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Kapital & Arbeit: Streik bei Maggi

Und von Knorr die Suppe

23. September 2004 | Nestlé hat den Beschäftigten in seinem Singener Maggi-Werk ein Ultimatum gestellt. Jetzt haben diese die Arbeit niedergelegt.


«So schnell geben wir nicht auf», sagt Beatrix Meier. «Bisher waren wir immer gesprächsbereit gewesen, wir haben Zugeständnisse gemacht und auf vieles verzichtet.» Aber jetzt, sagt die junge Betriebsrätin des Maggi-Werks von Singen am Hohentwiel, «haben alle begriffen, dass Verzicht nichts bringt». Wenn der Betrieb im Defizit wäre, «würden wir das ja einsehen. Aber er schreibt keine roten Zahlen.»

Betriebsrätin Meier steht nicht allein am Werktor Süd im Singener Industriegebiet. Rund hundert Streikposten haben sich an diesem Morgen dort versammelt. Viele tragen einen Plastikumhang mit der Aufschrift «Wir streiken!», manche haben die Fahne der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) dabei, und fast alle blasen in Trillerpfeifen, wenn sie einen der wenigen Streikbrecher übers Werkgelände laufen sehen. Die Stimmung ist aufgekratzt, einen solchen Arbeitskampf haben die Maggi-Beschäftigten von Singen noch nie erlebt.

Auch am Nordportal, wo ebenfalls rund hundert Maggi-Beschäftigte Posten stehen, gleicht der Streik einem Volksfest: Die Gewerkschaft hat Biertische aufstellen lassen; aus den Lautsprechern dudelt Musik – immer wieder unterbrochen von einem, der die stündlich eintreffenden Solidaritätsbekundungen vorliest; der Grill ist bereits angeworfen; Kaffee und Softdrinks gibt es in Hülle und Fülle. Selten zuvor hat man in Singen eine solche Empörung erlebt, ein solches Selbstbewusstsein – und eine solche Zuversicht.

Das Ultimatum

Keiner hatte an Streik gedacht, als die Gewerkschaft Ende Mai den auslaufenden Tarifvertrag kündigte und der Maggi GmbH, einem Unternehmen von Nestlé Deutschland, ihre Forderung nach einer Lohnerhöhung von vier Prozent vorlegte – schon gar nicht Karl-Heinz Müller, der Singener NGG-Sekretär. «Wir haben im Juni erstmals verhandelt», sagt Müller. Beim zweiten Termin im Juli aber habe Nestlés Arbeitsdirektor Friedrich Schmidt – statt über die Forderung zu verhandeln – ein «knallhartes Ultimatum» vorgelegt: Bei Maggi Singen müssten sofort 3,2 Millionen Euro an Personalkosten eingespart werden, «sonst werde die Produktion in andere Werke verlegt» (Zitat Müller). Konkret verlangte die Geschäftsleitung eine Nullrunde bei den Löhnen, eine Verlängerung der wöchentlichen Arbeitszeit von 37 auf 38 Stunden (ohne Lohnausgleich), eine weitere Reduktion der bezahlten Pausen, eine Streichung der Schichtzulagen und eine Kürzung der Jahressondervergütungen. Mit dieser «Erpressung» (Müller) hat Nestlé Deutschland offenbar den Bogen überspannt.

Seit 1887 werden in Singen Suppenwürfel und Würze hergestellt. Kurz zuvor hatte Julius Maggi in Kemptthal ZH Brühwürfel und Suppenwürze entwickelt, beides Zutaten, die sich schnell grosser Beliebtheit erfreuten. Maggi expandierte über die Zollgrenze hinweg und richtete in Singen ein kleines Abfüllwerk ein, das stetig expandierte. Mit dem Maggi-Werk wuchs auch die Stadt - spätestens in den fünfziger Jahren war Singen in Deutschland «die Maggi-Stadt». Damals beschäftigte die 1947 von Nestlé übernommene Firma 3800 Menschen. Der Produktivitätszuwachs liess die Belegschaft jedoch schrumpfen: Vor zwölf Jahren waren noch 1750 ArbeiterInnen beschäftigt, heute sind es noch 900. Sie füllen Würze ab (achtzig Tonnen am Tag), stellen Dosengerichte wie Ravioli her und fertigen Saucen und Trockensuppen – mit Erfolg, wie die Beschäftigten meinen, denn der Umsatz nehme beständig zu. Allein im Nassproduktionssektor sei der Ausstoss im letzten Jahr um über fünfzehn Prozent gestiegen.

Dennoch will Nestlé die Personalkosten um durchschnittlich neun Prozent senken – «um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten», wie der Pressesprecher sagt. Damit kann jede Lohnsenkung begründet werden, denn Wettbewerb gibt es immer. Über die Geschäftszahlen einzelner Werke gibt Nestlé grundsätzlich keine Auskunft.

99,5 Prozent Zustimmung

Da beim dritten Tarifgespräch am 14. September die Nestlé-Führung lediglich ihr Ultimatum wiederholte, erklärte die NGG die Verhandlungen für gescheitert. Und so kam es Mitte letzter Woche zur Urabstimmung, bei der 99,5 Prozent der gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten für Kampfmassnahmen votierten. Ein verblüffendes Ergebnis, wenn man bedenkt, dass vor nicht allzu langer Zeit die ebenfalls gut organisierten und kampferfahrenen Daimler-Chrysler- und Siemens-Belegschaften ähnliche Sparprogramme ihrer Konzernzentralen praktisch kampflos hingenommen hatten.

Bei Siemens und Daimler hatten die Konzernleitungen Beschäftigungsgarantien versprochen - und auch bei Maggi stellt die Geschäftsleitung einen Erhalt der Arbeitsplätze für die nächsten drei Jahre in Aussicht. Am Tor Nord mag jedoch keiner so recht daran glauben. «Schau dir doch Biessenhofen an», sagt Eugen Karia, der seit 25 Jahren bei Maggi in Singen arbeitet, «die stehen jetzt auch nicht besser da.» Im Werk Biessenhofen bei Kaufbeuren im Allgäu habe die Nestlé-Konzernleitung der Belegschaft mit der Drohung, andernfalls die Produktion der Säuglingsnahrung Alete abzuziehen, erhebliche Zugeständnisse abringen können. «Aber jetzt ist der Umsatz eingebrochen, und die Belegschaft steht erneut unter Druck.» Solche Garantien seien wenig wert, sagt er.

Immer wieder dieselbe Drohung

«Wir haben in den letzten Jahren vieles stillschweigend akzeptiert», sagt Beatrix Meier. «Wir haben Nullrunden beim Lohn hingenommen, uns der Abschaffung der bezahlten Dusch- und Pausenzeiten nicht widersetzt und letztes Jahr einen Tag Urlaub preisgegeben.» Auch der betriebseigene Kindergarten ist weg, die Werkswohnungen wurden verkauft, die Werksbücherei geschlossen. Das seien Privilegien gewesen, auf die man verzichten konnte, weil «die sonst niemand mehr hat». Aber jetzt geht es an den «wohlverdienten» Lohn – und damit ans Ehrgefühl. Dabei verdienen Singens MaggianerInnen mit durchschnittlich 2500 Euro brutto für deutsche Verhältnisse gar nicht mal so schlecht.

Dass sie und ihre Arbeit was taugen, hat ihnen nicht zuletzt die Geschäftsleitung stets vor Augen geführt. «Zwanzig Jahre lang wurde uns mit einer Verlegung der Produktion in ein grosses Nestlé-Werk in Frankreich gedroht», sagt Betriebsrat Bölle, «die könnten dort unsere Fertigung in der Mittagspause erledigen, hat es geheissen. Und was geschah? Vor zwei Jahren hat Nestlé dieses Werk verkauft.» Auch der Versuch einer Auslagerung der Klösschenproduktion ins österreichische Linz sei grandios gescheitert – «die haben dort nur ungeniessbare Holzbollen produziert, bald danach landete der Auftrag wieder bei uns.» Ausserdem werde gerade wieder heftig investiert: Nächstes Jahr soll das Maggi-Werk in Singen auch die Herstellung der Rohwürze übernehmen, die bisher noch aus dem 2001 von Givaudan übernommenen ehemaligen Maggi-Werk in Kemptthal geliefert wird.

Die Volksfeststimmung hält an. «Solidarität darf nicht nur aus Grussworten bestehen», sagt ein Gewerkschafter, der extra aus Heilbronn angereist war, «sie muss auch Konkretes bieten». Er hat eine Ladung Jogurt mitgebracht – spendiert von der Belegschaft eines Milchwerks. Und morgen, sagt die Streikleitung, käme auch noch eine Lieferung Knorr-Suppen, ein Geschenk des Unilever-Betriebsrats. Diese Nachricht haben die ProduzentInnen der Maggi-Suppe besonders heftig beklatscht. (pw)



Aktualisierung eine Woche später

Julius gewinnt

30. September 2004 | Gemeinsam verteidigen, gemeinsam gewinnen, gemeinsam feiern: Es gibt also doch noch dieses Gefühl von Kollektivität – zumindest bei der Belegschaft des Maggi-Werks in der süddeutschen Stadt Singen am Hohentwiel. Mit 99,5 Prozent hatten die Beschäftigten des Werks vorletzte Woche einen Streik gegen die Sparpläne des Nestlé-Konzerns beschlossen, mit 98,7 Prozent hiessen sie am Freitag letzter Woche das Verhandlungsergebnis gut, und dann feierten sie bis in den frühen Morgen hinein ein rauschendes Fest. «Alle sind sehr zufrieden und erleichtert», sagt Karl-Heinz Müller, der Singener Sekretär der zuständigen Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). Und das können sie auch sein.

Im Zuge von Lohnverhandlungen hatte das Management von Nestlé Deutschland den Maggi-Beschäftigten in Singen ein Ultimatum präsentiert: Die Personalkosten müssten um 3,2 Millionen Euro gesenkt werden, andernfalls sei der Standort Singen in Gefahr. Friedrich Schmidt, Nestlés Personaldirektor in Frankfurt, wollte vor allem eine unbezahlte Verlängerung der wöchentlichen Arbeitszeit von 37 auf 38 Wochenstunden durchsetzen. In allen anderen Nestlé-Werken in Deutschland werde 38 Stunden gearbeitet, sagte er am letzten Donnerstag an einer öffentlichen Diskussion in der Singener Innenstadt. «Was ist denn so schlimm daran, wenn die Beschäftigten täglich zwölf Minuten länger arbeiten müssen?» Die Antwort kam postwendend: «Dann verlieren mindestens 25 von uns ihren Job.»

Möglicherweise hat diese vom Südwestrundfunk SWR übertragene Debatte, bei der Schmidt heftig ausgepfiffen wurde, die Unternehmensleitung davon überzeugt, dass sich die Singener Maggi-Belegschaft nicht so einfach erpressen lässt. Vielleicht hat sie auch die Geschlossenheit der «Maggianer» überrascht, denn die planten eine Ausweitung ihrer Aktionen bis hin zu einer Grosskundgebung vor dem Nestlé-Hauptsitz in Vevey. Und so gab die Unternehmensleitung trotz aller Schützenhilfe der Medien nach. Die tarifvertraglich vereinbarte wöchentliche Arbeitszeit bleibt bei 37 Stunden. Die Schichtzulagen werden nicht gestrichen. Die Löhne steigen rückwirkend zum 1. Juni 2004 um zwei Prozent. Ausserdem bietet das Unternehmen eine Beschäftigungssicherung bis zum Jahr 2010. Dafür nehmen die Beschäftigten eine Kürzung der bezahlten Schichtpausen und eine Reduktion der Jahressondervergütung von heute 128 Prozent eines Monatslohns auf 120 Prozent (2006) in Kauf.

Diese Zugeständnisse sind minimal angesichts des enormen Drucks, den die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften derzeit in Deutschland erleben. Aber woher kommt die Widerspenstigkeit der Belegschaft? «Vielleicht hat das ja was mit Julius Maggi und seiner Einstellung gegenüber den Arbeitenden zu tun», sagt Müller von der Singener NGG. Jedenfalls habe der Schweizer Firmengründer schon 1902, als andernorts Gewerkschaften noch um Anerkennung ringen mussten, in Singen eine tarifvertragliche Vereinbarung mit den Beschäftigten akzeptiert. Daraus sei über die Jahrzehnte hinweg in Singen eine lang andauernde «kämpferische Sozialpartnerschaft» entstanden. So gesehen hat sich Maggi gegen die Couponschneider von Nestlé durchgesetzt. (pw)