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Indien: Die KP bekämpft das Volk

Massen gegen Marxisten

25. Juni 2009 | Im kommunistischen Westbengalen leistet sich die Regionalregierung heftige Auseinandersetzungen mit der Landbevölkerung. Jetzt mischt auch noch die maoistische Guerilla mit.

Text: Joseph Keve, Bombay, Übersetzung: Pit Wuhrer

Die schwer bewaffneten Truppen kamen in gepanzerten Wagen und mit Minendetektoren. Rund 4000 PolizistInnen aus fünf nationalen, bundesstaatlichen und lokalen Einheiten wurden vergangene Woche in Bewegung gesetzt, um die Kleinstadt Lalgarh im indischen Bundesstaat Westbengalen angeblich von maoistischen Guerillas zu befreien. Am Samstag konnte der Polizeichef des Distrikts West Midnapore schliesslich bekannt geben: «Lalgarh ist wieder befreit.»

Beim Kampf um die Stadt rund 180 Kilometer südwestlich von Kalkutta sind gleich drei Parteien beteiligt: zum einen die westbengalische Regierung der Linken Front, angeführt von der Kommunistischen Partei Indiens / Marxisten (CPIM), dann die maoistische Guerilla, die man in Indien NaxalitInnen nennt, und schliesslich die lokale Bevölkerung, der vorgeworfen wird, die NaxalitInnen zu unterstützen.

Korrupte Linke

Über die Hälfte der Bevölkerung von Lalgarh und Umgebung sind UreinwohnerInnen und Mitglieder von ebenfalls diskriminierten unteren Kasten – der Anteil der Marginalisierten ist doppelt so hoch wie im restlichen Bundesstaat. Vierzig Prozent der BewohnerInnen leben unter der Armutsgrenze. Die Hälfte muss sich mit Gelegenheitsjobs zumeist in der Landwirtschaft über Wasser halten. Eine Industrie fehlt, viele leben von der Fischerei oder den Erträgen aus den umliegenden Wäldern.

Als die Linke Front vor 33 Jahren an die Macht kam, versprach sie, den Reichtum des Staates umzuverteilen und die Grundbedürfnisse aller zu befriedigen. Doch passiert ist bis heute kaum etwas. Die Landwirtschaft blieb auf bescheidenem Niveau, Industrie wurde keine angesiedelt, es wurden kaum neue Strom- und Telefonleitungen gezogen oder Strassen gebaut. Die meisten Dörfer verfügen über gerade mal einen Bus, der die EinwohnerInnen in eine benachbarte Stadt bringen kann. Es gab zudem nie ernsthafte Anstrengungen, die Gegend mit sauberem Trinkwasser zu versorgen, ein Abwassersystem zu installieren, anständiges Wohnen zu ermöglichen sowie Schulen und Kliniken zu errichten. Stattdessen grassierten Ausbeutung und Korruption. Gerade auch die linken PolitikerInnen liessen sich von der Oberschicht kaufen. Seither kassieren sie ab und kontrollieren das wirtschaftliche und politische Leben der Region mit eiserner Hand.

Gemäss einer Anordnung der Zentralregierung von 2005 müssen die Regierungen der Bundesstaaten mindestens 28 Prozent ihres Budgets für die vernachlässigten Regionen in ihren Territorien bereitstellen. Doch in Westbengalen ist nichts passiert. Inzwischen gestehen hochrangige Beamte ein, dass dieses Geld in die urbanen Zentren floss und dort zugunsten privilegierterer Bevölkerungsteile und für Parteigünstlinge verwendet wurde.

Das staatliche Grossaufgebot

Anfang November 2008 verübten maoistische Guerillas in der Gegend von Lalgarh einen Minenanschlag auf einen Konvoi hochrangiger Regierungsfunktionäre. Während die Politiker und ein mitreisender Industrieller mit dem Schrecken davonkamen, wurden sechs Polizisten verletzt. Die Staatspolizei löste daraufhin in Lalgarh und 35 umliegenden Dörfern eine Grossfahndung aus. Hunderte von Wohnhäusern wurden gestürmt und durchsucht, Einrichtungsgegenstände zerstört, alte Männer, Frauen und Kinder eingeschüchtert und Dutzende junger Männer weggeführt, verhört und verprügelt.

Unter den EinwohnerInnen brach danach Panik und Wut aus. Am 6. November umringten 2000 DorfbewohnerInnen die Polizeistation von Lalgarh und vertrieben die Beamten. Tags darauf blockierten 10 000 DorfbewohnerInnen alle Strassen nach Lalgarh. Sie rissen Strassen auf und verbarrikadierten Wege mit Baumstämmen, um die Rückkehr der Polizei zu verhindern. Sie unterbrachen zudem die Telefon- und Stromleitungen. Vom zuständigen Polizeichef forderten sie eine Entschuldigung für die Übergriffe der Uniformierten und verlangten für die Opfer eine Entschädigung.

Innerhalb von zehn Tagen weitete sich der Aufstand auf sechzig Dörfer und Städte sowie zwei angrenzende Distrikte aus. Eine Kerngruppe der Protestierenden gründete das Volkskomitee gegen Polizeigewalt (PCAPA). An der Erhebung beteiligten sich zudem WanderarbeiterInnen aus ganz Westbengalen. In 158 Gemeinden kam es zu kleineren und grösseren Versammlungen sowie Demonstrationen.

Am 26. November versammelten sich 12 000 UreinwohnerInnen in Ramgarh, einem Ort in der Nähe von Lalgarh, und zwangen auch hier die Polizei zum Abzug. Drei Tage später marschierten über 4000 UreinwohnerInnen mit dem gleichen Ansinnen durch die Strassen von Jhargram. Sie führten ihre traditionellen Waffen mit: Pfeil und Bogen, Äxte und Sicheln. Die DemonstrantInnen erklärten, sie würden künftig selber für die Sicherheit der Stadt sorgen. Die Regierung von Westbengalen war aufgeschreckt. So zeigte sie sich bereit, die Forderungen nach einer Untersuchung der Polizeiaktion zu prüfen. Die Aufständischen brachen daraufhin ihre Aktionen ab. Doch schon bald wurde klar, dass es der Staat nicht ernst gemeint hatte. Als am 19. Dezember dann auch noch die vertriebenen Polizeikräfte in ihre Quartiere zurückkehrten, beschlossen die AktivistInnen, ihre Kampagne wieder aufzunehmen und auszuweiten. In allen Gemeinden trafen sich die Menschen zu Versammlungen und beschlossen, die Behörden zu boykottieren und alle Steuerzahlungen einzustellen.

Einmal mehr schien die kommunistische Regierung nachzugeben. Am 12. Januar erklärte sie, dass alle Opfer der Polizeiübergriffe entschädigt und die schuldigen PolizistInnen bestraft würden. Ausserdem solle für die Region ein Entwicklungsprogramm lanciert werden. Doch ungeachtet dieser Zugeständnisse eskalierte die Situation: Während die AktivistInnen Ende Januar noch über ihre künftige Strategie diskutierten, erschossen Unbekannte Nirmal Sardar, einen der lokalen Führer der Bewegung. Ausserdem wurden zwei junge Urweinwohner angeblich von Anhängern der CPIM umgebracht. Nach den Morden marschierten Tausende bewaffneter UreinwohnerInnen durch die Dörfer.

Am 27. März verkündete das PCAPA-Komitee dann den Boykott der nationalen Wahlen. Die Ereignisse in Westbengalen beschäftigten auch die indische Öffentlichkeit. So übertrugen die Fernsehkanäle des Landes Szenen von Verhandlungen zwischen VertreterInnen der Wahlkommission und den UreinwohnerInnen von Lalgarh.

In der Zwischenzeit legte das PCAPA mit Unterstützung der DorfbewohnerInnen Lagerräume für Nahrungsmittel an, bohrte Brunnen und baute Strassen. Ausserdem errichteten sie ein Gesundheitszentrum. In jedem Dorf übernahm ein Komitee von je fünf Männern und Frauen die Verwaltung. Diese Selbstverwaltung schien allerdings auch die maoistische Guerilla zu beflügeln. Nachdem sie erst in ihren Stützpunkten in der Gegend von Lalgarh ausgeharrt hatte, zog sie in die Dörfer ein und deklarierte diese als «befreite Zonen».

Zweitägiger Generalstreik

Diese strategische Dummheit rief umgehend die Sicherheitskräfte des Bundesstaats und der Zentralregierung auf den Plan. Als dann am 16. Juni eine Menge zwei Polizeistationen niederbrannte, die prunkvolle Villa eines CPIM-Führers demolierte und zwei CPIM-Kader ermordet wurden, schickte die Regionalregierung von Kalkutta bewaffnete Sicherheitskräfte vor, die Lalgarh einnahmen.

In der Umgebung jedoch hielten die Kämpfe bis Redaktionsschluss an. Viele BewohnerInnen sind inzwischen aus der Region geflohen. Die Polizei soll laut Medienberichten Jugendliche aus der Umgebung zu Minenräumungsaktionen gezwungen haben. Die Partei der Guerilla, die Kommunistische Partei Indiens (Maoisten), ist derweil von der Zentralregierung zur Terrororganisation erklärt und verboten worden. Das bedeutet, dass auch nicht kämpfende Mitglieder kriminalisiert werden können. Die Organisation hatte wegen der Polizeiaktion für Montag und Dienstag zu einem Generalstreik in fünf Bundesstaaten aufgerufen. Gemäss der Tageszeitung «Times of India» ist der Streik zumindest in drei westbengalischen Distrikten mehrheitlich befolgt worden, so auch in West Midnapore.