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Nordirland: Die Misstrauischen an der Lunte

Stolpern nach dem ersten Schritt?

16. April 1998 | Das Nordirland-Abkommen steht. Sinn Féin und die IRA haben verloren. Und doch könnte es schlimmer kommen.

Die Strassen sehen aus wie frisch gewaschen, an den Lichtmasten hängen neue Trikoloren, die grün-weiss-orangenen Girlanden leuchten über dem Asphalt. In Zweier- und Dreierreihen stehen die Menschen am Rande der Falls Road, auch sie sind fein herausgeputzt.

Heute ist Ostersonntag, der wichtigste Feiertag der irisch-republikanischen Bewegung. Vor 82 Jahren, an Ostern 1916, hatten ein paar hundert irische Revolutionäre versucht, das britische Kolonialregime zu vertreiben. Der Aufstand scheiterte zwar, wurde aber zum Fanal; die nachfolgende Unabhängigkeitsbewegung hatte im Süden Erfolg – um so intensiver wird hier, im britischen Nordirland, des Osteraufstands gedacht.

An diesem Sonntag ziehen gleich vier Paraden durch die Falls Road zum Milltown-Friedhof, wo die RepublikanerInnen so viele ihrer Toten begraben haben. Zuerst kommt die kleinste Gemeinde: Mitglieder und SympathisantInnen der Partei Republican Sinn Féin (RSF), die 1986 mit der grossen IRA-Partei Sinn Féin gebrochen hat, weil diese den parlamentarischen Weg einschlug. «Unser Kampf geht weiter, bis Irland frei ist», versichert der Redner den vielleicht fünfzig Anwesenden (die Presse nicht mitgezählt).

Seine Rede ist kurz, die nächste Gruppe (zweihundert KundgebungsteilnehmerInnen) wartet schon. Es ist die Irish Republican Socialist Party (IRSP), die selber keine grosse Rolle spielt, aber einen militärischen Flügel unterhält, der den Waffenstillstand der IRA nicht mitträgt: Die Irish National Liberation Army (INLA) hat seit Jahresbeginn drei Menschen getötet, zuletzt am Mittwoch vergange- ner Woche, als INLA-Mitglieder einen Mann erschossen, den sie irrtümlich für einen loyalistischen Killer hielten. «Für das grosse Ziel einer vereinigten sozialistischen irischen Republik sind viele gestorben», sagt der Redner am Sammelgrab von siebzehn INLA-Gefallenen, «und weitere werden noch sterben.»

Als sich Sinn Féin aufmacht, wird die Falls Road lebendig. Hinter Bands marschieren Parteifunktionäre, Abgeordnete, Angehörige von getöteten IRA-Mitgliedern, von Häftlingen, Veteranen. Dann kommen noch die Nachbarn, die einfachen Mitglieder, viele Jugendliche: Am Schluss stehen rund dreitausend Leute zwischen den Gräbern am zentralen Mahnmal. Viele sind wohl auch gekommen, weil sie sich eine definitive Stellungnahme zum gerade beschlossenen Nordirland-Abkommen erhofften. Sinn Féin hat bis zum Schluss mitverhandelt, will aber frühestens auf dem Parteitag am kommenden Wochenende über Annahme oder Ablehnung des Verhandlungspakets entscheiden.

Die KundgebungsteilnehmerInnen erfahren nichts Neues. Sie seien an einem «Höhepunkt des Freiheitskampfes» angekommen, sagt der Redner; «wir haben die politische Landschaft verändert». Alle sollten das Dokument genau studieren, «wir werden weiterkämpfen, bis ein vereinigtes sozialistisches Irland erreicht ist». Ähnlich vorsichtig formulieren es die Sinn-Féin-Chefs Gerry Adams und Martin McGuinness auf anderen Osterkundgebungen – die republikanische Führung wird noch viel Überzeugungskraft aufwenden müssen. Denn einem vereinigten Irland ist die Partei kaum näher gekommen.

Es beginnt zu schneien, die ersten gehen heim. Von der grossen Freude, mit der sie den ersten Waffenstillstand der IRA im August 1994 begrüssten, ist heute nichts zu spüren. Viele ahnen, dass sie auch diesmal nicht zu den Siegern zählen. Unterwegs begegnen sie den vielleicht vierhundert AnhängerInnen der Workers Party, die bis in die siebziger Jahre hinein Official Sinn Féin hiess und die Official IRA unterhielt. Wieder marschieren FahnenträgerInnen voran, wieder werden Kränze niedergelegt, wieder verliest eine junge Frau die Unabhängigkeitserklärung von 1916.

Die vier Gruppierungen, die an diesem Sonntag zum Friedhof marschierten, sind alle historisch verbunden und verfeindet. Der Riss innerhalb der republikanischen Bewegung könnte jetzt noch grösser werden.

Der historische Deal

Von «Schicksalstag» war die Rede, manche spürten gar die «Hand der Geschichte auf der Schulter» (Tony Blair), und die Begeisterung, mit der beispielsweise David Ervine von der loyalistischen* Progressive Unionist Party (PUP) das Abkommen begrüsste («absolut fantastisch»), war nicht gespielt. In der Tat: Die Bedeutung der Vereinbarung ist enorm. Erstmals in der Geschichte Nordirlands sass die Mehrzahl der unionistischen Parteien mit RepublikanerInnen zusammen, erstmals wurde der nationalistischen Minderheit das Recht auf Gleichbehandlung vertraglich zugesichert, erstmals wird die Europäische Menschenrechtskonvention auch für Nordirland gelten. Dazu eine Reform der Polizei, frühzeitige Freilassung der Gefangenen, die Abschaffung der Ausnahmegesetze.

Für Oliver Kearney sind das entscheidende Punkte. «Vor fünfzig Jahren hat die Uno die Menschenrechtserklärung verabschiedet, aber für uns galten die Menschenrechte nicht. Das könnte sich jetzt ändern», sagt er. Fast dreissig Jahre schon arbeitet Oliver Kearney im katholischen Westbelfast – er hat Selbsthilfegruppen gegründet, Arbeitslose zusammengebracht, gegen die Machenschaften der katholischen Kirche, der Nordirlandverwaltung, der Polizei protestiert. Selber glaubt er nicht an die Wirksamkeit politischer Gewalt, «die ist meistens kontraproduktiv». Die Durchsetzung sozialer und nationaler Rechte könne nur auf evolutionärem Weg geschehen, sagt Kearney. Das Abkommen schaffe vielleicht einen Neubeginn, «die Gelegenheit kommt nicht so schnell wieder».

Die Elite entscheidet

Auch Vincent McKenna, der in Südbelfast wohnt, begrüsst das Abkommen – aus mehreren Gründen. «Ende der achtziger Jahre war die IRA dabei, den Krieg zu verlieren», sagt er. Der britische Militärapparat habe die Untergrundorganisation ziemlich gut im Griff gehabt, Armee und Polizei hätten IRA-Leute fast schon nach Belieben erschossen, dazu die vielen Verhaftungen. McKenna muss es wissen, er war neun Jahre lang (bis 1991) bei der IRA. «Die Entwicklung einer politischen Strategie hat die Bewegung gerettet», sagt er – ohne Gerry Adams wären IRA und Sinn Féin wahrscheinlich längst erledigt.

Jetzt, sagt McKenna, «muss die Sinn-Féin-Führung die nächsten Schritte tun»: Abgabe der Waffen, Auflösung der IRA. Eine solche Entscheidung wäre nur folgerichtig. Schon heute ist Sinn Féin die stärkste Partei in Belfast, und niemand zweifelt daran, dass sie die gemässigte katholische Social Democratic and Unionist Party (SDLP) bald überflügeln wird. Wenn SDLP-Chef John Hume demnächst aus Altersgründen von der politischen Bühne abtritt, ist Gerry Adams der populärste katholische Politiker.

Warum hat McKennna die republikanische Bewegung verlassen? Wegen der IRA- und Sinn-Féin-Führung. «Ich habe mit aller Entschlossenheit und Überzeugung für unsere Ziele gekämpft, ich wäre dafür auch gestorben, und viele meiner Freunde wurden ja auch getötet», erzählt McKenna in seinem kleinen Reihenhaus.

«Aber während wir töteten und selber getötet wurden, hat unsere Führung mit den Briten verhandelt. Jahrelang haben sie uns im Unklaren gelassen.» Schon lange vor Beginn der Gespräche hatten Sinn Féin und der britische Geheimdienst Verhandlungen aufgenommen; für McKenna, der heute an einer Doktorarbeit sitzt, war das nicht akzeptabel. «Die haben uns verheizt. Führt weiter Krieg, haben sie uns gesagt. Dabei war er für sie schon vorbei.»

Solch elitäres Vorgehen wollte er nicht hinnehmen. «In der republikanischen Bewegung entscheiden eine Handvoll Leute über alles. Die Mitglieder bleiben aussen vor. Noch heute denkt der IRA-Mann an der Basis, der Krieg gehe demnächst weiter.» Also sei er ausgetreten. Und das geht so einfach? «Die sind froh, wenn sie Kritiker los sind.»

Wofür sterben?

Auch wenn inzwischen Welten sie trennen – in diesem Punkt sind sich McKennna und Francie Mackey einig. Mackey ist seit zwanzig Jahren Sinn-Féin-Mitglied – und wartet jeden Tag auf seinen Rausschmiss. Die Führung habe schon eine ganze Reihe von Leuten aus der Partei geworfen, berichtet er im Gebäude des Grafschaftsrats von Tyrone. Auch bei ihm seien sie schon gewesen und hätten ihn aufgefordert, seine Meinung zu ändern. Dabei gehe es jetzt doch um die Grundfrage des irischen Republikanismus.

Francie Mackey gehört dem 32 County Sovereignity Committee an, das sich als Lobby-Gruppe versteht. Das Komitee entstand im letzten Jahr, als eine ganze Reihe von teilweise hochrangigen Sinn-Féin- und IRA-Migliedern die Organisationen verliess. Mackey, der seit fast einem Jahrzehnt für Sinn Féin im Grafschaftsrat von Tyrone sitzt, wollte nicht austreten. «Das Komitee versteht sich als Lobbygruppe, nicht als Partei», sagt er. Seine Hauptkritik besteht darin, dass Sinn Féin mit dem Abkommen den britischen Anspruch auf Nordirland anerkenne, also die Teilung Irlands hinnehme. Das verstösst in der Tat gegen alle republikanischen Prinzipien. Aber was wäre die Alternative gewesen? «Ist Bobby Sands etwa für grenzüberschreitende Gremien gestorben», fragt Mackey zurück. Von Bobby Sands, der den 1981er Hungerstreik anführte, ist in letzter Zeit wieder häufiger die Rede – vor allem dank seiner Schwester Bernadette Sands-McKevitt, die das 32er Komitee mitbegründet hat und in der Bewegung grosses Ansehen geniesst.

Die Kritik am «Ausverkauf» (Mackey) nimmt zu. Teile der IRA sollen mittlerweile dem 32er Komitee beigetreten sein. Damit hätte es – falls es wollte – die Kapazität, den politischen Prozess in die Luft zu sprengen; ein, zwei grosse Bomben, die ohne Vorwarnung detonieren, genügen. Doch noch warten alle den Sinn-Féin-Parteitag an diesem Wochenende ab.

Trimbles «Verrat»

Ebenfalls an diesem Wochenende wird sich zeigen, ob David Trimble, der Vorsitzende der Ulster Unionist Party (UUP), politisch überlebt: Dann entscheidet deren grosser Rat über das Abkommen. Die ersten Abstimmungen im Parteivorstand hat Trimble knapp gewonnen, doch die Unterhausabgeordneten der Partei stehen mehrheitlich gegen ihn. Auch die Grand Orange Lodge, die Massenorganisation der protestantischen Vorherrschaft in Nordirland, misstraut dem Abkommen. Auch hier ist von «Verrat» die Rede: Trimble habe viel zu viele Zugeständnisse gemacht.

Umstritten ist im protestantischen Lager vor allem der künftige Nord-Süd-Ministerrat. Zwar wird er keine Vollmachten haben; das zu verhindern ist Trimble problemlos gelungen, zumal an einem Ministerrat, der den Kern einer gesamtirischen Regierung in sich bergen könnte, in Tat und Wahrheit auch London und Dublin kein allzu grosses Interesse haben.

Für die grosse Mehrheit der UnionistInnen hat Trimble trotzdem die Tür geöffnet, einen Spalt weit zwar nur, aber das ist immer noch zuviel, wenn man sich umzingelt sieht. Pauline Gilmour zum Beispiel, Sprecherin eines «Bürgerrechtskomitees von Ulster», sieht in dem Deal nur Ungeheuerlichkeiten. Dass «IRA-Terroristen demnächst frei her- umlaufen» könnten, dass «IRA-Leute» bald in einer nordirischen Regionalregierung mitreden könnten – das geht ihr genauso gegen den Strich wie die «Einmischung einer feindlichen Macht in unsere Angelegenheiten».

Mit der «feindlichen Macht» (gemeint ist Dublin) haben auch die anderen loyalistischen Parteien, die an den Verhandlungen teilnah- men, so ihre Schwierigkeiten. Aber sie, die nach eigenem Verständnis viel mehr für den Erhalt ihres protestantischen Staates getan haben als die «bürgerlichen Schwätzer», sehen das Gesamtwerk positiv. Erstens kommen mit den Reformen auch die gefangenen Mitglieder ihrer Killerkommandos frei, zweitens wissen sie: «The union is safe» – die Union mit Britannien ist ausser Gefahr.

Einem so besessenen Machtmenschen wie Pastor Ian Paisley reicht das natürlich noch lange nicht. Einen kleinen Höhepunkt bot seine Pressekonferenz am Rande der Verhandlungen. Da beschimpften ihn nämlich ausgerechnet jene Leute, die er mit seinen endlosen Tiraden gegen Roms Knechtschaft einmal schwer beeindruckt hatte. Ob er denn jemals «gedient» habe, wollte einer wissen; woher er denn sein schönes Haus habe, fragte der nächste; er sei nur noch ein «Dinosaurier», schimpfte ein Dritter. Sie alle kamen aus der Delegation der loyalistischen Parteien. So langsam mehren sich die Anzeichen dafür, dass sich die mentale Wagenburg des unionistischen Lagers auseinanderschiebt.

In der Zitadelle

Aber es gibt Orte, in denen die Reihen noch fest geschlossen sind. In Portadown zum Beispiel, Zitadelle des Protestantismus, wollen Mark Proctor und Graham Emerson von Frieden nichts wissen. Von dem sei hier nichts zu sehen, sagen sie. Für Proctor gibt es «da draussen» weiterhin «Mörder, die uns in ein vereinigtes Irland zwingen wollen».

Die Politiker und auch die urbanen Loyalisten von Belfast seien weich geworden. Hier in der Grafschaft Armagh aber gelte noch die Parole «No Surrender», «keine Unterwerfung». Portadown ist die Hochburg der Loyalist Volunteer Force (LVF), in der sich jene LoyalistInnen zusammengefunden haben, die den Verhandlungsprozess ablehnen. In diesem Jahr hat die LVF mindestens fünf Menschen getötet. Weitere Aktionen sind angekündigt.

Noch denken die Meinungsforscher, dass die nordirische Bevölkerung dem Deal im Referendum am 22. Mai zustimmt. Wahrscheinlich verliert Ian Paisley diese Schlacht. Aber er hat schon zahlreiche Grosskundgebungen angekündigt. Doch auch die britische Regierung ist in Sachen Propaganda beschlagen: Die Plakate hängen schon, Pop-Konzerte sind geplant, US-Präsident Bill Clinton hat sein Kommen zugesagt. Wie gut die PR funktioniert, zeigte sich kurz vor der Endphase der Verhandlungen. Ende März verlangte die Uno-Menschenrechtskommission UNHRC von der britischen Regierung die Untersuchung der neun Jahre zurückliegenden Ermordung eines nordirischen Rechtsanwalts, dem Kontakte zur IRA nachgesagt worden waren. Der UNHRC-Sonderbeauftragte wollte eine Kollaboration von britischer Regierung, nordirischer Polizei und loyalistischen Paramilitärs nicht ausschliessen. London lehnte eine Untersuchung ab; die Medien zeigten wenig Interesse: Schliesslich ging es gerade um den grossen Frieden. Und den habe ihre Regierung zustande gebracht, die stets neutrale Vermittlerin.


* Die KatholikInnen Nordirlands sind mehrheitlich nationalistisch (für die irische Nation) oder republikanisch (Kampf für eine vereinigte irische Republik) eingestellt. Die ProtestantInnen sind praktisch alle für die Union mit Britannien, die Militanteren kämpfen loyal (zur Krone) für die Beibehaltung der Union. (pw)