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Eurozone: Sparprogramme und Abwehrkämpfe

Mit angezogener Handbremse

4. November 2010 | Überall in Europa widersetzen sich die Gewerkschaften den weitreichenden Kürzungsprogrammen der Regierungen. Jetzt rächt sich, dass sie nie über den Tellerrand des Lohnsystems hinausgeschaut haben.


Es bewegt sich also doch noch was bei den britischen Gewerkschaften. Am Montag zum Beispiel haben in London die 5600 Feuerwehrleute der Hauptstadt für acht Stunden die Arbeit niedergelegt. Ihre Gewerkschaft, die Fire Brigades Union (FBU), widersetzt sich seit Wochen einer geplanten Verlängerung der Tagesschichten von neun auf elf Stunden, die einen massiven Stellenabbau zur Folge hätte. Gegen dieses Sparprogramm und eine von der Direktion angekündigte Disziplinarmassnahme – wer dem neuen Schichtsystem nicht zustimmt, wird entlassen – hatten die Feuerwehrleute schon im Oktober gestreikt. Falls die nächsten Verhandlungen erneut scheitern, wollen sie am Wochenende gleich zwei Tage lang dem Dienst fernbleiben – ausgerechnet während der vielen Freudenfeuer in der Guy-Fawkes-Nacht. Am 5. November 1605 hatte Guy Fawkes versucht, das britische Parlament in die Luft zu jagen.

Zwei weitere Gewerkschaften stellten sich diese Woche ebenfalls quer: Am Mittwoch bestreikten 11000 Mitglieder der Eisenbahnerorganisation RMT und des Verbands der Transportangestellten TSSA die Londoner U-Bahn. Auch sie protestieren nicht zum ersten Mal gegen den geplanten Abbau von 800 Beschäftigten, die vor allem für die Inspektion und die Sicherheit des Zugverkehrs und der U-Bahnhöfe zuständig sind. Ein weiterer 24-Stunden-Streik ist für Ende November angekündigt, falls die Londoner Transportgesellschaft ihr Kürzungsprogramm nicht überdenkt.

Aber sonst halten sich die britischen Gewerkschaften zurück. Dabei hatte vor zwei Wochen die konservativ-liberaldemokratische Regierung von David Cameron ein beispielloses Sparprogramm angekündigt. Das Budgetdefizit von derzeit über elf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) werde bis 2015 auf unter ein Prozent gedrückt, versprach Tory-Schatzkanzler George Osborne vor zwei Wochen den Finanzmärkten und Ratingagenturen. Die Kürzungen in einer Gesamthöhe von 81 Milliarden Pfund (umgerechnet 129 Milliarden Franken) treffen vor allem Arme und Behinderte, Sozialeinrichtungen, das Bildungswesen und die Kultur, Beschäftigte im öffentlichen Dienst (eine halbe Million Stellen weniger) und KonsumentInnen (höhere Mehrwertsteuer), Gemeindeverwaltungen und den Naturschutz.

Auf Milton Friedmans Spuren

«Nur Krisen, tatsächlich vorhandene oder gefühlte, schaffen einen Wandel», sagte vor Jahrzehnten Milton Friedman. Der Chicagoer Wirtschaftsprofessor und Nobelpreisträger war der Doyen des neoliberalen Marktradikalismus und ein enger Berater der früheren Premierministerin Margaret Thatcher – und sein Diktum haben sich Thatchers Enkel in der britischen Regierung zu eigen gemacht. Für sie ist die hohe Staatsschuld, verursacht durch die milliardenteure Rettung der Banken, eine willkommene Katastrophe. Nun können sie – so ihre Hoffnung – endlich das zu Ende führen, was Thatcher während ihrer Amtszeit (1979–1990) nicht ganz geschafft hat: den fundamentalen Umbau des Staates. Und sie beherzigen noch eine weitere Massgabe des Ökonomen Friedman: Eine neue Regierung habe nur sechs bis neun Monate Zeit, um weitreichende Veränderungen durchzusetzen.

Die Nonchalance, mit der die britische Bevölkerung bisher auf das Schockprogramm reagierte (es gab bisher nur wenige kleine Kundgebungen) hat viele Gründe. Mittlerweile lehnt zwar eine Mehrheit den Kahlschlag ab, aber die meisten BritInnen halten einschneidende Kürzungen für unausweichlich. Viele empören sich über die «Gier der Banker», die am Jahresende höhere Boni beziehen werden als je zuvor, lasten aber die Schulden zumindest teilweise der früheren Labour-Regierung an. Ausserdem glauben immer noch fast siebzig Prozent, dass sie von den Kürzungen nicht direkt betroffen sein werden. Wer nutzt schon Stadtbüchereien und Jugendclubs, wer braucht schon Rechtshilfe oder Mietzuschüsse? Das Mitgefühl, das zeigen seriöse Untersuchungen, hat in den letzten Jahren in dem Masse nachgelassen, wie das von den Medien beförderte neoliberale Ich-ich-ich-Denken die Gesellschaft zersetzte.

Entscheidender aber ist, und das gilt nicht nur für Britannien: Viele Menschen sehen im Sparkonzept nicht in erster Linie eine politische Entscheidung, sondern die Konsequenz aus den scheinbar neutralen Zahlen hauswirtschaftlicher Rechnungen: Es braucht Korrekturen, damit die Ökonomie nicht an die Wand fährt. Und da muss man halt durch. Hatte nicht Labour ein ähnlich radikales Programm in Aussicht gestellt? Sprach nicht der ehemalige Schatzkanzler Alistair Darling im Falle eines Labour-Siegs bei der Unterhauswahl im Mai von «schlimmeren Einschnitten als zu Thatchers Zeiten»? Dass Labour die «notwendigen Kürzungen» über einen längeren Zeitraum verteilt und vielleicht anderswo angesetzt hätte, macht da nur einen kleinen Unterschied.

Die vermeintliche Unausweichlichkeit lähmt die heutige Oppositionspartei. Es gebe keine Alternative zu ihrem wirtschaftsfreundlichen Umverteilungskurs von unten nach oben, hatten die Labour-Premiers Tony Blair und Gordon Brown über dreizehn Regierungsjahre hinweg behauptet. Diese politische Ideenlosigkeit und Visionsleere rächt sich nun - und den Gewerkschaften, die Labour trotz deren Kriegspolitik und Privatisierungen mehrheitlich treu blieben, fällt nichts ein. Die linke Staatsangestelltengewerkschaft PCS und die ebenfalls konfliktorientierten FBU und RMT mobilisieren zwar kräftig und haben auch Konzepte zur Behebung des Staatsdefizits vorgelegt. Doch der Gewerkschaftsdachverband TUC vertagte erst einmal den Protest: auf eine nationale Demonstration Ende März 2011.

Aufstand gegen Sarkozy

«Wir müssen auch hier [in Britannien] französische Zustände schaffen», sagte RMT-Chef Bob Crow vor kurzem. In Frankreich hatten Hunderttausende wochenlang demonstriert und gestreikt. ArbeiterInnen, Studierende, SchülerInnen blockierten Strassen und Ölraffinerien, Häfen standen still, das Benzin wurde knapp, Züge fuhren nicht, der Müll blieb liegen. Doch der heisse Herbst ist vorbei. Und das nicht nur, weil Staatspräsident Nicolas Sarkozy mit harter Hand agierte, die Polizei aufmarschieren liess, die RaffineriearbeiterInnen dienstverpflichtete und das Parlament letzte Woche die umstrittene Rentenreform mit ihrer Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre verabschiedete. Sondern auch, weil die Linke keine Alternative bieten konnte.

Die französischen Kämpfe hatten ohnehin nur am Rande mit dem Rentengesetz zu tun. Es war eher die Bündelung mehrerer Faktoren, die zur Eskalation führten: die Zukunftslosigkeit der Jugendlichen, die ohnehin schon mageren Renten, die weitere Privatisierung der Häfen, die geplante Verlagerung der Raffinerien. Und weil ein wachsender Teil der Bevölkerung, die Sarkozy 2007 noch ins höchste Staatsamt gewählt hatte, sein autoritäres Gehabe allmählich leid wurde. Er hat den Bonus des Neugewählten, den Cameron noch geniesst, längst verspielt.

Aber wer könnte die Regierung ersetzen? Etwa die kopf- und konzeptlos agierenden SozialistInnen? Und so verhandeln jetzt Gewerkschaften wie die CFDT über mehr Beschäftigungsmöglichkeiten für die Jüngeren, die fürchteten, durch ein höheres Rentenalter noch weniger Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben, und für die älteren, die wie in allen anderen europäischen Staaten frühzeitig in die Altersarmut abgedrängt werden. Die Notwendigkeit einer Rentenreform hatten die Gewerkschaften ohnehin nicht in Zweifel gezogen – ihr Protest richtete sich eher gegen die Art und Weise, wie Sarkozy den Umbau des Rentensystems durchsetzte: ohne vorherige Debatte, ohne wirkliche Verhandlungen, ohne den Versuch, eine allgemein akzeptierte Änderung zu finden.

Eingerichtet im Kapitalismus

Die Selbstherrlichkeit der Elite in der überaus hierarchisch strukturierten französischen Gesellschaft ist ein wesentlicher Grund für die immer wieder aufflackernde Militanz der Lohnabhängigen. Sie müssen aufstehen, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Und sie können das, weil politische Streiks in Frankreich problemlos möglich sind – anders als in Britannien, wo die Gewerkschaften weitgehend rechtlos sind (Labour hatte Thatchers Antigewerkschaftsgesetze nie revidiert). Und anders als in Deutschland, wo politische Streiks als gesetzeswidrig gelten.

Jedenfalls ist es kaum vorstellbar, dass Sarkozy – der überall «régicides», also KönigsmörderInnen, sieht – den Chef einer Gewerkschaft zu einer Privatfeier in den Élysée-Palast einlädt. Vergleichbares hatte die um die Einbindung der Gewerkschaften bemühte Bundeskanzlerin Angela Merkel getan, als sie dem IG-Metall-Vorsitzenden Berthold Huber im Bundeskanzleramt ein Fest zu dessen 60. Geburtstag ausrichtete. Dass der danach nur mit angezogener Handbremse gegen die Projekte der schwarz-gelben Koalition protestiert, kann nicht wirklich überraschen. Dabei wäre Widerstand durchaus angebracht. Denn auch in Deutschland geht es nicht nur um Kürzungen in Höhe von achtzig Milliarden Euro bis 2014 und darum, dass der Bevölkerung die Kosten der Bankenrettung aufgebürdet werden. Sondern um den Umbau des Sozial- und Steuersystems.

Die Rente mit 67, die geplante Abschaffung der Gewerbesteuer (die Unternehmen an die Gemeinden zahlen), die reale Absenkung der skandalös niedrigen Hartz-IV-Sätze, die Einführung einer Zweiklassenmedizin durch die Kopfpauschale – dagegen wenden sich seit Wochen viele Belegschaften auf Betriebsversammlungen, mit Flugblattaktionen und an Infoständen. Der Höhepunkt des Protests sollen die Massendemonstrationen Mitte November in mehreren deutschen Grossstädten werden, an denen auch das Führungspersonal jener Partei mitmarschieren wird, die von den Gewerkschaftsspitzen seit langem verhätschelt wird und die die Hartz-Gesetze und die Rente mit 67 durchgesetzt hat.

Dass die SPD, die die Umverteilung von unten nach oben vorangetrieben hat, nun aus wahltaktischen Gründen eine Fortsetzung ihres Kurses ablehnt, macht die Partei nicht unbedingt glaubwürdig. Ihr geht es derzeit nicht besser als anderen sozialdemokratischen Parteien in Europa. Sie alle haben nicht erst seit dem Schröder-Blair-Papier von 1999 alle antikapitalistischen Ansätze über Bord geworfen und sich zu Sachverwaltern des Kapitals gemacht. Jetzt können sie keine Alternative bieten. Das gilt insbesondere für die regierenden Sozialdemokratien in Griechenland und Spanien, die den Kahlschlag orchestrieren, um die Märkte zu beruhigen.

Rente erst mit siebzig?

Daran haben die zahlreichen Streiks in Griechenland und der von den sozialdemokratischen Gewerkschaften ausgerufene Generalstreik in Spanien ebenso wenig ändern können wie die vielen Demonstrationen Ende September in Brüssel, Lissabon, Rom, Warschau oder Prag. Der Europäische Gewerkschaftsbund, der zur Brüsseler Kundgebung aufrief, versteht sich ohnehin nicht als Kampforganisation, sondern als Lobbyverband.

Und so wird zwar weiterhin protestiert, aber nur punktuell und ohne dass es weh tut. Wie eingeschränkt zum Beispiel die deutschen Manifestationen angelegt sind, zeigt der Beschluss des IG-Metall-Betriebsrats im Daimler-Werk Sindelfingen. Er hat nur für den Kundgebungstag am 13. November die Samstagssonderschichten untersagt. Danach wird mindestens bis Weihnachten durchgearbeitet. Auf die Dauer genügt das freilich nicht. Denn die EU-Kommission empfiehlt den Mitgliedsstaaten inzwischen die Anhebung des Renteneintrittsalters auf siebzig Jahre.

Geld ist genug da

Rund 700 Milliarden Franken kostete die Bankenrettung den britischen Staat; etwa genauso viel hat die deutsche Regierung bisher hingeblättert – riesige Summen. Und doch, so argumentieren die Gewerkschaften, wären die sozialen Einschnitte nicht nötig. In Britannien entgehen dem Staat durch Steuerschlupflöcher und -hinterziehung umgerechnet 155 Milliarden Euro – im Jahr.

Und in Deutschland, wo die Vermögenssteuer 1997 gestrichen, der Spitzensteuersatz von der rot-grünen Koalition erheblich reduziert und die Unternehmenssteuern halbiert wurden, könnte der Staat allein durch eine Korrektur dieser Steuersenkungs-politik jährlich achtzig Milliarden mehr einnehmen. (pw)