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Kapital & Arbeit: Gewerkschaftsfusionen

Grösse allein genügt nicht

14. Oktober 2004 | Moderne Organisationen von Lohnabhängigen müssen nicht unbedingt gross sein. Aber basisnah, einsatz- und konfliktbereit.


In der Basis zeigt sich der Unterschied. Parteien brauchen Mitglieder – denn wer sonst schreibt Leserbriefe, sammelt Unterschriften, mobilisiert in Wahlkampfzeiten? Aber entscheidend ist die Zahl ihrer Mitglieder nicht: Bei Wahlen kommt es auf Stimmen an. Auch Unternehmerverbände brauchen Mitglieder, zumindest ein paar – doch auf sie kommt es weniger an als auf die Wirtschaftsmacht, die sie repräsentieren.

Ganz anders die Gewerkschaften. Deren Durchsetzungskraft steht und fällt mit der Zahl der Lohnabhängigen, die in ihnen organisiert sind. So gesehen sind die Mitglieder die Gewerkschaft – und nicht die paar hundert Funktionäre, die ihre Interessen vertreten (sollen). «Die Kraft der Millionen gegen die Macht der Millionäre» hiess das in früheren Zeiten. Doch den Gewerkschaften brechen die Millionen weg. So hat beispielsweise die deutsche Mega-Gewerkschaft Verdi allein im letzten Jahr 150.000 Mitglieder verloren. Gründe dafür gibt es viele: den Niedergang ganzer Branchen, die wachsende Arbeitslosigkeit, die Individualisierung der Lebensverhältnisse.

Manche Ursachen sind aber auch hausgemacht: Verdi und die andere Grossgewerkschaft, IG Metall, konzentrieren sich auf Grossbetriebe und ziehen sich aus der Fläche zurück (das wird dem neuen Schweizer Fusionsprodukt Unia wohl nicht passieren); sie schwanken zwischen Widerstand und Anpassung, mobilisieren für die eine Demo gegen die Sozialpolitik der Regierung und sagen die nächste wieder ab (nachdem sie vom Kanzler zum Kamingespräch geladen worden sind); sie akzeptieren heute eine Aushöhlung der GAV und beklagen sich morgen darüber, dass die Kapitalseite nach dem kleinen Finger, der ihr geboten wurde, die ganze Hand will (siehe Siemens und Daimler vor ein paar Wochen, siehe Opel und VW demnächst).

In Deutschland werden die Gewerkschaften möglicherweise jenen Prozess durchmachen müssen, den die britischen Trade Unions hinter sich haben. In Britannien hatten die von Margaret Thatcher dezimierten und auf sozialpartnerschaftlichen Kurs gezwungenen Gewerkschaften erst wieder Fuss fassen können, als sie – auch auf Druck der Basis – ihre Konfliktscheu ablegten. Heute nimmt dort trotz anhaltender Deindustrialisierung der Organisationsgrad wieder zu; selbst Tony Blair, der Thatchers Programm fortsetzen will, kommt an den Unions nicht mehr vorbei.

All diese Fehler wird Unia wahrscheinlich vermeiden – zumindest die GBI ist heute eine der aktivsten und schlagkräftigsten Gewerkschaften in Europa. Dennoch werden Probleme auftreten, etwa dann, wenn es im Alltag zum Clash der Kulturen kommt und ein an gemächliche Prozesse gewohnter Smuv-Funktionär um 17 Uhr das Gewerkschaftsbüro abschliesst. Oder wenn sich die Organisation aus Bündnisgründen politische und gesellschaftliche Stellungnahmen verkneift.

Um nochmals das Beispiel Verdi zu bemühen: Seit die IG Medien und die Gewerkschaft Handel-Banken-Versicherungen (HBV) in der Grossfusion verschwunden sind, gibt es aus Gewerkschaftskreisen keine Kritik mehr an der Kriegsbereitschaft der rot-grünen Koalition. Aber immerhin haben manche Branchen ihre Basisnähe und Konfliktorientierung bewahren können: So kämpfen derzeit die früheren HBV-Mitglieder mit Verve gegen die Sanierungspläne des schwer angeschlagenen Karstadt-Konzerns. Sie mobilisieren die Basis, gewinnen viele Neumitglieder und können möglicherweise das Schlimmste abwenden – im Gegensatz zur IG Metall, die manchmal ohne Not profitablen Konzernen zu noch mehr Profit verhilft. (pw)