicht mal die Hälfte geblieben.

Folgt also die große Enttäuschung? Immerhin hat ver.di in der Konfliktphase viele neue Mitglieder gewonnen. «In den Betrieben war die Stimmung gut», sagt Wülfers, «es gab eine große Unterstützung für die Streiks». Und diese Kampfbereitschaft wolle man nun am 1. Mai, dem traditionellen Kampftag der Arbeiter:innenklasse, zum Ausdruck bringen.

Aber überfordert das von der ver.di-Spitze bereits abgesegnete Ergebnis nicht die Kommunen, will eine andere Journalistin wissen. «Die Kommunen wußten, was auf sie zukommt», sagt Hanser, «und hätten sich entsprechend vorbereiten können». Was aber offenbar nicht alle taten: In der Region hätten manche Gemeindeverwaltungen die Lohnrunde völlig ignoriert und nur eine mögliche Lohnerhöhung von zwei Prozent in ihre Budgets eingepreist. «In Singen hingegen ging die Verwaltung bei der Haushaltsplanung von sieben Prozent aus.» Und überhaupt: Man müsse halt mal jene höher besteuern, «die sich das leisten können», ergänzt Hans-Peter Menger vom DGB Tuttlingen. «Wir Gewerkschaften müssen wieder stärker im politischen Raum agieren.»

Bahn, Karstadt, CineStar

Wie es im Tarifkonflikt des öffentlichen Diensts bei Bund und Kommunen weitergeht, ist also offen. Aber es gibt ja auch noch andere Kämpfe. So scheiterte bei der Bahn am Mittwoch die dritte Verhandlungsrunde. Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG lehnt das Angebot des staatseigenen Unternehmens rundweg ab, das sich am Schlichterspruch des öffentlichen Diensts orientierte. Sie fordert weiterhin 12 Prozent mehr Lohn, mindestens aber 650 Euro mehr im Monat – und besteht auf einer deutlichen kürzreren Vertragslaufzeit. Und das ist gut so – auch wenn es (wie vor einer Woche) zu weiteren bundesweiten Arbeitsniederlegungen kommt.

Auch in der Region stehen Auseinandersetzungen an, wie die Gewerkschafter:innen auf der Pressekonferenz berichten: Bei den Schmiederkliniken und im Herzzentrum stünden demnächst Verhandlungen an. Und bei Galeria Karstadt laufe vieles in die falsche Richtung. Zwar sei der Erhalt der beiden Häuser in Konstanz und Singen vorläufig gesichert, aber es drohe weiterer Personalabbau. Zudem verlange der Konzern – seit langem mehr ein Immobilien- als ein Handelsunternehmen – von seinen ohnehin schon gebeutelten Arbeitskräften weitere Lohneinbußen.

Und dann ist da noch der längst nicht ausgestandene Tarifkonflikt bei CineStar Konstanz, wo sich die Beschäftigten auch küntig nicht mit einem Entgelt abspeisen lassen wollen, das nur um ein paar Cent über dem Mindestlohn liegt.

Ein internationaler Tag

Es tut sich mithin einiges, nicht nur in Deutschland – wo sich vorgestern georgische und usbekische Lkw-Fahrer erfolgreich der Willkür eines von internationalen Konzernen genutzten Logistikunternehmens widersetzten. Sondern auch in Frankreich, in Britannien und in zahllosen weiteren Ländern.

Dass überall Lohnabhängige für halbwegs vernünftige Bedingungen kämpfen, dass weltweit das Kapital einen Klassenkampf von oben führt (fast immer mit Unterstützung der entscheidenden politischen Kräfte), dass sozialer (und auch klimatischer) Fortschritt stets von unten erkämpft werden musste und muss: Daran erinnern die Lohnabhängigen und ihre Organisationen jeweils am 1. Mai. Und feiern ihre – leider zu selten genutzte – Kampfkraft.

Es gibt also viele Gründe, sich am Montag auf den Weg zu machen. In Konstanz beginnen die Aktionen um 10 Uhr mit einer Kurzkundgebing auf dem Bodanplatz, danach bewegt sich die Demo durch die Innenstadt (vorbei an Karstadt, wo über die dortigen Zustände informiert wird) und endet im Stadtgarten. Dort folgen ab 11 Uhr Reden – unter anderem von Maike Schallenberger, stellvertretede ver.di-Vorsitzende in Baden-Württemberg, und Jan Werner von der DGB-Hochschulgruppe. Zudem informieren viele zivilgesellschaftlichen Organisationen über ihre Arbeit – darunter seemoz e.v., Konstanzer Bündnis für gerechten Welthandel, Fridays for Future, Ortsgruppen der Parteien sowie der ver.di-Ortsverein Medien+Kunst (der sein Buch „Druck.Machen“ über die Geschichte der Konstanzer Arbeiter:innenbewegung zum Solipreis anbietet). Ab 12 Uhr spielt die regionale Band Scarabée. (pw)