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Indien: Wirtschaftsliberalisierung im Einzelhandel

Walmart soll den Premier retten

1. Oktober 2012 | Die Regierung will Indien für ausländische Handelskonzerne öffnen und hat damit einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Dabei gäbe es durchaus Handlungsbedarf.

Text: Joseph Keve, Übersetzung: Pit Wuhrer

Der Dankesbrief kam ziemlich schnell. «Wir begrüssen die Entscheidung und danken der Regierung von ganzem Herzen für diese grossartige Initiative», schrieb Jean Noel Bironneau, Indien-Manager des französischen Handelskonzerns Carrefour, dem Handels- und Industrieminister Anand Sharma. Das war am vergangenen Freitag. Die indische Regierungskoalition der United Progressive Alliance (UPA) publizierte postwendend den Brief – als Beleg für die Richtigkeit ihrer Politik und um zu demonstrieren, wie gross das Investitionsinteresse ausländischer Unternehmen ist. Ob sie sich mit der Veröffentlichung einen Gefallen getan hat, ist jedoch ungewiss. Denn noch immer halten die Proteste gegen die geplante Liberalisierung des indischen Einzelhandels an. Erst am Montag demonstrierten wieder Zehntausende vor den Regierungsgebäuden in Neu-Delhi.

Mitte September hatte Premierminister Manmohan Singh von der Kongresspartei weitreichende Wirtschaftsreformen angekündigt. So wird die Regierung die staatlichen Subventionen für Diesel kürzen und ausländischem Kapital eine Minderheitsbeteiligung an der zivilen Luftfahrt erlauben. Vor allem aber, und das löste im ganzen Land Streiks, Demonstrationen und Protestkundgebungen aus, will sie internationalen Detailhandelskonzernen wie Walmart, Carrefour, Tesco oder Ikea einen Zugang zum indischen Markt (vgl. den Kasten «Gross und wachsend») verschaffen. Bisher waren Auslandsinvestitionen nur im Grosshandelsbereich (die sogenannten Cash-and-Carry-Märkte) oder von Unternehmen möglich, die – wie etwa Sportartikelhersteller oder Elektronikfirmen – ausschliesslich ihre eigenen Markenprodukte verkaufen und mindestens dreissig Prozent der Warenbestandteile in Indien beziehen.

Die Regierung begründete ihren überraschenden Schritt unter anderem mit dem Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (Gats), das Indien als Mitglied der Welthandelsorganisation WTO unterzeichnet hat und das das Land zum Abbau von Handelsbarrieren verpflichtet. Doch das war 1995 gewesen, und seither hat noch jede indische Regierung die Umsetzung von Gats hinausgezögert – auch weil der Druck von unten zu stark war. Allzu gross wären die Auswirkungen auf die rund fünfzig Millionen EinzelhändlerInnen und Beschäftigten im Detailhandel.

Ein Befreiungsschlag

Dass Singhs Kabinett sich plötzlich an alte Verpflichtungen erinnerte, hat weniger mit der WTO zu tun als mit der Dauerkrise der Zentralregierung; diese wird seit Monaten von zahlreichen Bestechungsskandalen geschüttelt. Das wurde auch im Ausland registriert. Singh sei ein «Underachiever», ein Minderleister, schrieb beispielsweise das US-Magazin «Time» im Juli, und die «Washington Post» charakterisierte ihn Anfang September als «wankelmütigen, ineffizienten Bürokraten», der einer «zutiefst korrupten Regierung» vorstehe. Noch schärfer kritisiert ihn freilich die parlamentarische Opposition. Von der hinduistisch-nationalistischen Volkspartei BJP bis hin zu den Linken fordern alle Fraktionen – in diesem Punkt geeint – seinen Rücktritt. Und so suchte Singh, der Anfang der neunziger Jahre als Finanzminister die ersten Liberalisierungsmassnahmen durchsetzte und sich gern als Vater des indischen Wirtschaftsaufschwungs sieht, sein Heil in einem Befreiungsschlag.

Ausländische Investitionen, so argumentiert die Regierung, würden Kapital und Technologie ins Land bringen, die Infrastruktur von der Lagerung über den Transport bis hin zur Weiterverarbeitung und Verpackung verbessern, das Bewusstsein für Qualität heben und die indische Landwirtschaft an den Weltmarkt anbinden. Verbesserungen, da hat die Regierung recht, sind durchaus notwendig. So leidet die indische Nahrungsmittelindustrie seit langem unter einem Investitionsmangel. Laut einer Studie des Central Institute for Post Harvest Engineering and Technology im indischen Bundesstaat Punjab verfault jährlich rund ein Fünftel des geernteten Obsts und Gemüses, weil die Kühlketten lückenhaft oder nicht vorhanden sind. Und ein Teil des Getreides verrottet in Lagerhallen, da die Verteilsysteme nicht funktionieren.

Aber braucht es dazu ausländische Investitionen? Gopan Kumar ist nicht davon überzeugt. «Ausländisches Kapital und internationale Firmen sollen Indiens Probleme lösen? Da frage ich mich, warum das nicht schon während der britischen Herrschaft passiert ist», sagte der 45-jährige Gemüsehändler, der jeden Tag seinen Marktstand in der südindischen Stadt Cherthala aufbaut. «Die verantwortungslose und korrupte Regierung reicht doch nur den Schwarzen Peter weiter. Die multinationalen Konzerne werden das Leben von Millionen Strassenverkäufern wie ich einer bin ruinieren.»

Der informelle Sektor

Kumar ist nicht der einzige, der um seinen Lebensunterhalt fürchtet. Millionen von KleinhändlerInnen leben von ihrer Arbeit in einem informellen Graubereich, der noch immer den weitaus grössten Teil des Detailhandels ausmacht mit den zahllosen Krämerläden, den Obst- und Gemüseständen an den Strassenrändern, den Kiosken mit ihrem Angebot an Zigaretten, Zahnpasta, Wasserflaschen und Kugelschreibern, den familienbetriebenen Haushaltswarengeschäften oder den Papeterien. Sie sind beliebt, weil man hier manchmal handeln kann, weil die VerkäuferInnen schlechte Ware anstandslos zurücknehmen, weil sie nach Hause liefern, weil man anschreiben lassen kann. Und auf dem Land, wo siebzig Prozent der InderInnen leben, gibt es ohnehin keine Alternative zu ihnen.

Allerdings ist dieser unorganisierte Sektor auch stark zersplittert und unterfinanziert. Es fehlen moderne Kommunikationsmittel, die HändlerInnen sind meist schlecht ausgebildet, kaum vernetzt und daher auch nicht in der Lage, andere Märkte zu bedienen – schon gar nicht ausländische. Dennoch fällt es den staatlich registrierten, von indischen Grossunternehmen wie Reliance, Tata, Bharti oder ITC finanzierten Einzelhandelsfirmen momentan noch schwer, Fuss zu fassen; ihre Supermärkte spielen nur eine untergeordnete Rolle. Doch das könnte sich, zumindest in den Städten, bald ändern – wie das Beispiel der indischen Ableger von ausländischen Konzernen zeigt. Die Filialketten von Adidas, Nike, Lacoste, Pizza Hut, Panasonic oder Metro florieren, seit ihnen aufgrund ihrer Registrierung als indische Unternehmen der Handel erlaubt ist.

Profitabler Zwischenhandel

Die notwendigen Veränderungen sollen nun die transnationalen Konzerne bringen. Nur sie seien in der Lage, den preistreibenden Zwischenhandel einzudämmen, argumentiert das Handelsministerium – eine Behauptung, die ein Grossteil der indischen Medien unhinterfragt kolportiert. Der Zwischenhandel ist tatsächlich ein Problem; ein Teil der aktuellen Lebensmittelpreissteigerungen ist auf das Profitinteresse der Ein- und WeiterverkäuferInnen zurückzuführen. So bekommen beispielweise die KleinbäuerInnen im Bezirk Jalandhar (Bundesstaat Punjab), einer der wichtigsten Kartoffelregionen des Landes, für ein Kilo Kartoffeln drei Rupien (umgerechnet fünf Rappen).

Diesselben Kartoffeln erzielen auf dem Markt von Jalandhar einen Preis von sieben Rupien. Werden sie in Delhi verkauft, kosten sie zehn Rupien; und sollten sie Bombay erreichen, müssen die KonsumentInnen fünfzehn Rupien zahlen. Erst im Dezember 2011 kam es in Jalandhar zu einer Revolte: Zornige BäuerInnen kippten aus Ärger über ihre Ausbeutung durch HändlerInnen, Spediteure und Kühlhausbetreiber ihre Ernte auf die Strasse. Auch die KleinbäuerInnen in Bundesstaat Assam, 2300 Kilometer weiter östlich gelegen, klagen. Sie bekommen für ein Kilo Knoblauch bester Qualität vier Rupien. In Kolkata hat dieses Kilo jedoch schon einen Wert von dreissig Rupien und in Dörfern von Westbengalen kostet es fünfzig Rupien. Ganz im Süden diesselbe Geschichte: Im Bundesstaat Kerala etwa zahlt der Handel den BäuerInnen für eine Kokosnuss nurmehr zwei bis drei Rupien – so wenig wie nie zuvor.

«Wenn die Regierung uns wirklich helfen wollte, würde sie die Gründung von Kooperativen unterstützen, die Kühlhäuser und eigene Transportsysteme unterhalten können», sagt Ajit Gopalan. Der 38-Jährige baut auf seiner ein Hektar grossen Farm in der Nähe von Cherthala Reis, Bananen und Gemüse an. «Doch sie hat nur vor, den informellen Zwischenhandel durch den organisierten zu ersetzen.» Das sieht auch der 63 Jahre alte Devassy Kutty so. «Heute kommt der Zwischenhändler aus dem Dorf oder aus der nächsten Stadt», sagt der Kleinbauer aus Manjaly, einem Weiler in der Nähe der Stadt Ernakulam (Bundesstaat Kerala). «Und morgen beuten uns die Einkäufer der Supermärkte aus.» Die ersten Erfahrungen damit hat er bereits gemacht. «Das Supermarktunternehmen Reliance Fresh behauptet von sich, dass sie ihre Waren direkt von den Erzeugern beziehe und lukrative Preise zahle. Doch auch das Unternehmen schickt Agenten. Und die sind zum Teil noch schlimmer als die traditionellen Zwischenhändler, denn sie haben mehr Macht und nehmen die Ware oft nur in Kommission.»

Während die GrossbäuerInnen die Gesetzesreform begrüssen, weil sie sich von einer Marktöffnung und den international agierenden Supermarktkonzernen mehr Absatzchancen versprechen, haben die armen FarmerInnen – sie machen über achtzig Prozent der Bauernschaft aus – keine Lobby. Auch den oppositionellen Parteien und den mit ihnen verbandelten Gewerkschaften geht es nicht um die Landbevölkerung und eine Lösung derer Probleme; ihr Protest richtet sich allein gegen die regierende Kongresspartei. Der stehen jetzt schwere Zeiten bevor: Nachdem die westbengalische Regionalpartei TMC schon Mitte September das UPA-Regierungsbündnis verliess (die westbengalische Ministerpräsidentin warf Singh eine «Anti-Armen-Politik» vor), hat am Montag die kleine Koalitionsspartei DMK aus Tamil Nadu angekündigt, gegen die Regierungsvorlage zu stimmen.

Das Parlament wird sie wohl trotzdem annehmen, ein paar Abgeordnete lassen sich immer kaufen. Dennoch ist die Liberalisierung damit nicht durch, jedenfalls nicht überall. Denn die Umsetzung des neuen Gesetzes obliegt den einzelnen Bundesstaaten. Und acht Regionalregierungen haben bereits erklärt, dass sie nicht mitmachen werden.