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Indien: Modis Kampf gegen die Zivilgesellschaft

Die Handlungsräume schrumpfen

7. Dezember 2017 | Über Jahrzehnte hinweg waren die vielfältigen Basisinitiativen eine Art Markenzeichen für das demokratische Indien. Jetzt aber schnürt ihnen die Regierung die Luft ab – und kaum jemand wehrt sich. Warum?

Text: Joseph Keve; Übersetzung: Pit Wuhrer

Mitte Oktober 2017. In Karimati, einem Dorf des indischen Bundesstaats Jharkhand, stirbt das elfjährige Adivasi-Mädchen Santoshi Kumari an Unterernährung; es war verhungert. «Kurz vor ihrem Tod hat sie noch um Reis gebettelt», erzählt ihre Mutter danach einer Lokalzeitung, «aber ich konnte nichts zu essen besorgen, weil niemand unsere bisherigen Lebensmittelkarten akzeptiert hat». Seit einigen Monaten müssen die Karten, die den Bezug subventionierter Lebensmittel erlauben, mit einer Identitätsnummer versehen sein.

Dieser Entscheid der Zentralregierung sorgt momentan überall in Indien für Aufregung. In Gulisandra, einem Weiler im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu, kümmert sich Parbati Ramakrishna seit langem um die vielfach benachteiligten Adivasi, die Nachfahren der indischen UreinwohnerInnen. Derzeit ist die 38-Jährige vor allem damit beschäftigt, den Adivasi zu einer Identität zu verhelfen, zu einer Aadhaar-Karte mit der zwölfstelligen Nummer, ohne die mittlerweile in Indien niemand eine Wohnung findet, eine Bewilligung bekommt oder billige Lebensmittel erhält. Über eine Milliarde Menschen seien inzwischen registriert, sagt die Regierung; auf dem Land verläuft der Prozess jedoch sehr schleppend.

«Vor sechs Monaten haben wir die Anträge von zwanzig Familien dem Distriktverwalter übergeben», erzählt Ramakrishna. «Der hat sie an einen Steuerbeamten weitergeleitet und der hat sie dem Dorfoberhaupt vorgelegt, der die Papiere unterzeichnen muss, bevor sie wieder an das Steueramt gehen.» Doch der Dorfchef verlange für seine Unterschrift tausend Rupien – pro Kopf. Die Leute hier aber sind Tagelöhner und auf die Grundbesitzer angewiesen, «ohne die sie kein Obdach, keine Kleidung, kein Trinkwasser haben. Sie können nicht einmal hundert Rupien zahlen». Aber sie lasse nicht locker, sagt die Aktivistin, deren Projekt vom Schweizer Hilfswerk Fastenopfer unterstützt wird.

Früher waren sie die Guten

Parbati Ramakrishna und die Menschen, für die sie sich einsetzt, gehören zum anderen Indien: Zu einem Indien jenseits der Schlagzeilen über die «neue Grossmacht» und die beständig wachsende Zahl der Dollar-Milliardäre. Zu einem Indien, das laut dem jüngsten Human Development Report auf den 131. Platz (von 188) abgesunken ist, in dem laut Angaben der Welternährungsorganisation FAO immer noch 200 Millionen hungern und wo über die Hälfte der Frauen an Blutarmut leidet. Und zu einem Indien, in dem AktivistInnen und Hilfsorganisationen zunehmend schikaniert und bedroht werden.

Das war nicht immer so. Bis etwa zur Jahrhundertwende waren Basisbewegungen und nichtstaatliche Organisationen (NGO) in Indien durchaus anerkannt. In den Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit gab es kaum PolitikerInnen, die ehrenamtliches Engagement nicht lobten: Hatte nicht Mahatma Gandhi mit seiner zivilgesellschaftlichen Beharrlichkeit die Macht der britischen Kolonialherren gebrochen?

Ruhten nicht auf sozialen Initiativen wie Narmada Bachao Andolan (die das gigantische Staudammprojekt am Narmada-Fluss verhindern wollte) die Hoffnung von Zigtausenden? Natürlich gab es auch früher Phasen, in denen jede Opposition von unten verfolgt wurde, etwa während des von Indira Gandhi ausgerufenen Ausnahmezustands (1975-77). Sowohl die Kongresspartei wie auch linke Regionalregierungen sprangen oft wenig zimperlich mit Widerstandsbewegungen um. Doch so systematisch wie Narendra Modi ging noch kein Ministerpräsident vor.

Der erste Warnschuss fiel nach Modis Amtsübernahme im Mai 2014. Kaum hatte seine hindunationalistische Volkspartei BJP die Mehrheit gewonnen, erstellte das Intelligence Bureau, der indische Nachrichtendienst, eine interne Studie, die bald in die Medien gelangte. Ihr zufolge bedrohten die NGO die «wirtschaftliche Sicherheit des Landes»; ihre Aktivitäten würden das Bruttoinlandsprodukt «jährlich um zwei bis drei Prozent» schmälern. Neue AKWs, Kohlekraftwerke, Uranminen, Staudämme, Industrieparks, Biotechnologie: Gegen all das würden Greenpeace, Action Aid, Amnesty International und zahlreiche andere Organisationen streiten – und dabei im Dienste «ausländischer Interessen» und «westlicher Regierungen» handeln.

Die Jahre des Booms

Stories über die angebliche Agententätigkeit engagierter Organisationen sind nicht neu. Überall tischen autokratische Regimes ähnliche Geschichten auf – in Russland, in China, in der Türkei. In Indien fielen sie auf fruchtbaren Boden. Das hat auch mit dem Aufstieg und Niedergang der indischen NGOs in den letzten vier Jahrzehnten zu tun. Und mit dem Einfluss internationaler Geberorganisation.

Ein kurzer Blick zurück: In den anderthalb Jahren von Indira Gandhis Ausnahmezustand waren viele, zumeist lokale Widerstandsgruppen entstanden, die sich dem Abbau der Bürgerrechte widersetzen und gegen die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen opponierten. 1977 wurde Gandhi abgewählt; eine bunt zusammengewürfelte linke Janata-Partei, der viele oppositionelle Gruppierungen angehörten, übernahm die Amtsgeschäfte. Die neue Regierung lancierte ein breites Erwachsenenbildungsprogramm auf der Basis von Paolo Freires «Pädagogik der Unterdrückten», die sozial aktive Gruppen in Indien seinerzeit ebenso beeinflusste wie viele Hilfswerke im Westen: Hier wie dort engagierten sich Leute, die sich mit Karl Marx beschäftigt hatten, Freires Ansichten über die Notwendigkeit partizipatorischer Prozesse teilten und teilweise auch von der Befreiungstheologie geprägt waren.

In den achtziger Jahren entstanden so Tausende von NGOs, Hunderte von Bildungseinrichtungen, zahlreiche Colleges für Sozialarbeit und viele Forschungsinstitute – getragen von Bürgerrechtsorganisationen, Gewerkschaften, Lehrer- und Studentinnenverbänden und selbst Teilen des Beamtenapparats. Sie alle verband eine linke Perspektive, die Vision einer gerechten, freien Gesellschaft – und eine gute Portion Romantizismus.

Gleichzeitig entdeckten mit der neoliberalen Wende, die zuerst in den USA und Britannien begann, Hilfswerke, westliche Regierungen und internationale Institutionen wie Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF) die «privaten Organisationen». Die NGOs, hiess es in einem Handbuch der Weltbank 1988, seien in der Lage, «arme Gemeinschaften und abgelegene Regionen zu erreichen, in denen Regierungen nur beschränkt oder ineffizient wirken, und die Beteiligung der örtlichen Bevölkerung ermöglichen». Ihre «geringen Kosten, ihr Einfallsreichtum, ihre Anpassungsfähigkeit» und ihre Kenntnisse in praktisch allen Bereichen – Bildung, Gesundheit, Ernährung, Fürsorge, Unterbringung – seien, so die Weltbank, von grossem Nutzen. Und so setzte ein Geldregen ein, der die indische NGO-Szene dramatisch veränderte: Internationale Vernetzung wurde für viele Organisationen wichtiger als die Veränderung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse.

Macht, Geld und Einfluss

Zu den internationalen Gebern, die da plötzlich Indien entdeckten, gehörten die Open Society Foundation, die McArthur Foundation, die Rockerfeller Foundation oder die Ford Foundation (alles US-Stiftungen), die die ökonomische Entwicklung stärken und Kapitalinteressen sichern wollten. Oder World Vision und Tearfund, die – mehr oder weniger verbrämt – religiöse Ziele verfolgten. Verstärkt kamen auch sozial engagierte Organisationen wie Oxfam (Britannien), Care (USA), Swissaid oder Community Aid Australia, die progressive Konzepte vertraten, sich für arme und diskriminierte Bevölkerungsgruppen einsetzten und sich wie Amnesty International und Greenpeace für Bürgerrechte und Partizipation engagierten.

Das krempelte die bisherige NGO-Szene völlig um: Selbst NGOs, die bisher auf ihre Eigenständigkeit bedacht waren, nahmen die Hilfe gerne an. Sie zogen von Dorfhütten in Büros und danach in Residenzen um, sie stiegen von Velos ab und in Jeeps ein, sie stellten die Schreibmaschinen in die Ecke und schafften sich Satellitentelefone an, weiteten ihre Tätigkeit aus, rekrutierten neues Personal, eröffneten neue Beratungszentren. Die Geberagenturen wiederum schickten ihre Berater und Expertinnen, die ihrerseits weitere Untersuchungen, Bildungsmassnahmen, Studien und Programme empfahlen.

Viele Geberorganisationen standen zudem unter dem Zwang, ständig neue Projekte zu entwickeln und gleichzeitig exklusive Beziehungen zu den ausgewählten NGOs zu unterhalten. Man richtete sich ein, arrangierte sich mit den lokalen Machtstrukturen, schuf hierarchische Strukturen und zentralisierte die Organisation. Und erwartete Berichte mit bunten Bildern auf Hochglanzpapier, die dem Publikum zu Hause vorgelegt werden konnten. Viele kleine NGOs auf dem Land, die die Bevölkerung abseits der Zentren mit einfachen Mitteln unterstützten, fielen durch das Raster – manchmal sogar, weil ihre «Spendenaufnahmefähigkeit als zu gering» eingeschätzt wurde, mitunter auch, weil alle zwei bis drei Jahre Projekte und Programme wechselten.

Die Globalisierung hat diese Tendenzen verschärft und den Handlungsspielraum lokaler Initiativen weiter eingeengt. In einer kapitalistischen Wirtschaft, in der der Markt über Beziehungen bestimmt, den Konsum fördert und den Wettbewerb erzwingt, wird auch Entwicklungsarbeit von Marktkräften getrieben. Die Global Players unter den Hilfsorganisationen folgten. Gleichzeitig konzentrierten sich viele NGOs vor allem auf ihren organisatorischen Fortbestand. Nur sehr wenige waren noch bereit, diesen zu riskieren.

Ich erinnere mich noch gut an den Besuch einer aus den USA geförderten NGO Mitte der neunziger Jahre: Erst nach vier Security-Checks gelangte ich zum noblen Büro des Gesprächpartners, dessen Auto zur Flotte dicker Wagen gehörte, die direkt vor dem Eingang abgestellt waren. Einige der NGO-Hilfswerks-Kartelle wurden mit ihren enormen Ressourcen, ihrer Infrastruktur, ihrem Personal und ihrem Einfluss so mächtig, dass sie in manchen Regionen eine Art Parallelverwaltung bildeten; jedenfalls hatten sie ihre Füsse in vielen Türen – auch denen der Zentralregierung – und arbeiteten eng mit Parteien und Regionalregierungen zusammen. In den achtziger und neunziger Jahren gab es beispielsweise in den Bundesstaaten Andhra Pradesh und Orissa NGO-Konglomerate, deren Bosse – wahrscheinlich zu Recht – damit prahlten, dass sie über die nächste Regionalregierung bestimmen könnten.

Das führte zu politischen Konflikten, die Zentralregierung entzog manchen NGOs die Anerkennung, und so verlor dieses Geflecht an Macht und Selbstgefälligkeit ab 2010 an Einfluss. Viele der ganz grossen internationalen Geberorganisationen wie Compassion International oder die Ford Foundation haben Indien seither verlassen; andere senkten ihre Beiträge und reduzierten die Zahl ihrer Projekte. Mit ihnen verschwanden auch viele indische Gross-NGO; sie packten ein und räumten ihre schönen Verwaltungsgebäude. Kaum jemand trauert ihnen nach. Zurück blieben die engagierten, kleineren, basisnahen Initiativen, die entweder nie Hilfe von aussen in Anspruch nahmen oder stets darauf bedacht waren, im Einklang mit den Nöten und Bedürfnissen der Geschundenen zu handeln.

«Der Druck nimmt zu»

Gegen sie geht nun die Modi-Regierung vor – und das gleich mehrfach. Da ist zum einen der Foreign Contribution Regulation Act (FCRA). Dieses Gesetz, das ausländische Zuwendungen an indische Organisationen regelt, ist seit 1976 in Kraft; schon damals, zur Zeit der Ausnahmegesetze, sah Indira Gandhi in den NGO «Agenten fremder Kräfte». Angewandt wurde der FCRA auch von nachfolgenden Regierungen, die es als probates Mittel zu Kontrolle von Basisinitiativen betrachteten. Aber noch nie zuvor wurde das – zuletzt immer wieder verschärfte – Gesetz so willkürlich ausgelegt wie von der BJP. 2015 gingen die Einnahmen der NGO aus ausländischen Finanzquellen um dreißig Prozent zurück; allein im Jahr 2016 verloren rund 20.000 NGO ihre Lizenz. Selbst die Konten von Greenpeace India waren (wegen «Schädigung der wirtschaftlichen Interessen des Landes») eingefroren gewesen – bis der Supreme Court, das oberste Gericht des Landes, die Regierung zurückpfiff.

Eine weitere Strategie der Regierung besteht in der willkürlichen Verhaftung, Misshandlung und Verurteilung von DissidentInnen, denen Hochverrat, Aufruhr und Mitgliedschaft bei der maoistischen Guerilla der Naxaliten vorgeworfen wird. Das ist zwar ebenfalls nicht neu, wie der Fall des Arztes Binayak Sen zeigt, der zwischen 2007 und 2011 zwei Jahre lang im Gefängnis sass. Doch jetzt geht die Regierung in aller Schärfe gegen Oppositionelle vor. In den vergangenen Jahren wurden Tausende von AnwältInnen, Menschenrechtsaktivisten, Journalisten oder Wissenschaftlerinnen verfolgt, schikaniert und weggesperrt. Selbst die Erforschung von Armutsursachen wird nicht toleriert: Nandini Sundar zum Beispiel, Soziologieprofessorin in Delhi, oder Bela Bhatia, Anwältin und Honorarprofessorin in Bombay, wurden bei Studienaufenthalten in Adivasi-Bezirken von der Polizei schikaniert. Der vorläufig letzte in einer langen Reihe ist Professor GN Saibaba: Der behinderte, an einen Rollstuhl gefesselte Wissenschaftler wurde im März wegen «maoistischer Kontakte» zu lebenslänglich verurteilt.

Dazu kommen hindunationalistisch-paramilitärische Verbände, die im Sold von Grundbesitzern stehen oder als Mitglieder der BJP-Jugend für die «Hindu-Nation» gegen alle Andersdenkende vorgehen – und vor einigen Monaten Studierende an der Universität von Delhi verprügelten. GewerkschafterInnen, Feministinnen, LGBT-AktivistInnen, SozialistInnen, SozialarbeiterInnen: Sie alle haben die Hindunationalisten im Visier. Als beispielsweise Amnesty International India vor einem Jahr eine Kampagne gegen Menschenrechtsverletzungen in Kaschmir lancierte, ermittelte die Polizei auf Druck einer BJP-Organisation wegen Aufruhrs. «Rechtsverletzungen, Drohungen und Gewalt nehmen beständig zu», sagt Raghu Menon, Sprecher von Amnesty International im AI-Hauptquartier in Bangalore.

Kaum noch Freiwillige

Die Spielräume werden enger. Während sich früher das politische Establishment hin und wieder über unbotmässige Basisbewegungen aufregte und mit militärischer Gewalt in Kaschmir oder gegen die maoistischen Naxaliten vorging, trifft die Repression heute alle, die mit der Regierungspolitik nicht einverstanden sind, die die horrende soziale Ungleichheit beklagen und für die Bevölkerung mehr Mitsprache verlangen. Herrscht jetzt also Ruhe, zumal sich das gesellschaftliche Klima verändert hat, rassistische Übergriffe zunehmen und der Kampf gegen die Narmada-Staudämme mit der feierlichen Eröffnung des Hauptdamms im September endgültig verloren ging? «Die meisten Leute halten sich bedeckt, wir haben sogar Probleme, Freiwillige für unsere Beiräte zu finden», sagt Suman Sahei, Mitbegründerin des Agrarbündnisses Gene Campaign.

Andererseits gibt es immer noch genügend Menschen, die für politische Alternativen votieren. So hat vor zwei Jahren die Aam Aadmi Party, ein bunt zusammengewürfelter Haufen von Basis- und NGO-AktivistInnen, die Bundesstaatswahl von Delhi gewonnen, und bei der Wahl im Februar den zweiten Platz im Punjab erzielt. Und so manche fragen sich auch, wie das zusammenpasst: Einerseits blockiert Modi internationale Spenden an die NGO, andererseits lockt er mit einer neoliberalen Politik globale Finanzinvestoren ins Land. Vielleicht sollte ja beides gestoppt werden, wie es die Schriftstellerin Arundhati Roy vor einiger Zeit verlangte.

Und Parbati Ramakrishna? Ihre Miniprojekt bekomme nur etwas Geld vom basisorientierten Fastenopfer, sagt die Frau mit dem ansteckenden Enthusiasmus. Und irgendwann würden sie und die zwanzig Familien sich schon gegen den korrupten Dorfchef durchsetzen.