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Kapital & Arbeit: Arbeitskämpfe in der Krise

Braucht es noch solche Gewerkschaften?

10. Januar 2023 | Während anderswo die Organisationen der Arbeiter:innen-Bewegung ordentliche Kämpfe führen, zeigen sich die deutschen Gewerkschaften als beste Freunde des Kapitals.

Vierundzwanzig Stunden lang stand alles still, was auf Schienen bewegt werden kann – und jenseits der Grenzregionen nahm kaum jemand Notiz davon: Ende November hatten in Österreich die Bahnbeschäftigten einen Tag lang die Arbeit niedergelegt. Der Streik allein wäre vielleicht nicht allzu erwähnenswert, wenn es bei dem Arbeitskampf nur um eine prozentuale Erhöhung der Löhne gegangen wäre.

Aber es stand mehr auf dem Spiel: „Die Mobilität ist die Achillesferse im Kampf gegen die Klimakrise“, sagte eine Vertreterin der Verkehrs- und Dienstleistungsgewerkschaft Vida in einem Interview mit dem linken Online-Magazin Mosaik, und dafür brauche es vernünftig bezahlte Beschäftigte. Aus diesem Grund unterstützte auch die österreichische Klimaschutzbewegung – und namentlich die Gruppe „System Change statt Climate Change“ – den Ausstand, der landesweit befolgt wurde. „Mobilitätswende braucht Lohnerhöhung“, twitterte beispielsweise Fridays for Future Wien. Dazu kam, dass die Gewerkschaft eine fixe Lohnerhöhung (400 Euro mehr für alle bei einer Laufzeit von einem Jahr) verlangte, die die unteren Lohngruppen begünstigt.

Die Popularität des Streiks verhalf Vida zum Erfolg: So steigt das Entgelt der 50.000 Eisenbahner:innen innerhalb von 15 Monaten um 480 Euro – ein prozentuales Gehaltsplus von zwischen 9 und 17 Prozent. Ein ähnliches Ergebnis hat es in Deutschland schon lange nicht mehr gegeben – aber hierzulande fordern die Gewerkschaften schon lange keine Festgelderhöhung mehr. Und sie suchen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – auch nicht den Schulterschluss mit der Klimabewegung.

Angriffe auf das Sozialssystem

In Frankreich geht es – wie üblich – ebenfalls munter zu. Dort streikten im ersten Halbjahr 2022 unter anderen Lehrer:innen, Beschäftigte der öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und TV-Sender, Flughafen-Angestellte, im September folgten die Fluglotsen, im Oktober die Arbeiter:innen von Ölraffinerien und ein landesweiter Generalstreik ein landesweiter Generalstreik, im November und Dezember legten die Bahnbeschäftigten immer wieder die Arbeit nieder – und weitere Auseinandersetzungen sind angekündigt.

Die Kämpfe richten sich dabei nicht nur gegen die ansteigende Inflation, sondern auch gegen die Politik der neoliberalen Regierung von Emmanuel Macron, die die Erwerbslosenversicherung reformierte und den Bezug des Arbeitslosengelds kürzte. Ob die Gewerkschaften den nächsten Angriff auf das französische Sozialsystem – die Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 65 Jahre – noch abwenden können, ist ungewiss. Aber immerhin versuchen sie es.

Mehr Kämpfe als zu Thatchers Zeit

Besonders heftig geht es derzeit in Britannien zu. In dem vom Brexit gebeutelten und von inkompetenten Tories regierten Land hat es die Lohnabhängigen aber auch besonders heftig gebeutelt: massiver Sozialabbau, Reallohnkürzungen seit Jahrzehnten, eine Inflation von über elf Prozent treibt den ärmeren Teil der Bevölkerung in den Ruin. Selbst hochprofitable Konzerne wie British Telecom haben mittlerweile betriebseigene Tafeln zugelassen, ohne die ihre Beschäftigten nicht über die Runden kommen. Und so wehren diese sich derzeit mit großer Vehemenz – trotz der seit Margaret Thatchers Zeiten geltenden und beständig verschärften Anti-Streik-Gesetze und einer gewerkschaftsfeindlichen Labour-Führung.

So legten und legen seit November zahlreiche Beschäftigten die Arbeit nieder: Grenzschützer und Busfahrerinnen, Krankenschwestern und Postboten, Feuerwehrleute und Lehrerinnen, Universitätsangestellte, Callcenter-Angestellte und natürlich – und das seit langem – die Eisenbahner:innen. Manche Gewerkschaftsmitglieder wie die des Royal College of Nursing streikten sogar zum ersten Mal seit hundert Jahren.

Und so lief auch über die Feiertage nur wenig: Zollbeamte verweigerten den Dienst und sorgten damit für erhebliche Verzögerungen auf den Flughäfen, Rettungssanitäter reagierten nur noch auf die allerwichtigsten Notrufe, Briefe wurden nicht zugestellt, der öffentliche Verkehr lag lahm (weil nicht nur die kampferprobte Bahngewerkschaft RMT die Mitglieder hat abstimmen lassen, sondern auch die Lokführergewerkschaft ASLEF) und auch die Docker blockieren den Warenverkehr.

Dass konsequenter Widerstand Erfolg haben kann, hatten ihnen ausgerechnet die einst gebeutelten Schauerleute von Liverpool vorgemacht. Diese hatten Ende der 1990er Jahre nach einem über zwei Jahre andauernden Ausstand gegen die Wiedereinführung des Tagelohns eine bittere Niederlage erlebt, die zur Entlassung aller Hafenarbeiter führte. Doch deren Gewerkschaft Unite ließ nicht locker, rekrutierte die neu eingestellten Docker und erzielte in einer langen Reihe von Streiks ab September bessere Arbeitsbedingungen und eine Lohnerhöhung von bis zu 18,5 Prozent.

Das Besondere an der britischen Streikbewegung ist nicht nur ihre Vehemenz, getrieben von der Verarmung der Bevölkerung. Sondern auch die Unterstützung, die sie genießt: Mittlerweile ist die vielleicht wichtigste soziale Einrichtung des Landes – das staatliche Gesundheitswesen NHS – durch viele Teilprivatisierungen dermaßen auf den Hund gekommen, dass «enough is enough», «genug ist genug», auch auf der Insel zu einem geflügelten Schlagwort wurde. Und direkt politisch sind die Ausstände ohnehin: Mit ihnen widersetzen sich die Trade Unions auch gegen Pläne der konservativen Regierung, die Gewerkschaften nicht mehr als Tarifpartner zu sehen, sondern ihnen nur noch eine konsultative Rolle zuzubilligen. Und Streiks weiter einzuschränken.

Löhne unter der Inflationsrate

Und in Deutschland? Hier herrscht vorwiegend Ruhe. Trotz Inflation und der damit verbundenen Reallohnkürzung blieb der vielfach erwartete „heiße Herbst“ aus (was den FDP-Finanzminister kürzlich dazu verleitete, das Ende der bislang nur widerwillig gewährten und schleppend ausgezahlten Hilfsleistungen für die Armen zu verkünden). Auch deshalb gilt hier von Regierungsseite aus: business as usual. Und die Gewerkschaften tragen dazu bei.

So hat die IG Metall für ihre Lohnrunde im Herbst zwar fast eine Million für Warnstreiks und Demos mobilisieren können, akzeptierte dann aber ein Ergebnis weit unter der ursprünglichen Forderung von acht Prozent für die kommenden zwölf Monate: Herausgekommen sind neben einer steuerfreien Zweimalzahlung 5,2 Prozent mehr ab Juni 2023 und 3,3 Prozent ab Mai 2024 – mithin gerade mal 8,5 Prozent Plus für zwei Jahre, ein Zuwachs weit unterhalb der aktuellen und noch zu erwartenden Preissteigerung.

War es ihre Nähe zur regierenden SPD, die die verantwortlichen Funktionäre zum schnellen Einlenken bewegte? Der in den oberen Gewerkschaftsrängen immer noch weitverbreitete Glaube an eine «Sozialpartnerschaft», die vom Neoliberalismus längst aufgekündigt wurde? Oder der bei den Industriegewerkschaften tief sitzende Standort-Gedanke, demzufolge es den Beschäftigten gut geht, wenn ein Unternehmen weltmarktführend ist (oder werden will)?

Wer vertritt da wessen Interessen?

Dabei ist längst klar, dass es auf dem Arbeitsmarkt immer weniger auf Großbetriebe ankommt, dass immer mehr Lohnabhängige in ungesicherten Jobs schuften (um die sich die Gewerkschaften nicht kümmern, weil sie scheinbar «selbstbeschäftigt» sind), dass zahllose Unternehmen Tarifflucht begehen (also vereinbarte Tarifbedingungen kündigen) und dass die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder trotz wachsenden Beschäftigtenzahlen zurückgeht.

Und das dürfte so weitergehen, wenn oberste Funktionäre wie die neue DGB-Vorsitzende Yasmin Fahini weiter solche Sprüche heraushauen wie kürzlich. Die frühere SPD-Generalsekretärin hatte Ende Dezember verkündet, dass sie Manager-Zulagen und Dividenden selber jener Unternehmen für in Ordnung hält, auch wenn diese auf Staatshilfen angewiesen sind. Jetzt sei «nicht die Zeit für kapitalismuskritische Grundsatzdebatten», sagte sie – und fügte hinzu, dass sie auch die sogenannten «Übergewinne» der Energiekonzerne für akzeptabel halte: Das seien eben «die normalen Mechanismen der Marktwirtschaft».

Brauchen die Gewerkschaften wirklich Führungskräfte, die – wie Fahini im Juni vergangenen Jahres – vor Klimaschutz auf Kosten der Industrie warnen? Oder die – wie der ver.di-Bundesvorstand – einen engagierten Gewerkschaftssekretär wie Orhan Akman fristlos kündigen, und das gleich drei Mal?

Haltlose Vorwürfe

Dabei war Akman bisher vor allem durch sein Engagement aufgefallen. Er hatte als Sekretär für den Handelsbereich bisher den Kampf der Amazon-Beschäftigten für einen ordentlichen Tarifvertrag koordiniert, sich für die Interessen der Belegschaften der Handelsunternehmen H&M und Zara eingesetzt und sich zuletzt um der von Massenentlassungen bedrohten Galeria-Kaufhof-Karstadt-Kolleg:innen gekümmert.

Akman soll, so der Vorwurf, Dokumente über das korruptionsverdächtige Verhalten von hochrangigen Funktionär:innen an die Springerpresse weitergeleitet haben, lautete der Vorwurf von ver.di – was der Beschuldigte bestreitet. Er bekam in einem Arbeitsgerichtsprozess Mitte Dezember Recht: ver.di muss den Gefeuerten wieder einstellen.

Ein Bericht des Redaktionsnetzwerks Deutschland zeigt auf, worum es bei dem versuchten Rauswurf tatsächlich ging: Akman kandidiert für den ver.di-Bundesvorstand, und das sollte offenbar verhindert werden. Ein Gewerkschafter, der sich vorbehaltlos für die Belange der Mitglieder engagiert und dazu noch Unterstützung genießt (Betriebsrätekonferenzen und ganze ver.di-Gliederungen solidarisierten sich mit ihm) – das stört natürlich den Betriebsablauf einer Beschäftigtenorganisation, die sich im Kapitalismus eingerichtet hat, dessen Spielregeln akzeptiert und keinerlei Vision von einer Überwindung der herrschenden Verhältnisse hat.

Braucht es noch solche Gewerkschaften? Natürlich sind sie wichtig, weil ohne sie vieles noch viel schlimmer wäre. Weil sie einen Zusammenschluss all jener darstellen, die wenig zu verlieren haben (außer ihrer Arbeitskraft). Weil sie auch viel Nützliches tun (wie etwa beim Streik der Cinestar-Beschäftigten in Konstanz). Und weil sie als Kollektivorganisationen ein Gegengewicht bilden zu der im Neoliberalismus weiter zunehmenden Vereinzelung der Individuen, die alleine wenig ändern können.

Aber sie müssen neu aufgestellt werden, und zwar von unten. Das wiederum geht nur mit einer Basis, die sich stärker einmischt. Dazu aber braucht es engagierte Mitglieder – und somit auch all jene, die über die Organisationen der Beschäftigten nun lästern, aber außen vor bleiben. Und nichts tun, um sie zu verändern. (pw)