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Indien: Quittung bei der Parlamentswahl

Zu abgehoben, zu kapitalfreundlich, zu arrogant

21. Mai 2009 | Die Kongresspartei feiert. Und die indischen Linksparteien haben in ihren Hochburgen eine Niederlage erlitten – zu Recht.

Text: Joseph Keve, Bombay, Übersetzung: Pit Wuhrer

Die indischen Wählerinnen und Wähler sind immer wieder für eine Überraschung gut. Das war vor fünf Jahren so, als sie der überaus selbstbewussten hindu-nationalistischen Indischen Volkspartei BJP, die mit dem Slogan «Indien glänzt» angetreten war, eine Abfuhr erteilten. Und das ist diesmal nicht anders. Alle hatten mit unklaren Mehrheitsverhältnissen und mit drei annähernd gleich grossen Blöcken gerechnet, mit einer geschwächten Kongresspartei, mit Zuwächsen für Regionalparteien und mit einer starken Linken. Herausgekommen ist das Gegenteil.

Niemand darf sich einer Sache zu sicher sein, schon gar nicht an der Wahlurne – das ist das vielleicht wichtigste Ergebnis der Parlamentswahl. Nicht einmal der Wechsel ist beständig. Nur wenige gaben Manmohan Singh von der Kongresspartei eine Chance. Waren nicht dreimal hintereinander indische Ministerpräsidenten am Ende ihrer ersten Amtsperiode abgewählt worden? Jetzt aber kann der wirtschaftsliberale Singh ungefährdet weiterregieren. Die Kongresspartei hat die Zahl ihrer Unterhausmandate verdoppeln können; ihrem Wahlbündnis United Progressive Alliance (UPA), das in den letzten fünf Jahren auf die Unterstützung der Linken angewiesen war, fehlen nur wenige Stimmen für eine parlamentarische Mehrheit.

Der überraschende Erfolg der Kongresspartei hat mehrere Gründe. Während die BJP mit ihren religiösen Hassparolen nur noch in wenigen Regionen überzeugen konnte und beispielsweise die in Bombay starke regionalistisch-chauvinistische Shiv Sena keinen einzigen Sitz gewann, konnte der Kongress offenbar die städtischen Mittelschichten mobilisieren, die bisher Wahlen eher ferngeblieben waren. Fünf ertragreiche Monsunzeiten hintereinander, Lohnerhöhungen für die Beschäftigten der öffentlichen Dienste und eine vor allem im Sozialbereich kluge Politik spielten ebenfalls eine Rolle. Unter dem Druck der Linksfront hatte Singh in der vergangenen Legislaturperiode ein sogenanntes Gemeinsames Minimalprogramm verfolgt, die Position der Ärmsten gestärkt, den Arbeitslosen auf dem Land Beschäftigung garantiert und die Preise kontrolliert. Mit ausschlaggebend war möglicherweise auch das neue Gesicht der Nehru-Dynastie: Rahul Gandhi, Sohn der Kongresspräsidentin Sonia Gandhi und des früheren Premiers Rajiv Gandhi, gilt als kommender Mann (sein Urgrossvater Jawaharlal Nehru war Indiens erster Ministerpräsident und seine Grossmutter Indira Gandhi langjährige Regierungschefin gewesen).

Entscheidend für den Kongresssieg war aber die Niederlage der Linken. Vor allem in Westbengalen, wo die Kommunistische Partei Indiens / Marxisten (CPIM) seit 32 Jahren regieren, brach ihre sogenannte Dritte Front ein. 15 von 42 möglichen Sitzen, nicht einmal halb so viel wie vor fünf Jahren – eine solche Schmach hatte niemand erwartet. Das Resultat ist die Quittung für die Arroganz der letzten Jahre. So kam es in letzter Zeit immer wieder zu Revolten vor den staatlichen Lebensmittelläden, die die CPIM mit ihren Günstlingen besetzt hat. Wichtiger noch aber waren die Aufstände in der Region von Nandigram, wo die linke Regierung von Westbengalen der Landbevölkerung fruchtbares Ackerland weggenommen hatte, um Sonderwirtschaftszonen für Grossunternehmen einzurichten – die Polizei schoss in die protestierende Menge (vierzehn Tote), DorfbewohnerInnen wurden von CPIM-Kadern misshandelt. Selbst die sonst linksorientierte bengalische Intelligenz wandte sich daraufhin von dem linken Parteienbündnis ab. Erheblich zugelegt (von einem auf neunzehn Mandate) hat dafür die lokale antilinke Trinamool-Kongresspartei, die Armen auf dem Land Schutz vor der kapitalorientierten CPIM versprach – ihr Auftreten ähnelte dem der Linken vor ein paar Jahren.

«Bei uns haben zu viele ihre eigenen Interessen verfolgt», gibt mittlerweile Westbengalens CPIM-Sekretär Birnan Bose zu. Das gilt auch für die Linke im Bundesstaat Kerala, die seit vier Jahrzehnten im Wechsel mit der Kongresspartei regiert und derzeit das Kabinett stellt. Querelen zwischen Führungsfiguren, enormer Zuwachs an persönlichen Vermögen und eine industriefreundliche Strukturpolitik haben viele frustriert. «Ich habe immer die Linke unterstützt», sagt beispielsweise der pensionierte Lehrer Balan Gopalan, seit drei Jahrzehnten CPIM-Mitglied in Cherthala, «aber an der Macht sind die Marxisten offenbar auch nicht besser». Folge: Die Linksfront gewann nur vier Sitze (bisher: fünfzehn von insgesamt zwanzig).

Nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse musste die Bombayer Börse für einen Tag schliessen – so schnell schossen die Kurse in die Höhe. Das Kapital feiert Manmohans Sieg. Befreit vom Druck der Linken, wird seine UPA die schon länger geplante weitere Liberalisierung des Banken- und Versicherungssektors durchwinken und die Restriktionen für ausländische InvestorInnen aufheben. Damit aber könnte die Kongresspartei in eine Schieflage geraten, vor der sie – und das ist die Ironie – die jetzigen WahlverliererInnen bisher bewahrt hatten.