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Kapital & Arbeit: Erpressung bei Daimler-Chrysler

Alle Schleusen offen

29. Juli 2004 | Im Konflikt mit der Konzernleitung hat der Betriebsrat klein beigegeben. Und das hat Folgen – über die Grenze hinweg.

Am Freitagmorgen der vergangenen Woche traten in Stuttgart zwei zufriedene Männer vor die Presse. Der eine strahlte über das ganze Gesicht: Die Konzernleitung habe ihr Ziel erreicht, sagte Jürgen Schrempp, Vorstandsvorsitzender von Daimler-Chrysler; künftig werde das Unternehmen jährlich 500 Millionen Euro Personalkosten sparen. Auch der andere schaute zufrieden drein. Der Beitrag zur Konstensenkung «tut uns sehr weh», sagte der Gesamtbetriebsratsvorsitzende Erich Klemm, aber die ausgehandelte Beschäftigungsgarantie bis zum Jahr 2012 sei doch «ein grosser Erfolg». Darauf sei er «stolz».

Wenn zwei Parteien, die gegensätzliche Positionen vertreten, sich gemeinsam so freuen, hat in aller Regel eine Seite gewonnen und die andere verloren – nur gibt die das nicht zu oder hat es noch nicht gemerkt. Die Vereinbarung lässt jedenfalls keinen Zweifel daran, wer sich durchgesetzt hat.

Mit ihrer Drohung, einen Teil der Produktion von Sindelfingen nach Bremen und Südafrika zu verlegen, konnte der profitable Daimler-Konzern (3,1 Milliarden Euro Plus im letzten Jahr) den BelegschaftsvertreterInnen im Gesamtbetriebsrat erhebliche Zugeständnisse abringen: Die 160.000 Beschäftigten verzichten von 2006 an auf 2,8 Prozent Lohn, die 20.000 Angestellten in den Bereichen Forschung und Entwicklung arbeiten künftig 40 Stunden in der Woche, 6000 ArbeiterInnen in den Dienstleistungsbereichen (Kantinenpersonal, Wachleute etc.) leisten demnächst 39 statt wie bisher 35 Wochenstunden und bekommen dafür weniger Lohn, Neueingestellte erhalten ein niedrigeres Entgelt, und die 1973 erkämpfte Fünf-Minuten-Erholpause pro Arbeitsstunde wird teilweise gebündelt und für betriebliche Belange (Mitarbeiterbesprechung, Qualifikationstage) verwendet.

Im Gegenzug verzichtet die Unternehmensleitung auf betriebsbedingte Kündigungen bis zum Jahr 2012. Eine Garantie ist diese Zusage jedoch nicht. Sollte sich die wirtschaftliche Lage ändern, so Mercedes-Chef Jürgen Hubbert, müsse darüber neu verhandelt werden.

Die Prätorianer der IG Metall

Tagelang waren die Beschäftigten aller Daimler-Werke gegen die Erpressung des Managements Sturm gelaufen. Sie hatten demonstriert, die Arbeit niedergelegt, Sonderschichten verweigert, eine autobahnähnliche Zufahrtsstrasse nach Stuttgart blockiert. Und viele waren bereit zu mehr. Auch die Beschäftigten anderer Stuttgarter Metallbetriebe hätten bei Aktionen mitgemacht: Bei den Automobilzulieferern Bosch und Mahle verlangt das Management ähnliche Zugeständnisse.

Die Kampfbereitschaft der Stuttgarter MetallerInnen kommt nicht von ungefähr: In den letzten Jahrzehnten hatte die IG Metall ihre grossen Schlachten stets im Stuttgarter Raum, dem Zentrum der deutschen Metallindustrie, geschlagen. Hier wurden die meisten Lohnkämpfe entschieden, hier setzten die Beschäftigten die 35-Stunden-Woche durch, hier erzwangen sie die Erholpause für BandarbeiterInnen (die jetzt wieder abgeschafft wird), hier kämpften sie 1996 mit spontanen politischen Streiks erfolgreich gegen die von der damaligen CDU-Regierung geplante Abschaffung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Und hier knickten 2004 die ins Unternehmen eingebundenen Daimler-Betriebsräte ein – ohne Not und ohne die Beschäftigten wirklich zu mobilisieren.

Haben sie das neoliberale Denkmodell («es gibt keine Alternative») verinnerlicht? Fürchteten sie und die IG-Metall-Spitze eine Massenbewegung, die möglicherweise bald unkontrollierbar geworden wäre? Eine Niederlage war jedenfalls nicht zu befürchten. Die IG Metall, die vorher schon einer unbezahlten Arbeitszeitverlängerung in zwei Werken des profitablen Siemens-Konzerns zugestimmt hatte, wird sich nun vor neuen Erpressungen kaum retten können. Er hoffe, dass mit dem Daimler-Abschluss nun endlich Ruhe komme in die «Orgie der Verzichtsforderungen», sagte am Freitag der norddeutsche IG-Metall-Bezirksleiter Frank Teichmüller. Doch das Gegenteil ist der Fall. Schon im Juni lagen der «grössten Einzelgewerkschaft der Welt» (so die IG-Metall-Eigenwerbung) hunderte Anträge von Unternehmen vor, die über Arbeitszeit und Löhne neu verhandeln wollen. Nach Daimlers Fall erwarten nun viele eine Lawine.

Folgen auch fürs Ausland

Die rollt bereits an. Volkswagen will die Personalkosten in den nächsten sieben Jahren um dreissig Prozent senken, Ford und Opel arbeiten an ähnlichen Plänen. Beim Nutzfahrzeughersteller MAN wird über längere Arbeitszeiten verhandelt; beim Reifenproduzenten Continental gilt künftig wieder die 40-Stunden-Woche; beim defizitären Tourismusunternehmen Thomas Cook wurden 400 Stellen abgebaut, die Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden erhöht, die bereits vereinbarte Lohnerhöhung ausgesetzt; beim bundesweit grössten Kaufhauskonzern Karstadt-Quelle droht nun der Vorstand mit der 42-Stunden-Woche (zuvor hatte er die Streichung von 4000 Arbeitsplätzen verkündet). In Klein- und mittelständischen Betrieben konnten sich die Beschäftigten schon bisher kaum dem Druck entziehen: hier ein paar unbezahlte Stunden mehr, dort freiwilliger Verzicht aufs Urlaubsgeld. Dabei ist Deutschland schon lange nicht mehr das Land der kurzen Arbeitszeiten. Nach einer vom nordrhein-westfälischen Sozialministerium jüngst veröffentlichten bundesweiten Studie arbeiten die Vollzeitbeschäftigten derzeit im Schnitt 42 Stunden in der Woche.

Und so setzt sich mit rapider Geschwindigkeit der «ökonomische Schwachverstand» (Elmar Altvater) durch. Während früher die Unternehmen die Preise ihrer Produkte durch Einfallsreichtum, höhere Produktivität und Motivierung der Belegschaften senken konnten, um am Markt zu bestehen, gehen sie heute zum Betriebsrat und drohen mit einer Verlagerung der Produktion in «billigere» Regionen (mit der Folge, dass das Realeinkommen und damit die Nachfrage selbst für die eigenen Produkte sinkt). Exportorientierte Unternehmen können auf diese Weise konkurrenzfähig bleiben – bis im Ausland die Lohnkosten mit denselben Argumenten ebenfalls reduziert werden. Und die Schraube erneut angedreht wird. In Frankreich jedenfalls haben die Manager von Renault und Peugeot die Daimler-Gespräche genau verfolgt – und nicht nur dort. (pw)