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Indien: Fasten gegen die Korruption

Gandhis umstrittener Erbe

6. Oktober 2011 | Seit Wochen kämpft Anna Hazare mit einem Hungerstreik für die Einführung eines Antikorruptionsgesetzes. Während die einen sein Engagement feiern, werfen ihm andere Demokratiefeindlichkeit vor.

Text: Joseph Keve, Bombay, Übersetzung: Pit Wuhrer

Es ist nicht das erste Mal, dass Kisan Baburao «Anna» Hazare mit einer Fastenaktion auf sich aufmerksam macht. Schon früher hatte der 74-Jährige im Bundesstaat Maharashtra durch Nahrungsverweigerung Druck auf Bürokratie und Politik ausgeübt – bisher jedoch auf lokaler oder regionaler Ebene. Doch nun geht es ihm gar um die nationale Politik. Um ein neues Antikorruptionsgesetz zu erzwingen, wollte Hazare Mitte August in einen Hungerstreik treten. Doch die Regierung liess Aktivisten verhaften, bevor er die Nahrungsaufnahme verweigern konnte: Hazare kam in Polizeigewahrsam und wurde ins Hochsicherheitsgefängnis Tihar am Rande von Delhi gebracht. Doch die Koalitionsregierung unter Führung der Kongresspartei hatte die Unterstützung, die Hazare geniesst, unterschätzt. Seine Verhaftung löste eine Welle von Protestmärschen in ganz Indien aus, besonders in den Metropolen Bombay, De­lhi, Kalkutta und Lucknow. Und so ordnete das Kabinett Hazares Freilassung an. Doch dieser weigerte sich, das Gefängnis zu verlassen, bis die Behörden alle Bedingungen fallen lassen, die sie ihm vorher auferlegt hatten.

Das Phänomen Anna

Allein in Neu-Delhi protestierten Ende August 50 000 Menschen. Sie zogen durch die Strasse, schwenkten Fahnen oder trafen sich zu Sit-ins vor den Häusern wichtiger PolitikerInnen. Auch in anderen Städten versammelten sich Tausende; ihre Proteste wurden rund um die Uhr von den Medien begleitet, die begeistert die «Macht des Volkes» beschworen und ausgiebig darüber berichteten, dass ein 74-Jähriger die mächtige Zentralregierung in die Knie gezwungen habe.

Am 27. August erliess das Parlament eine Resolution, die Hazares drei Kernforderungen «im Prinzip» aufnahm. Nun obliegt es dem 31-köpfigen Regierungskomitee für Justizfragen, Empfehlungen für einen konkreten Gesetzentwurf auszuarbeiten. Aber gibt es nicht einen Unterschied zwischen dem, was «im Prinzip» anerkannt wurde, und dem, was dann in der Praxis umgesetzt wird? Etliche MinisterInnen hatten sich bereits recht zweideutig geäussert. So würde die Einrichtung des Amts der Ombuds­personen den Bundesstaaten überlassen. Und für die beiden anderen Forderungen – eine Wiedergutmachung für die Opfer von Korruption und Schutz der Informant­Innen – müssten erst noch Mechanismen entwickelt werden. Ausserdem, so heisst es, arbeite die Regierung an einer Strategie, die in Zukunft verhindern soll, dass Leute mit Hungerstreiks Druck auf die Regierung ausüben können.

Hazare erfuhr auch deswegen so viel Zuspruch, weil ein Grossteil der indischen Bevölkerung auf die Reichen und Mächtigen immer wütender wird. Anders als früher sehen die Menschen im Fernsehen, wie die Reichen Wohlstand anhäufen, indem sie die Ressourcen aller – Mineralerze, Kohle, Wald und Öl – veräussern. Das Vertrauen in die Politik ist ohnehin längst entschwunden; immerhin sind fast dreissig Prozent der 545 Abgeordneten des Bundesparlaments in Neu-Delh schon einmal straffällig geworden. Der Wohlstand der Politi­kerInnen vermehrt sich jedes Jahr, während sich die Lebens­bedingungen der Mehrheit kaum verbessern. Viele sehen nun in Hazare eine Art Messias, der sie von ihren Fesseln befreien wird.

Hazares Art des politischen Aktivismus ist nicht neu in Indien, schliesslich vergleicht er sich selber gerne mit Mahatma Gandhi. Aber es ist schon lange her, dass ein Einzelner die Regierung so sehr in die Ecke treiben konnte. Tausende aus allen Klassen, Kasten, Regionen und Religionen setzten sich zum Zeichen ihrer Unterstützung weisse Gandhi-Hüte auf mit der Aufschrift «Ich bin Anna». Auf den Strassen, in Büros und Fabriken und auf Bauernhöfen wurde über Hazares Worte und Taten diskutiert. In einem offenen Brief in der «Hindustan Times» schrieb Rajdeep Sardesai, Chefredakteur des Fernsehnetzwerks IBN18, an Hazare: «Sie haben Millionen namenloser InderInnen ermu­tigt, auf die Strasse zu gehen und sich zu Wort zu melden. Sie sind ein Symbol des Wandels und der Hoffnung geworden in einer Zeit, in der die Kultur des Betrugs das Gewissen des Landes belastet.»

Prominente Gegenwehr

Doch es gibt auch scharfe Kritik an Anna Hazare – und die kommt von unerwarteter Seite. «In gewisser Weise haben die Mao­isten und das Ombudspersonen­gesetz etwas gemeinsam: Beide wollen den Staat abschaffen», schrieb beispielsweise die Globalisierungskritikerin Arundhati Roy, die bisher alle radikalen BürgerInnen­bewegungen des Landes unterstützt hatte: Die einen kämpfen in einem bewaffneten Kampf von unten nach oben und mit einer Armee, die grossteils aus Adivasi, indischen UreinwohnerInnen, besteht. Und die anderen von oben nach unten – mithilfe eines «blutleeren Gandhi-artigen Putschs, angeführt von einem frischgebackenen Heiligen und einer Armee aus urbanen, relativ wohlhabenden Menschen». Denn selbst wenn Hazares Mittel an Gandhi erinnern würden, seine Forderungen täten dies nicht, sagt Roy. Denn im Unterschied zu Gandhis Vorstellungen von einer Dezentralisierung der Macht würde das Ombudspersonengesetz eine kleine Gruppe von sorgsam ausgesuchten Personen an die Spitze einer gigantischen Bürokratie mit Tausenden von Angestellten stellen. Diese hätte die Macht, jeden zu kontrollieren – vom Premierminister über die Justiz, die Parlamentsabgeordneten bis hin zu den kleinsten Staatsangestellten. Die Ombudsstelle hätte die Macht, jeden zu überwachen, auszuspionieren und zu verfolgen – und wäre doch nur eine weitere Behörde. «Zwar soll sie der aufgeblasenen und korrupten Verwaltung, die niemandem Rechenschaft schuldig ist, ent­gegentreten. Doch dann hätten wir einfach zwei Oligarchien anstelle von einer», kritisierte Roy.

Andere sehen in dem neuen Gesetz sogar eine Bedrohung der Demokratie. Der Autor und ehemalige Minister Shahi Tharoor: «Es einer nichtgewählten Gruppe – so nobel ihre Ziele auch sein mögen – zu erlauben, sich über das Parlament zu stellen, ist ein Angriff auf die Grundpfeiler der Demokratie.» Durch Hazares Erfolg habe sich die Idee etabliert, Gesetze könnten von der Strasse aus diktiert werden.

Auch muslimische Vereinigungen kriti­sierten Hazare, weil er Narendra Modi gelobt hatte, den Ministerpräsidenten des Bundesstaates Gujarat, der 2002 ein Pogrom zugelassen hatte, bei dem rund zweitausend Muslime starben. Der Verband unterer Kasten warfen Hazare Dünkel vor, da er sich nicht auch gegen die tägliche Diskriminierung der unteren Kasten ausspreche. Wieder andere hielten ihm eine einseitige Kritik vor: Er würde nur den Staat und die Regierung attackieren, die für zahllose Krisen und Skandale mit verantwortliche Wirtschaft schonen.

Inzwischen glauben manche sogar, dass Hazare eine Erfindung jenen Fernsehsendern sei, die ständig die Bilder der Fahnen schwingenden Massen zeigten. 50 000 DemonstrantInnen seien im Vergleich zur indischen Gesamtbevölkerung von 1,21 Milliarden Menschen doch kaum der Rede wert, argumentieren sie. Und hat es in den vergangenen Woche und Monaten nicht Protestmärsche gegen Landraub und den Bau von Atomkraftwerken gegeben, an denen über doppel soviele Menschen teilnahmen? Die hätten weit weniger Medienaufmerksamkeit erregt.

Schwer verdauliche Botschaft

In einem aber hat Hazare recht: Bisher hat noch keine Regierung auf die Menschen gehört. Es ist also an der Zeit, dass die gewählten VertreterInnen begreifen, dass Demokratie mehr umfasst als Selbstbereicherung und eitle Parlamentsdebatten. Hazare hat immerhin erreicht, dass inzwischen viele das Verhältnis zwischen ParlamentarierInnen und ihren WählerInnen hinterfragen. Selbst wenn seine Bewegung sonst nichts erreichen sollte, hat sie den PolitikerInnen gezeigt, dass sie ihre Basis ernster nehmen müssen. Ob sie dann aber auch handeln, ist ungewiss. Denn sie müssten die neoliberale Agenda der derzeitigen Regierung herausfordern, die für die immer weiter um sich greifende Korruption die Hauptverantwortung trägt. Sie müssten verhindern, dass die Ressourcen, von denen die Zukunft der Wirtschaft abhängt, für lächerliche Beträge an in- und ausländische Konzerne verkauft werden. Sie müssten den Landraub unterbinden, der für Minenprojekte oder Luxusappartements stattfindet, sie müssten die Privatisierungen stoppen. So gesehen hat Hazare den Reichen und Mächtigen, die im Elfenbeinturm des «glänzenden Indiens» leben, eine schwer ver­dauliche Botschaft überbracht: Im Zuge der wirtschaftlichen Liberalisierung verlagert sich die Macht immer mehr weg von der Politik und hin zu den grossen Wirtschaftsunternehmen, die sich kooperationswilligen PolitikerInnen gegenüber auch gerne mal erkenntlich zeigen.

Doch die wichtigste Frage für die UnterstützerInnen der Anna-Hazare-Bewegung ist: Kann man Korruption wirklich mit einem Gesetz bekämpfen? Denn wenn dies so wäre, dann gäbe es in Indien schon längst ­keine ­Diskriminierung von Unberührbaren mehr, keine Kinderarbeit, keine Morde an weiblichen Föten und keine Sklaverei.