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Kapital & Arbeit: Gewerkschaftskampagnen auf dem Netz

Solidarität per Mausklick

4. April 2013 | Verhaftungen, Massenentlassungen, Unternehmerwillkür: Tagtäglich werden auf der Welt Lohnabhängige drangsaliert. Das Onlinemedium Labourstart berichtet ständig darüber. Und unternimmt auch was.


Mexiko, Dezember 2012: Der finnische Autozulieferer PKC feuert über hundert Beschäftigte, weil die sich für die Anerkennung ihrer unabhängigen Gewerkschaft einsetzen. Der internationale Gewerkschaftsbund IndustriAll bittet das Onlineportal LabourStart um Unterstützung. Südkorea, Januar 2013: In Seoul protestiert der Präsident der Gewerkschaft der Staatsbediensteten gegen die Entlassung von 137 Angestellten mit einem Hungerstreik; sie seien Mitglieder einer «illegalen Organisation», behaupteten die Behörden. Die Gewerkschaft setzt sich mit Labourstart in Verbindung. Türkei, Februar 2013: In 28 Städten nimmt die Polizei über hundert Mitglieder des Service-public-Gewerkschaftsbunds Kesk fest – wegen «Nähe zu terroristischen Organisationen». Mehrere gewerkschaftliche Dachverbände treten an Labourstart heran. Und jedes Mal schickten rund zehntausend GewerkschafterInnen aus aller Welt Protestmails – an den PKC-Vorstand in Helsinki, an die Regierung in Seoul, an den türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan.

Es sind nicht die einzigen Kampagnen, die LabourStart in den letzten Monaten lanciert hat. Bisher unterstützten knapp 6000 MailsenderInnen Nissan-ArbeiterInnen in den USA, wo der ansonsten eher sozialpartnerschaftlich eingestellte Konzern einen radikal gewerkschaftsfeindlichen Kurs fährt. Fast 5000 Menschen unterzeichneten in den letzten Wochen einen Aufruf an die philippinischen Behörden, die Haftbefehle gegen AktivistInnen einer linken Gewerkschaftsgruppe erliessen. Und über 4000 zeigten sich mit den Beschäftigten einer Flughafenfirma in El Salvador solidarisch, die die gesamte Belegschaft entliess, um nicht mit deren Interessenvertretung verhandeln zu müssen.

105.000 AbonnentInnen

Wo immer derzeit Streikende in Gefängniszellen sitzen oder auf der Strasse landen, die Rechte von Gewerkschaftsmitgliedern missachtet werden oder Lohnabhängige sich zu Tode arbeiten müssen – fast immer laufen die Fäden der internationalen Solidaritätskampagnen in einem Technopark am Rand des Nordlondoner Stadtteils Tottenham zusammen. Denn hier hat seit einem halben Jahr die Onlineinitiative Labourstart.org ein kleines Büro. Und in ihm sitzt Eric Lee.

Viel früher als andere hat der 1955 in den USA geborene Gewerkschaftsaktivist und Publizist das Potenzial der digitalen Kommunikation für die Gewerkschaftsbewegung erkannt. 1996 schrieb er das Buch «The Labour Movement and the Internet: The New Internationalism»; zwei Jahre später gründete er das Portal Labourstart, das unter dem Motto «Wo GewerkschafterInnen ihren Tag im Netz beginnen» bis heute täglich Nachrichten über Arbeitskonflikte irgendwo auf der Welt weiterverbreitet. Wenn also einer etwas über internationale Gewerkschaftskampagnen und die Chancen und Grenzen des gewerkschaftlichen Internationalismus erzählen kann, dann ist es Eric Lee.

Obwohl: Allein ist er längst nicht mehr. Labourstart wird derzeit von rund 700 Freiwilligen getragen, die Weblinks posten, Nachrichten weiterleiten und dafür sorgen, dass die wichtigsten Aufrufe in rund zwei Dutzend Sprachen übersetzt werden, darunter Koreanisch, Farsi, Hindi, Arabisch oder Tagalog, das auf den Philippinen gesprochen wird. Englisch ist aber bei weitem die wichtigste Sprache. Von den 105.000 Kampagnenmails, die Lee und sein Mitarbeiter Edd Mustill verschicken, wenn irgendwo GewerkschafterInnen schikaniert werden, gehen etwa 75.000 an AbonnentInnen im englischen Sprachraum; die übrigen 30.000 erscheinen in anderen Sprachen, darunter auf Französisch (5900), Spanisch (4500), Italienisch (3900), Türkisch (3100) oder Deutsch (2600).

Wichtige Betreffzeile

Seit zehn Jahren betreibt Labourstart diese Mailkampagnen. Nicht alle sind erfolgreich. Oft dauert es auch eine Zeit, bis die Mailaktionen eine Wirkung entfalten. Ausserdem fallen die Reaktionen unterschiedlich aus: Während autoritäre Regimes grundsätzlich nicht antworten, schicken Unternehmen manchmal empörte Briefe – oder korrigieren ihre Haltung. Die Hinrichtung von GewerkschafterInnen im Iran zum Beispiel habe man bisher kaum verhindern können, sagt Lee , der in seinem Blog jeweils die Erfolge und Niederlagen vermeldet. «Aber wir haben Streiks gewinnen helfen, Exekutionen aufschieben können, Leute aus dem Gefängnis geholt, Unternehmer an den Verhandlungstisch gebracht.» Nicht Labourstart allein natürlich. Die Protestmails seien immer Teil von grösseren Kampagnen, die vor allem die internationalen Verbände führen: etwa die Dachorganisationen der Lebensmittel- und LandarbeiterInnengewerkschaften IUF, der ebenfalls in Genf ansässige internationale Verband der Metall- und Chemiegewerkschaften IndustriAll oder die internationale Transportarbeiterföderation ITF. Es sind auch zumeist diese Gewerkschaftsbünde, die an Labourstart herantreten (und das Projekt grossteils finanzieren).

Im Fall Bahrain war es Educational International (EI), der Verband der Bildungsangestellten. Dort hatte ein Militärgericht nach den Demonstrationen im Frühjahr 2011 unter anderem den Präsidenten der LehrerInnengewerkschaft und dessen Stellvertreterin zu zehn respektive drei Jahren Haft verurteilt. Viele Menschenrechtsorganisationen protestierten, EI bat Labourstart um Mithilfe, rund 12.000 Mails erreichten das Regime. In einem Berufungsverfahren wurden daraufhin die Strafen auf fünf Jahre beziehungsweise sechs Monate reduziert.

Aber warum folgen so wenige einem Aufruf? «Die Quote ist doch fantastisch», antwortet Eric Lee. Viele, sagt er, öffnen normalerweise die Mails nicht, die sie von Organisationen bekommen. «Bei Hilfswerken und nichtstaatlichen Organisationen machen das im Durchschnitt zwanzig Prozent, und bestenfalls die Hälfte davon reagiert dann auch», da sei die Labourstart-Rate gar nicht schlecht. Die Betreffzeile einer Mail sei daher entscheidend: Sie muss so formuliert sein, dass sie einerseits die Leute dazu bringt, die Mail zu lesen. Andererseits darf sie nicht reisserisch daherkommen («Die wichtigste Botschaft, die Sie je erhalten werden»), sonst bleibt sie schon in den Spamfiltern hängen.

Gar nicht gut seien auch Ländernamen im Betreff, sagt Lee . «Dann bleibt bei vielen die Mail ungelesen. Der Internationalismus ist immer noch sehr unterentwickelt, auch bei Gewerkschaftern.» Die TürkInnen, so ergaben Labourstart-Untersuchungen, würden vor allem auf Meldungen reagieren, die die Türkei betreffen. Sie sind bei weitem nicht die Einzigen. «Am schlimmsten sind die Amerikaner. Wenn wir Kampagnen gegen die Todesstrafe im Iran fahren, bekomme ich manchmal Mails aus den USA, die sinngemäss lauten: ‹Was regt ihr euch über den Iran auf? Hier in Ohio wird gerade eine Fabrik geschlossen …› Die haben doch keine Ahnung davon, dass es anderswo noch etwas Wichtigeres geben könnte!»

Mehr Junge

Mit Schuld daran hat freilich auch das oft behäbige Vorgehen der Gewerkschaften in der industrialisierten Welt. Während bei türkischen Gewerkschaften oder in Taiwan junge Mitglieder zunehmend den Ton angeben, die Gewerkschaften in Brasilien Videofilme ins Netz stellen, kanadische Trade Unions ein Labour-Radio betreiben und der Sprecher des südafrikanischen Verbands Cosatu rund um die Uhr twittert, «heisst es etwa bei den deutschen Gewerkschaften oft: ‹Wir haben doch ein Fax geschickt, was willst du noch?›».

Viele europäische Gewerkschaften hätten das Potenzial digitaler Kommunikationsformen noch immer nicht begriffen, sagt Lee . «Alle haben zwar inzwischen eine Website, sie geben auch Geld aus dafür. Aber frag die mal, ob sie auch Rundmails an ihre Millionen von Mitgliedern verschicken. Da ist meistens Fehlanzeige.» Als beispielsweise im vergangenen Jahr der Logistikkonzern DHL (im Besitz der Deutschen Post) dreissig GewerkschafterInnen in der Türkei feuerte und Labourstart eine Unterstützungskampagne initiierte, kam aus Deutschland kaum ein Echo.

Dabei sind solche Mails nicht nur ein gutes Mobilisierungsinstrument, sie dienen auch der Information. «Uns kommt es nicht nur darauf an, dass sich möglichst viele an Solidaritätsaktionen beteiligen», sagt Lee, «die Leute sollen auch wissen, was anderswo geschieht.» So gesehen haben die Labourstart-Aktionen einen Bildungszweck: «Manche haben durch unsere Chinakampagnen überhaupt erst erfahren, dass es dort Arbeitskämpfe gibt.»

Aber immerhin: Nicht überall sind nur altgediente Gewerkschaftsfunktionäre am Werk. So wächst die Zahl derer, die die Labourstart-Aktionsaufrufe abonniert haben. Und mit den E-Mails werden Jüngere und mehr Frauen erreicht. «Als ich vor zehn Jahren zur ersten Labourstart-Konferenz einlud, war ich schockiert», erinnert sich Lee: «Die Teilnehmer sahen alle aus wie ich: lauter ältere Männer aus der linken Ecke.» Mittlerweile aber kommen zu den Konferenzen (2010 in Ontario, 2011 in Istanbul, 2012 in Sydney, die nächsten zwei finden in Vancouver und Berlin statt) vor allem junge Leute.

Diese Entwicklung lässt Lee auf eine Ausweitung des Labourstart-Konzepts hoffen. Ausprobiert hat er ja schon vieles: Ein Webradio (das aber sehr aufwendig zu produzieren war und zu wenig Zuspruch fand), ein Unionbook als soziales Medium und Alternative zu Facebook (das wie Twitter natürlich genutzt wird), auch ein Newswire für Gewerkschaftssites hat er entworfen. Neben den Kampagnen und den News, die sich vielfach auf Artikel in den Mainstreammedien oder gewerkschaftliche Pressemitteilungen stützen, könnte die Website künftig auch eine Plattform für Geschichten aus der Arbeitswelt werden, geschrieben von den Beschäftigten. «Wenn wir so weit sind, bieten wir tatsächlich eine Alternative zur üblichen Berichterstattung.»

Da untertreibt Eric Lee ein bisschen. Eine Alternative zu dem, was sonst geboten wird, ist Labourstart schon heute. (pw)