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Kapital & Arbeit: Das europäische Demokratiedefizit

Ein Wanderparlament im Nirgendwo

14. Mai 2014 | Wahl des Kommissionspräsidenten, mehr Mitsprache in vielen Belangen – damit werben derzeit viele Parteien für eine Stimmabgabe bei der EU-Wahl. Doch das Publikum bleibt skeptisch, zu Recht.


Nun tingeln sie also durch die Lande und simulieren ein bisschen Wahlkampf, obwohl sie sich in wesentlichen Punkten einig sind – der versierte Taktiker Martin Schulz, seit 2012 Präsident des Europäischen Parlaments, und Jean-Claude Juncker, von 1995 bis 2013 Ministerpräsident der Steueroase Luxemburg. Beide bewerben sich um das Amt des EU-Kommissionspräsidenten, über dessen Besetzung im Herbst erstmals das EU-Parlament abstimmt. Der eine tritt für die sozialdemokratische Fraktion im EU-Parlament an, der andere für die christlich-konservative Europäische Volkspartei. Es gibt auch andere KandidatInnen – etwa Guy Verhofstadt (Liberale), Ska Keller (Grüne) oder Alexis Tsipras von der linken griechischen Partei Syriza, doch die werden selten zu TV-Debatten eingeladen (jedenfalls nicht zu jenen des deutschen Fernsehens): Sie kommen ohnehin nicht in Betracht.

Ist das nun der erhoffte Durchbruch zu mehr Demokratie? Darf endlich das EU-Parlament in freier Abstimmung über diesen wichtigen Posten bestimmen, den bisher stets der Rat der Europäischen Union besetzte – also die Regierungs- und StaatschefInnen beziehungsweise deren FachministerInnen? Das ist noch nicht ausgemacht. Zwar gibt der Vertrag von Lissabon, seit 2009 in Kraft, dem Parlament dieses Recht, doch die Vorentscheidung trifft weiterhin der Rat der Regierungen, die eigentliche Legislative. Er will seinen Beschluss darüber, wer künftig an Stelle von José Manuel Barroso die EU-Kommission führt, lediglich «im Licht der Parlamentswahl» fällen, die vom 22. bis 25. Mai abgehalten wird. Aber er muss es aber nicht.

Und so wird das EU-Parlament trotz Kompetenzzuwachs auch weiterhin nur ein Mitsprache-, manchmal auch ein Vetorecht haben. Das Initiativrecht (also die Möglichkeit, Gesetze einzubringen) und die legislative Entscheidungsmacht bleiben hingegen dort, wo sie schon immer lagen – bei der EU-Kommission und beim Europäischen Rat der Regierungen.

Gewiss, in den vergangenen Jahren gelang es den 766 Abgeordneten immer wieder, Akzente zu setzen: Sie stoppten 2010 den mit den USA vereinbarten Swift-Vertrag zum Finanzdatenaustausch, lehnten 2012 nach europaweiten Protesten das Acta-Abkommen ab, bestanden auf einer Reduzierung der «Roaming»-Gebühren im europweiten Mobilfunkverkehr und sprachen sich 2013 kurzfristig gegen den Siebenjahreshaushalt aus, den Kommission und Rat vorgelegt hatten. Aber mehr als ein Korrektiv ist das Parlament – das einmal im Monat für vier Tage von Brüssel zu den Plenarsitzungen nach Strassburg umzieht – nicht.

Der Konstruktionsfehler

Die mangelnde Entscheidungsgewalt gab im Februar auch das deutsche Bundesverfassungsgericht zu Protokoll, als es die in Deutschland geplante Drei-Prozent-Sperrklausel verwarf: Solche Hürden seien zwar sinnvoll, um die Funktionsfähigkeit einer gesetzgebenden Versammlung zu sichern, urteilten die Richter. Doch davon könne beim weitgehend rechtlosen Europaparlament keine Rede sein.

Das war ja auch während der letzten Jahrzehnte stets auusen vor geblieben: Bei allen Deregulierungs-, Privatisierungs- und Austeritätsbeschlüssen – vom Maastricht-Vertrag (1991), der Dienstleistungsrichtlinie (2006), dem Lissabon-Vertrag (2009) bis hin zu den Rettungsfonds und Spardiktaten, die Millionen Menschen in den südlichen EU-Staaten ins Elend stürzten – schenkte die EU-Kommission Kapitallobbys wie Business Europe und European Round Table weit mehr Gehör als dem EU-Parlament. Dieses Ungleichgewicht sei kein Zufall, sondern eingebaut, also ein Konstruktionsmerkmal der EU, sagen daher selbst EU-ParlamentarierInnen.

Auch ein Teil der europäischen Linken, die Europa als «Friedensprojekt» grundsätzlich begrüssen, hält das Demokratiedefizit für systemisch (siehe den Artikel über die britische Euro-Skepsis). Nur kann man damit weder einen Wahlkampf betreiben noch Menschen für ein Miteinander begeistern. Und so beschloss die deutsche Partei Die Linke vor kurzem, ihre eigentlich zutreffende Beschreibung von der EU als einer «neoliberalen, militaristischen und weitgehend undemokratischen Macht» aus ihrem EU-Wahlprogramm zu streichen.

Spielbein, Standbein

Aber kann die Linke im EU-Parlament etwas bewegen? Wohl kaum. Vor allem dann nicht, wenn linke EU-Abgeordnete – wie bisher – vor allem im Rahmen des parlamentarischen Systems operieren und ihre Rolle, eingebunden und vereinnahmt, darin sehen, ein paar Anträge vorzulegen und ein paar Fragen zu stellen. Sie mögen damit gute Dienste leisten und weitaus konstruktiver vorgehen, als die populistische Rechte, die bei der EU-Wahl deutlich zulegt. Die Europäische Linke könnte ihre Mandate auch von derzeit 35 auf vielleicht 50 steigern (dank den erwarteten Zugewinnen von Syriza in Griechenland und Izquierda Unida in Spanien). Aber es bleibt bei der bürgerlich-konservativ-sozialdemokratischen Mehrheit (vgl. nebenstehende Grafik). Und damit bei Abstimmungsverhältnissen wie vor kurzem, als das Europäische Parlament wesentliche Punkte des verheerenden transatlantischen Freihandelsabkommens TTIP für gut befand.

Und das ist die Gefahr: Dass sich die Linke mit all ihren Vorstellungen von einem sozialeren, offenen, demokratischen Europa so sehr auf die EU und das EU-Parlament kapriziert (und sich damit innerhalb der momentanen Gegebenheiten bewegt), dass ihr andere Möglichkeiten, Varianten, Modelle eines gemeinsamen Europas gar nicht mehr in den Sinn kommen. Und deshalb nur wenig bewegt. (pw)