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Nordirland: Abschied von Thatcher

Freude und verhaltene Trauer

19. April 2013 | In Nordirland reagierten die Menschen – wie auch anderswo im Vereinigten Königreich – höchst unterschiedlich auf Margaret Thatchers Tod.

Plötzlich war er da, am Tag vor der pompösen Trauerfeier für die bisher einzige Premierministerin des Vereinigten Königreichs. Hoch oben, an den Abhängen des Black Mountains, prangte der Spruch «Thatcher, the Real Criminal» (Thatcher, die wahre Kriminelle), in riesigen Lettern geschrieben und weit über Westbelfast hinaus sichtbar. Da hatte sich jemand die Mühe gemacht, auf eine ganz besondere Art der konservativen Regierungschefin zu gedenken, die am 8. April 2013 im Alter von 87 Jahren gestorben war.

Thatcher, eine Kriminelle? Für die irischen RepublikanerInnen ist der Gedanke gar nicht so abwegig. Schliesslich war es Thatcher gewesen, die kurz nach Beginn ihrer Amtszeit bockelhart blieb und den hungerstreikenden Gefangenen in Long Kesh, dem nordirischen Gefängnis, keinen Millimeter entgegen kam. Sie hatte war nicht beschlossen, den republikanischen Häftlingen den politischen Status zu entziehen; das hatte die vorherige Labourregierung getan. Aber sie war es gewesen, die in den inhaftierten Mitgliedern der IRA und der Irish National Liberation Army (INLA) nur «Kriminelle» sah. Daraufhin traten 1980 und 1981 eine ganze Reihe von irisch-republikanischen Gefangenen in einen Hungerstreik, in dessen Verlauf zehn Menschen starben.

Britische Todesschwadrone

Thatcher habe stets nur eine militärische Lösung des Nordirlandkonflikt gesucht, sagen die Leute im katholischen Westbelfast noch heute. Diese Einschätzung ist nicht ganz von der Hand zu weisen: Während ihrer Amtszeit intensivierten die britische Armee und die nordirische Polizei ihre Shoot-to-kill-Taktik: Sie erschossen auch dann republikanische KämpferInnen, wenn man sie hätte festnehmen können.

Ausserdem bediente sich die britische Regierung protestantisch-loyalistischer Paramilitärs, die oft willkürlich, manchmal aber auch gezielt republikanische GegnerInnen aus dem Weg räumten. So ist bis heute nicht offiziell geklärt, wer den Auftrag zur Ermordung des republikanischen Menschenrechtsanwalts Pat Finucane gab. Es deutet aber alles darauf hin, dass die Anweisung, zumindest aber die Anleitung dazu von den britischen Sicherheitskräften kam. Und die wurden von ganz oben gedeckt.

Der Fall Finucane ist bei weitem nicht der einzige. Die Sicherheitskräfte schafften es sogar, mit Hilfe von Informanten, die sie in die IRA eingeschleust hatten, wichtige IRA-Mitglieder auszuschalten, also erschiessen zu lassen. Mit anderen Worten: Während Thatchers Amtszeit agierte der britische Staat zunehmend terroristisch. Die britischen Truppen und Geheimdienste agierten zwar nie so neutral, wie die bürgerlichen Medien das seinerzeit gemeinhin darstellten. Aber unter Thatcher hatten sie freie Hand.

«Alle Iren sind Lügner»

So wundert es nicht, dass derzeit an mehreren Stellen Westbelfasts Anti-Thatcher-Sprüche zu sehen sind (siehe die Fotos). Doch abgesehen davon blieb es – bis auf ein paar stille Freudebekundungen – ruhig. In Derry hingegen, der zweitgrössten nordirischen Stadt, kam es seit Thatchers Tod immer wieder zu Auseinandersetzungen. Das hat vor allem damit zu tun, dass in Derry nicht allein die ehemalige IRA-Partei Sinn Féin den Ton angibt, die seit Jahren in der nordirischen Regionalregierung sitzt. Im nordirischen Nordwesten verfügen auch Gruppierungen über Einfluss, die der Sinn-Féin-Politik kritisch gegenüberstehen.

So lud am Mittwoch, als Thatchers Sarg von Militärs in die St.-Paul's-Kathedrale getragen wurde, eine militant-republikanische Organisation zur einer «Party» ein, die eher einer Schmähung glich: Man verbrannte ein Bildnis der konservativen Hardlinerin – und klopfte auch noch Sprüche wie: «Fahr zur Hölle, Maggie! Und grüsse dort Airey». Der konservative Abgeordnete Airey Neave war ein enger Freund Thatchers, bevor ihn 1979 eine Autobombe der INLA zerrissen hatte.

Die Erinnerung an das Attentat auf Neave kam nirgendwo gut an. Hätte Thatcher mit ihm an der Seite eine etwas andere Politik verfolgt? Immerhin war Neave ein respektabler Politiker gewesen, einer von den eher bedächtigen, eher liberalen Konservativen. Und mithin einer, der ihr – aufgrund seiner eigenen Kriegserfahrung – etwas mehr Vorsicht hätte empfehlen können. Zum Beispiel bei Sätzen wie: «Traue den Iren nie, das sind alles Lügner!» Das, sagte diese Woche Peter Mandelson, habe ihm Thatcher geraten, als er 1999 das Amt des britischen Nordirlandministers übernahm.

Fahnen auf halbmast

Auch die Menschen auf der anderen, der protestantisch-unionistischen Seite waren mit Thatcher nicht glücklich. Lange Zeit hielten unionistische PolitikerInnen die Premierministerin für eine der ihren: unnachgiebig, kompromisslos. Hatte sie nicht während des republikanischen Hungerstreiks gezeigt, auf wessen Seite sie stand? Und war es der IRA 1984 nicht fast gelungen, die Regierungschefin am Rande des Tory-Parteitags in Brighton in die Luft zu sprengen?

Doch dann unterzeichnete Thatcher Ende 1985 nach Geheimgesprächen mit der irischen Regierung das Anglo-Irische Abkommen, das Dublin ein bisschen Mitsprache in nordirischen Belangen einräumte. Die unionistische Gemeinde war entsetzt. Dass überhaupt verhandelt wurde! Noch dazu mit dem Feind im Süden, dessen Verfassung Anspruch auf ganz Irland erhob! Und dass sie nicht davon wussten! In ganz Nordirland kam es zu Protestkundgebungen und Massendemonstrationen, an denen bis zu 100.000 ProtestantInnen teilnahmen, zu Streiks und Anschlägen auf nordirische PolizistInnen, zudem erzwang ein Rücktritt aller unionistischer Unterhausabgeordneten eine Reihe von Nachwahlen.

Doch alle Proteste nützten nichts. Und auch nichts die Gebete, die der Prediger Ian Paisley gen Himmel schickte: Gott möge «diese böse, heimtückische und lügnerische Frau» bestrafen. Das Anglo-Irische Abkommen bewirkte zwar nur wenig, aber immerhin: Zum ersten Mal seit dem Sunningdale-Abkommen 1973 hatte eine britische Regierung öffentlich zugestanden, dass die Republik Irland eine Rolle bei der Lösung des Konflikt spielen könnte.

Thatchers Rolle dabei ist älteren Unionistinnen und Loyalisten noch gut in Erinnerung. Viel zu betrauern gäbe es da nicht, sagen manche von ihnen. Aber wie es in Nordirland halt so ist: Wenn die einen sich über etwas freuen, ist die Sache in den Augen der anderen schlecht. Diese gegensätzliche Wahrnehmung sitzt so tief, dass die Reaktion reflexartig eintritt. Kaum gab es in Belfast und Derry die ersten Partys, zogen die LoyalistInnen die britischen Fahnen, die ihre Territorien markieren, auf halbmast.

Das hielt etwa drei Tage an. Dann flatterten die Fahnen wieder oben. Und am Black Mountain verschwand der Spruch ebenso schnell, wie er gekommen war. Ganz so wichtig wie in den achtziger Jahre ist Thatcher heute in Nordirland nicht mehr.

………

PS: Ganz anders begingen hingegen die Bergarbeiter im Norden Englands Thatchers Tod. Im kleinen Ort Easington (Grafschaft Durham) mit seiner einst mächtigen Zeche trafen sich zum ersten Mal seit vielen Jahren Miners, ihre Frauen und frühere SymphatisantInnen – um dem zwanzigsten Jahrestag der Zechenstilllegung zu begehen. Dieser Tag fiel just auf Thatchers Beerdigung. Und so feierten sie den Tod der grossen Gegnerin, zelebrierten aber vor allem ihre alte Solidarität (siehe dazu den Artikel im «Guardian»).

An Easington kann ich mich noch gut erinnern. Im Februar 1985 bin ich mit meinem Freund Huw Beynon ein oder zwei Mal frühmorgens von Durham aus nach Easington gefahren. Morgens waren Streikposten damals besonders wichtig, weil erste verzweifelte Miners wieder an die Arbeit zurückkehren wollten –was die anderen natürlich unterbinden mussten. Geschafft haben sie das allerdings selten: Die Polizei war in der Übermacht. Und trotzdem standen sie jeden Morgen draussen in der Eiseskälte und froren gottsjämmerlich in ihren dünnen Jacken und Turnschuhen, während die Bergarbeiter- und andere Frauen gespendete Lebensmittel in einer Suppenküche verarbeiteten.

Wer das je erlebt hat, weiss, dass es beim grossen Bergarbeiterstreik nicht um Wirtschaftlichkeit oder um die Zechen ging – es war ein Kampf der Werte, der da ausgetragen wurde. Die Solidarität und das Gemeinschaftsgefühl hier gegen den bewaffneten Individualismus und die Raffgier dort. Leider hat damals die falsche Seite gewonnen. (pw)