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Indien: Der grosse Landraub

«Investieren, verdienen, geniessen»

22. September 2011 | Ein Gerichtsurteil weckt grosse Hoffnungen: Selbst Regierungen von Bundesstaaten, die sich bisher an der Landspekulation beteiligten, lenken allmählich ein.

Text: Joseph Keve, Bombay, Übersetzung: Pit Wuhrer

«Der Staat ist der grösste Landräuber in Indien.» So kurz und schnörkellos urteilte Anfang Juli Indiens Oberste Gerichtshof. In der Begründung der Aufsehen erregenden Entscheidung kritisierten die Richter, dass mehrere indische Bundesstaatsregierungen mit Hilfe alten Kolonialrechts – dem von Britannien 1894 eingeführten Land Acquisition Act – den Armen Land wegnehmen und es an Bauunternehmen vergeben. Dies jedoch sei nicht in öffentlichem Interesse. Denn den enteigneten BäuerInnen blieben oft nur zwei Optionen: ein Leben im Slum oder der Einstieg in die Kriminalität.

«Auf dem enteigneten Land werden Hotels, Einkaufszentren, Gewerbekomplexe und Luxussiedlungen gebaut, zu denen die Durchschnittsbürger keinen Zugang haben. Dient dies dem öffentlichen Interesse?», fragte einer der Richter. Und so ordnete der Oberste Gerichtshof an, dass das gesamte mit Verweis auf den Acquisition Act enteignete Land an die BäuerInnen zurückzugeben sei. «Das Gericht ist der Meinung, dass bei der Aneignung von Land die Wahrnehmung öffentlichen Interesses vereinbar sein muss mit dem Konzept des Wohlfahrtsstaats», stellten die Richter fest.

Diese grundlegende Entscheidung betrifft unter anderem die Zuteilung von kleinen Flächen an BauherrInnen in der Industriestadt Noida am Rande von Delhi. Dort hatte die Regierung des Bundesstaats Uttar Pradesh mit der Baulobby konspiriert, um den BäuerInnen unter Zuhilfenahme des Kolonialgesetzes ihr Land wegzunehmen. Der Boden wurde im «öffentlichen Interesse» beschlagnahmt – angeblich, um Arbeitsplätze für die lokale Bevölkerung zu schaffen. Doch dann wurde das Gelände zu Bauland für Luxuswohnhäuser erklärt.

Dass die Armen auf diese Weise ihres Landes und ihrer Ressourcen beraubt werden, ist in Indien nicht neu. Seit 2005, als die Regierung ein Gesetz zugunsten der Einrichtung von sogenannten Sonderwirtschaftszonen erliess, beteiligen sich die Regierungen der Bundesstaaten am Geschäft mit der Landspekulation. Sie kollaborieren sie mit Wirtschaftskreisen und enteignen unter dem Vorwand der Wahrnehmung «öffentlicher Interessen» ganze Dörfer. Tausende Fälle werden derzeit vor verschiedenen Gerichten Indiens verhandelt. Das Urteil des Obersten Gerichtshofs weckt nun Hoffnungen bei den hunderttausenden Betroffenen, die ihr Land und ihre Lebensgrundlage an das undurchsichtige Geflecht aus Regionalverwaltungen und Geschäftswelt verloren haben.

Reich durch Landspekulation

Einer, der von dieser Art Landraub profitiert, ist Vivek Dadlani, ein 46-jähriger Geschäftsmann aus Bombay. «Mein Vermögen ist in den letzten sechs Jahren nur durch den Kauf und Verkauf von Land um 300 bis 400 Prozent gewachsen», sagt Dadlani. Vor sechs Jahren bildete er mit vierzig Verwandten und FreundInnen eine informelle Gruppe, die sich die «IEE 40» nennt. IEE steht für «investieren, verdienen, geniessen». Jedes Mitglied investiert zehn Millionen Rupien als Stammkapital, etwa 160 000 Euro. «Seh' dich um, kaufe, sichere die Parzelle und warte ab. Und wenn der richtige Preis da ist, verkaufe. Und dann kauf' mehr», beschreibt Dadlani die Taktik. Die Gruppe verfolgt die Entwicklungspläne der Bundesregierung und der regionalen Regierungen oder der Ortsverwaltungen genau – und erkennt dank ihrer guten Beziehungen jene Städte, Ortsteile oder Gebiete, in denen sich das Geld innerhalb eines Jahres mindestens verdoppeln lässt.

Leute wie er würden über die Zukunft der Landvergabe bestimmen, sagt Dadlani. «In zehn Jahren wird an den strategisch wichtigen Orten kaum noch Land zu kaufen sein. Ob Geschäftsmänner oder Regierungen: Wer an geeigneten Stellen ein grosses Stück Land haben will, muss zu uns kommen – und wir werden den Preis bestimmen.» Nach eigenen Angaben verfügt die Gruppe bereits über mehr als 4000 Hektar Land.

Da die regionalen Regierungen Indiens um Investitionen und Kapital werben, haben die InvestorInnen bisher freies Spiel. Sie werden sogar massiv von den Regierungen der Bundesstaaten unterstützt: Diese versorgen die Sonderwirtschaftszonen mit billigem Land, Wasser und Elektrizität. Dass dabei das Leben und die Lebensgrundlage von Hunderttausenden Bauern, Fischern und WaldbewohnerInnen ruiniert werden, interessiert die PolitikerInnen weniger. «Für Gujarat war es eine Dekade phänomenalen Wachstums. Die Industrie ist um 13 Prozent gewachsen, die Landwirtschaft um 9,6 Prozent und das Pro-Kopf-Einkommen um 13,8 Prozent», schwärmte Narendra Modi, der Ministerpräsident des Bundesstaats Gujarat, im Januar vor Industriellen und InvestorInnen: «Gujarat hat sich zum Wachstumsmotor Indiens entwickelt. Ich werde Ihnen dabei helfen, alles zu erreichen, was Sie erreichen möchten.»

Was Narendra Modi nicht verriet: Fast 10 000 ArbeiterInnen, 5500 BäuerInnen und an die 1000 LandarbeiterInnen haben sich während seiner Regierungszeit das Leben genommen. Der Bundesstaat Gujarat hat den Berechnungen des Expertenteams des Wirtschaftswissenschaftlers Suresh P. Tendulkar zufolge eine der höchsten Armutsraten Indiens; 45 Prozent der Kinder sind unterernährt, 74 Prozent der Frauen leiden an Blutarmut.

Proteste landauf und landab

Modis KritikerInnen sagen, der Regierungschef von Gujarat hege Ambitionen auf Ämter in der nationalen Politik, und würde sich deshalb so intensiv um die Industrie und InvestorInnen bemühen. So versuche er unter anderem, sich der Verantwortung für das antimuslimische Pogrom von 2002 abzuschütteln, bei dem über 2000 Menschen ums Leben kamen. Modi versuche den Eindruck zu erwecken, dass die Dinge in Gujarat in Ordnung gekommen seien und Friede herrsche», sagt der Menschenrechtler Ram Puniyani. «Dabei sind die Erinnerungen an 2002, an die vielen Toten, die Vergewaltigungen und die Erniedrigungen noch frisch.» Der Staat habe den Opfern nur Unrecht getan. Eine Aufarbeitung gab es nicht.

Tatsächlich hat es Modi geschafft, seine politischen GegnerInnen mit dem ständigen Hinweis auf die Entwicklungsstatistiken in den Schatten zu stellen. Doch nun erheben sich neue Stimmen des Protests. «Das Ackerland eines Dorfs gehört den Bauern und nicht irgendeiner Regierung», sagt der 93-jährige Chunibhai Vaidhya. Er protestiert seit langem im Bezirk Bhavnagar gegen die Vergabe von Land des Dorfs Mahuva an die Nirma GmbH, die dort Kalkstein abbauen will. Die von den Abbauplänen betroffenen BäuerInnen haben die Regierung vergeklagt und nutzen jede Gelegenheit, gegen die illegale Landnahme zu protestieren.

Vor zwei Jahren organisierte Vaidhya eine Demonstration am Sabarmati Ashram – eine der Wohnstätten Mahatma Gandhis in Ahmedabad – und reichte eine Petition gegen das Projekt ein. 11111 Menschen hatten unterschrieben. Regierungschef Modi, der gerne von ökologisch verträglicher Entwicklung spricht, liess Vaidhya und 5500 DemonstrantInnen verhaften.

Auch in der Stadt Jaitapur im benachbarten Küstenstaat Maharashtra wehrt sich die Bevölkerung gegen die Pläne der dortigen Regierung. Hier soll mit Hilfe des französischen Konzerns Areva das grösste AKW der Welt gebaut werden – in einem erdbebengefährdeten Gebiet. Im April 2011 demonstrierten hier 50 000 Menschen gegen den geplanten 9900-Megawatt-Meiler. Dabei wurde ein Demonstrant von den örtlichen Sicherheitskräften erschossen (siehe den Text «Absperren und draufhauen»).

Landraub in Übersee

Gern prangern indische PolitikerInnen die Ausbeutung des indischen Subkontinents durch europäische KolonialistInnen an. Aber sie schweigen, wenn InderInnen in Afrika oder Südamerika Vergleichbares oder Schlimmeres tun – wie zum Beispiel ab 2007, als der Anstieg der Nahrungsmittelpreise die Aufmerksamkeit von HändlerInnen und InvestorInnen auf sich zog und der Handel mit Nahrungsmitteln hohe Renditen erwarten liessen.

Etliche indische Unternehmen trugen zum Kaufrausch bei, besonders im Inland produziertes Getreide wurde gehortet. Andere orientierten sich Richtung Ausland: Etwa 75 indische Konzerne errichteten Filialen in afrikanischen Ländern wie Äthiopien, Mosambik, Senegal, Kenia und Madagaskar, kauften oder pachteten Plantagen und grosse Ländereien. Unter den indischen Unternehmen, die in Afrika Land geleast oder gekauft haben, befinden sich unter anderem der Chemiekonzern Allied Chemicals, das Bauunternehmen AVR Engineering, der Schmuckhersteller BP Jewellery, der Textilhersteller Kankaria und der Landwirtschaftskonzern Karuturi Agro Products.

«Indien könnte der Heuchelei beschuldigt werden», sagt Ashwin Parulkar, Experte für Südasien beim US-amerikanischen Thinktank Freedom House. «Das Land anerkennt das Recht seiner eigenen Bürger auf Nahrung, trägt jedoch gleichzeitig dazu bei, anderen dieses Recht zu entziehen – indem sich indische Firmen grosse Teile Ackerland aneignen und die lokale Bevölkerung verdrängen.» Dies sei etwa in Äthiopien der Fall. Obwohl über achtzig Prozent der Arbeitsplätze in Äthiopien im Bereich der Landwirtschaft lägen, seien fünfzehn Prozent der dreizehn Millionen ÄthiopierInnen von Lebensmittelspenden abhängig, so Parulkar. Trotzdem wolle die äthiopische Regierung im Jahr 2012 knapp drei Millionen Hektar Land an ausländische InvestorInnen vergeben. «Solch eine dramatische Umverteilung erhöht die Zahl der Vertriebenen und setzt mehr Menschen einem höheren Risiko von Armut, Unterernährung und Hunger aus», warnt Parulkar.

In Indien wird die historische Entscheidung des Obersten Gerichtshofs des Landes auch die Gerichte der Bundesstaaten ermuntern, die Vertreibung von BäuerInnen neu zu beurteilen. Tatsächlich lehnte der höchste Gericht von Allahabad in Uttar Pradesh (UP) etwa zur gleichen Zeit die Vereinnahmung von 589 Hektar Land in den Orten Patwari und Dewla ab; es hatte mehrere Petitionen gegen die dort geplanten Prestigeprojekte gegeben. In seinem Urteil beschuldigte das Gericht die Regierung von Uttar Pradesh der Kollaboration mit Privatunternehmen – dabei hatte diese stets das öffentliche Interesse an den Projekten betont. Proteste gibt es in Uttar Pradesh auch gegen den Bau des Yamuna Expressway, einer 165 Kilometer langen Autobahn von Neu-Delhi nach Agra. Dieses Projekt wird 700 000 BäuerInnen aus 334 Dörfern das Ackerland kosten. Bei Zusammenstössen zwischen Polizei und Protestierenden verloren mitlerweile sieben Menschen ihr Leben, Tausende wurden verletzt.

Obergrenze für Sonderwirtschaftszonen

Auch die Stadtregierung in Noida (UP) hat aus dem Urteil ihre Schlüsse gezogen: Sie entschied sich, alle beim Obersten Gerichtshof eingereichten Klagen zurückzuziehen und einen Kompromiss mit den Betroffenen auszuhandeln. Um ähnliche Konflikte in Zukunft zu verhindern, erwägt sie sogar, die räumliche Obergrenze für Sonderwirtschaftszonen (der 5000 Hektar) zu reduzieren.

Bestärkt durch diese Urteile wehrt sich das indische Komitee gegen Landnahme in mehreren Bundesstaaten auch gegen den Plan der Zentralregierung, eine neue Version des Gesetzes zur Landnahme einzuführen. «Die Regierung sollte ein Gesetz auf den Weg bringen, das den Bauern dabei hilft, über den Verkauf und den Preis ihres Landes selbst zu entscheiden», schreibt das Komitee. Verschiedene BäuerInnenorganisationen, Gewerkschaften sowie die Kommunistische Partei Indiens organisieren bereits die ersten Aktionen.