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Indien: Die Nationalisten rüsten auf

Im Namen der Kuh

14. März 2018 | Bis 2021 soll Indien muslim- und christenfrei werden, fordern hindu-nationalistische Politiker. Eine absurde Idee? Doch die Regierung toleriert die Pogrome selbsternannter «Kuhschützer».

Text: Joseph Keve, Haryana; Übersetzung: Pit Wuhrer

Zuerst wollte uns niemand helfen, als wir nach Khandawali fragten, einem nahegelegenen Weiler. Der Oberverkäufer schüttelte den Kopf, Wartende an einer Bushaltestelle zuckten mit den Schultern, der Verkäufer im Handy-Laden gab sich unwissend. Schließlich bekamen wir doch noch einen Hinweis: «Am Stadtrand findet Ihr sicher jemanden mit Bart und Takke», der muslimischen Gebetsmütze. Guter Tipp. Denn dort wusste ein Bärtiger sofort, was wir wollten: «Ihr sucht das Haus von Junaid Khan, der im Zug getötet wurde? Ich kann Euch hinfahren lassen.»

«Innerhalb einer halben Stunde war alles vorbei», erzählt Hashim Khan, einer der fünf älteren Brüder von Junaid, im oberen Stock des baufälligen Hauses. Er sass im vergangenen Sommer mit Junaid und zwei Freunden im Zug von New Delhi nach Ballabhgarh, einer benachbarten Stadt im Bundesstaat Haryana, als fünfzehn Männer den Waggon betraten, den vier Jugendlichen die Sitzplätze streitig machten, an ihren Bärten rissen, sie als Kuhfresser beschimpften. Mitten im Handgemenge «hat dann einer ein Messer gezogen und Junaid in die Brust gestochen», sagt Hashim Khan, «und uns am nächsten Bahnhof aus dem Zug geworfen». Junaid verblutete in seinen Armen.

«Unsere Welt ist eingestürzt», erzählt Jalaluddin Khan, Junaids Vater, während ihm die Tränen über die Wangen laufen, «ich habe einen Herzinfarkt bekommen, meine Frau leidet immer noch unter dem Schock, wir können nicht mehr arbeiten». Junaid sei ein guter Junge gewesen, er habe den Koran auswendig gekannt, wollte Priester werden. Immerhin: Der Haupttäter sei nach zwei Wochen gefasst worden.

Im Falle von Pehlu Khan war das anders. Hundert Kilometer westlich von Khandawali, immer noch im Bundesstaat Haryana, treffen wir in vorwiegend muslimischen Dorf Jaisinghpur auf die Hinterbliebenen. «Ihr habt sicher von dem Vorfall gehört und wisst, dass die Polizei alle Verdächtigen wieder laufen liess», sagt Khans Sohn Mohammed Arif. In der Region leben die meisten Familien von der Viehwirtschaft; Pehlu Khan war ein Milchbauer, der im Frühsommer 2017 mit sechs Kollegen in Jaipur (Bundesstaat Rajastan) Kühe und Kälber gekauft hatte, auf dem Rücktransport aber von neuen jungen Männern auf Motorrädern gestoppt wurde. «Wir zeigten ihnen die Kaufpapiere, aus denen hervorgeht, dass wir die Tiere für die Milchproduktion erworben hatten», sagt Irshad Khan, Pehlu Khans ältester Sohn, der damals dabei war. Trotzdem hätte die Gruppe auf sie eingeprügelt, innert kurzer Zeit sei eine etwa 150-köpfige Menge mit Stöcken und Eisenketten dazu gestossen. Am Schluss lagen die Muslime verletzt am Boden; Peblu Khan starb nach zwei Tagen an seinen Verletzungen. Nur einer entkam dem Lynchmob: der Fahrer des Viehtransporters, ein Hindu. Den hatten die Angreifer weggeschickt.

Obwohl jemand den Tathergang an der Hauptstrasse Jaipur-Delhi mit dem Handy gefilmt hatte und das Video im Web zirkulierte, obwohl es viele Zeugen gab, stellte die Polizei von Rajastan die Ermittlungen ein – «aus Mangel an Hinweisen». Mehr noch: Rajastans Innenminister Gulab Chand Kataria beschuldigte Peblu Khan des Viehschmuggels und pries die Wachsamkeit der Bevölkerung. Sadhvi Kamal Didi wiederum, Präsident der Nationalen Kuhschützer-Brigade – einer Organisation mit guten Kontakten zur regierenden indischen Volkspartei Bharatiya Janata Party BJP –, lobte ebenfalls den Einsatz gegen die «Kuhmörder»: Das seien «Freiheitskämpfer», die «bald als Helden gefeiert werden».

«Wo bleibt da die Gerechtigkeit», fragt Mohammed Atif. «Die Polizei hat gegen uns ermittelt und nicht gegen die Angreifer. Wir sind von ihr und dem ganzen System verraten worden.» Das sieht auch Kavita Srivastava so, Präsidentin der People's Union for Civil Liberties, einer grossen Bürgerrechtsorganisation: «Die Polizei schützt die Täter, ihre Voreingenommenheit ist eklatant.»

Kuhschützer gegen Tierwohl

Mittlerweile ist in der Region rund um Jaisinghpur die Angst mit Händen zu greifen. Viele Bauernfamilien haben die Milchwirtschaft aufgegeben; innerhalb einer Woche nach Khans Ermordnung wurden über 42.000 Kühe und Kälber freigesetzt. Manche hatten die Behörden eingesammelt und vorübergehend in Ställe untergebracht, die meisten aber streunten ohne Futter und Wasser umher, viele verendeten in der Sommerhitze. Wenn die Regierung nichts unternehme, werde man das übrige Vieh (schätzungsweise 900.000 Tiere) vor die Ämter treiben, drohen jetzt die VertreterInnen der Meo, einer muslimischen Volksgruppe in Haryana. Auch andere sind wütend. Bei ihm stürme regelmässig die Polizei ins Lokal, unterstützt von Mitgliedern der 5000-köpfigen Kuhschützer-Brigade von Haryana, berichtet ein muslimischer Restaurant-Besitzer. «Sie beschlagnahmen die fleischhaltigen Mahlzeiten, fragen nach dem Inhalt, nehmen das Essen mit – und verzehren es hinterher. Wie soll man da noch ein Geschäft führen?» Der Polizei und den Hooligans gehe es doch gar nicht um das Rindfleisch, vermutet er: «Sie wollen nur alle einschüchtern, die ihre Ideologie nicht teilen.»

Dass es den Kuhschützern nicht ums Tierwohl geht, zeigt das Beispiel Rajastan. Dort ziehen nach Behördenangaben 13,3 Millionen im Stich gelassene Rinder durch die Gegend, und niemand kümmert sich um sie – abgesehen vom Hingonia Cow Rehabiliation Centre in Jaipur, eine zivilgesellschaftliche Einrichtung, die momentan 9000 Rinder betreut. Doch ihr fehlen die Mittel. «Jeden Tag krepieren dreissig Tiere», berichtet Uma Shankar, der im Zentrum arbeitet, «weil wir sie nicht pflegen könne, weil sie nicht genügend Futter haben, weil sie in ihrer Not sogar Plastik fressen». Von den hindu-nationalistischen Gruppen käme keinerlei Unterstützung, klagt er, im Gegenteil: Erst kürzlich hätten BJP-Aktivisten dreissig Viehtransporter gekapert und deren Fracht beim Zentrum abgeladen. «Dabei ist Hingonia für aufgegebene Tiere zuständig», sagt Shankar, «und nicht für Vieh, das den rechtmässigen Eigentümern gestohlen wurde».

Kulturkampf gegen «anti-nationale Kräfte»

Es gab auch früher Lynchmorde wie dem an Pehlu Khan. Seit dem Regierungsantritt von BJP-Ministerpräsident Narendra Modi 2014 haben gewaltsamen Attacken aber deutlich zugenommen. In den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres lag die offizielle Zahl bei 44, möglicherweise waren es aber mehr; in den Jahren 2012 und 2013 kam es hingegen jeweils nur zu einem vergleichbaren Angriff.

Das Muster ist dabei stets dasselbe: Zuerst kursiert ein Gerücht, dass irgendwer Rinder transportiert oder schlachtet, dann attackieren die Gau Rakshaks, die sogenannten Kuhschützer, die oft entlang der Hauptstrassen patroullieren. Sie schlagen Händler, Lastwagenfahrer oder Bauern halb oder ganz tot, die Polizei schaut weg oder verhaftet die Opfer, regionale BJP-Politiker verurteilen die Angegriffenen, die Geschichte kursiert ein paar Tage durch die Medien, dann verschwindet sie aus den Schlagzeilen. Zurück bleiben die – auch später noch von der Polizei drangsalierten – Angehörigen, die von einem Amt zur nächsten Behörde rennen und verzweifelt Aufklärung verlangen.

Das Ganze hat System: Die Regierungspartei BJP ist ideologisch eng mit der 1925 gegründeten paramilitärisch organisierten Rashtriya Swayamsewak Rangh (RSS) verbunden, einer Freiwilligenarmee, die eine exklusive Hindunation schaffen will. In ihrer Geschichte florierte die RSS immer dann, wenn sie die indische Gesellschaft in «wir» und «die anderen» spalten konnte. «Wir», das sind die Hindus; «die anderen» sind die muslimischen und christlichen InderInnen (die 16,5 Prozent der indischen Bevölkerung ausmachen). «Die Christen und die Muslime müssen die Hindukultur anerkennen, wenn sie wollen, dass wir Hindus sie als Inder betrachten», sagte zum Beispiel RSS-Chef Rajendra Singh 1998 an einer Kundgebung. Die Vorgehensweise beschreibt eine Broschüre aus demselben Jahr so: «Besetzung von Gebetsstätten und Schulen der anderen Religionen, körperliche Attacken auf die Andersgläubigen, Einsatz demoralisierender Methoden.»

Gewalt sei die «einzige Sprache, die diese spalterischen, anti-nationalen Kräfte verstehen», sagte vor Jahren der führende BJP-Politiker Vinay Katiyar. 2014 gab ein anderer prominenter Hindu-Fundamentalist sogar ein konkretes Ziel vor: «Wir werden bis Ende 2021 Indien christen- und muslimfrei machen», versprach er. Kurz danach (im Jahr 2016) kam es – offiziellen Angaben zufolge – zu 441 Attacken auf christliche Einrichtungen und Priester; von Januar bis September 2017 waren es bereits 365, Tendenz steigend. Andere trifft es ungleich härter: 87 Prozent der von «Kuhschützern» Getöteten, so die Tageszeitung «Hindustan Times», waren Muslime.

Ablenkungsmanöver

Es geht um weitaus mehr die verehrte Kuh. Es geht um eine Neudefinition der immer noch säkularen indischen Gesellschaft – die Geschichte soll umgeschrieben, dem Staat soll eine hinduistische Verfassung verpasst, die Moscheen und Kirchen sollen in Tempel verwandelt werden. Der «Feind», fordern BJP-Nationalisten und ihre RSS-Truppen, müsse endlich für alle Vergehen zur Rechenschaft gezogen werden – für die Invasion der Moguln im 16. Jahrhundert, für den Bau des muslimischen «Schandmals» Taj Mahal, für die Herrschaft der holländischen, portugiesischen und britischen Kolonialmächte, für die Abspaltung Pakistans, für die lange Regierungszeit der Nehru-Gandhi-Dynastie, für die Terroranschläge pro-pakistanischer Gruppen, für den Kaschmir-Konflikt … Die Liste wächst mit jedem Tag.

Und die Regierung lässt die Fusstruppen des Umbaus gewähren. Ihr kommen die Aktionen der Kuhschützer zupass, die nach dem Mord an Junaid Khan eine breite, wenn auch kurzlebige Protestbewegung entfacht haben. Denn Modi kann nicht liefern, was er versprochen hat – mehr Wirtschaftswachstum, mehr Investitionen, mehr Wohlstand auch für die Armen. Der wirtschaftliche Zuwachs liegt unter dem der vorigen Kongressregierung, Arbeitsplätze entstehen – wenn überhaupt – nur im informellen Sektor, ausländische Direktinvestitionen beschränken sich auf die Übernahme lukrativer indischer Unternehmen, die Landwirtschaft steckt in der Krise. Da lenkt die Debatte um die Aktionen jener ab, die den hindu-nationalistischen Durchmarsch herbeiprügeln wollen.

Und die Angehörigen von Pehlu Khan? Die haben sich auf den beschwerlichen Weg zum Obersten Gerichtshof begeben, von dem sie sich Gerechtigkeit versprechen. Die höchste juristische Instanz des Landes hat sich bisher dem Druck der Regierung widersetzen und ihre Unabhängigkeit und Integrität bewahren können. «Unter der BJP-Regierung haben die Repression, die Überwachung und die Wut auf Andersdenkende enorm zugenommen», sagt Colin Gonsalves, der für seine Unerschrockenheit und seinen Einsatz 2017 den Alternativen Nobelpreis zugesprochen bekam. Er ist einer der prominentesten Anwälte am Gerichtshof. Für die Khans gibt es noch Hoffnung.


PS: Dieser Beitrag erschien auch in der Wochenzeitung WOZ vom 15. März 2018.