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Indien: Der wachsende Einfluss der Dalits

Die Diva der Rechtlosen

7. Mai 2009 | Bei der anstehenden Parlamentswahl kommt es dieses Mal auf die untersten Kasten an. Aber kann deren Anführerin Kumari Mayawati die Lage der «Unberührbaren» bessern?

Text: Joseph Keve; Übersetzung: Pit Wuhrer

Indien ist das Land der Feste. Es gibt nationale und regionale Feste, und jede Religion, jede Kaste, jede Volksgruppe feiert ihre eigenen Feste. Das grösste und längste Fest findet im Abstand von fünf Jahren statt, jetzt ist es wieder so weit: Die InderInnen wählen ihr Parlament. An diesem Spektakel – dem grössten politischen Anlass der Welt – können dieses Jahr rund 714 Millionen Wahlberechtigte teilnehmen, die 543 Parlamentsabgeordnete bestimmen. Die Wahlen sind, regional gestaffelt, auf einen Monat verteilt; 800.000 Wahlbüros, sechs Millionen WahlhelferInnen und über zwei Millionen PolizistInnen stehen zur Verfügung. Am 16. Mai, Ende nächster Woche, wird ausgezählt.

Die hauptsächlichen KontrahentInnen sind die von der Kongresspartei angeführte United Progressive Alliance (UPA) und die National Democratic Alliance (NDA) unter Führung der hindunationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP). Ebenfalls im Rennen sind die linken Parteien, die die sogenannte Dritte Front bilden. Diese drei Bündnisse stehen in einem harten Wettkampf um die Unterstützung der zahlreichen regionalen Parteien und Gruppierungen; im ganzen Land sind 702 Parteien registriert. Weil die nationalen Parteien in den vergangenen Jahrzehnten versucht haben, Indien zentralistischer zu gestalten, vernachlässigten sie die Regionen. Die Folge: Es entstanden zahlreiche Regionalparteien, die ihren Einfluss ausbauen konnten. Es ist gut möglich, dass diejenige Allianz die Wahlen gewinnt, die am meisten regionale Gruppierungen für sich gewinnen kann.

Linke Hoffnungen

Die Tage der Einparteienherrschaft sind jedenfalls vorbei. Jahrzehntelang hatte die 1885 gegründete und einst von Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru geführte Kongresspartei die uneingeschränkte Macht inne; dann erwuchs ihr aus der 1980 gebildeten BJP eine Konkurrenz (siehe den Text in der Randspalte»). Beide Parteien verfolgen dieselbe Wirtschaftspolitik: Sie setzen sich für eine weitere Liberalisierung der Ökonomie ein und können auf die Unterstützung der Geschäftswelt zählen. Die linke Allianz, die von der Kommunistischen Partei/Marxisten (CPIM) angeführt wird, kritisiert den Wirtschaftsliberalismus, war aber in Westbengalen und Kerala – wo die Linke regiert – nicht in der Lage, eine Alternative zu entwickeln.

Während BJP und Kongresspartei die Dritte Front kaum ernst nehmen, sind die linken Parteien überzeugt, dass die Zukunft ihnen gehört. «Unsere politische Botschaft ist klar. Die Leute sehen keinen Unterschied zwischen Kongresspartei und BJP», sagt der Autor Sitaram Yechury, der für die CPIM im Parlament sitzt. Daher sei es gut möglich, «dass die Linken die nächste Regierung stellen werden», hofft das CPIM-Politbüromitglied. «Wir brauchen eine Innenpolitik, die die religiösen Kräfte schwächt, eine Wirtschaftspolitik, die die Menschen über den Profit stellt, und eine Aussenpolitik, die unsere Unabhängigkeit stärkt.» Die Hoffnung auf eine starke Dritte Front mag ein ferner Traum sein, aber sie hat bereits FreundInnen gewonnen, vor allem in den regionalen Parteien, die in wichtigen Bundesstaaten präsent sind.

Viele halten es für durchaus möglich, dass die linken Parteien nach der Wahl den Ausschlag geben könnten. Es gibt jedoch auch beissende Kritik an der Dritten Front. Einer der Kritiker ist beispielsweise Vir Sanghvi, Kolumnist der «Hindustan Times»: «Diese Leute haben keine einheitliche Ideologie, keine Vision für Indien und keine Vorstellung von einem Indien jenseits ihres eigenen Bundesstaats», schrieb er vor kurzem. «Wie sollen sie Indien so aus der Wirtschaftskrise führen können?»

Die grösste Herausforderung für die neue Regierung wird tatsächlich die Wirtschaft sein. Das Wachstum der letzten Jahre hatte es der jetzigen Regierung erlaubt, eine zumindest ansatzweise soziale Politik zu verfolgen. Diesen Luxus hat die neue Regierung nicht. Von ihr wird erwartet, dass sie das Land aus der Krise führt und gleichzeitig eine Balance zwischen ökonomischer Entwicklung und einer Umverteilung des Reichtums zugunsten der bedürftigsten Gruppen und Regionen findet. Hunger und Armut sind immer noch weit verbreitet; Unterernährung allein tötet in Indien jedes Jahr etwa 2,5 Millionen Kinder. Eine weitere Herausforderung ist die Sicherheit: Politisch-religiöse FundamentalistInnen und sozial-militante Gruppierungen (wie die NaxalitInnen) können, wie die letzten Attentate zeigten, überall und jederzeit zuschlagen.

Immer nur dagegen

Eine Partei, die in den letzten Jahren für Aufsehen gesorgt hat, ist die Bahujan Samaj Party (BSP), die Partei der Dalits. Die Dalits gehören der untersten Ebene des hinduistischen Kastensystems an. Sie gelten als Ausgestossene, als «Unberührbare»; sie sind von der Gnade der oberen Kasten abhängig, verrichten die niedrigsten Arbeiten und müssen sich mit dem zufrieden geben, was sie dafür bekommen.

Einer der Ersten, der sich gegen diese soziale Ordnung stellte, war Babasaheb Ambedkar (1891-1956). Er war selbst ein Dalit, konnte aber die gesellschaftlichen Schranken überwinden. Als Anwalt brachte es Ambedkar bis zum Vorsitzenden des Komitees, das den Entwurf der Verfassung ausarbeitete. Solange die «Unberührbarkeit» bestehe, so argumentierte er, bleibe Freiheit und Eigenbestimmung leeres Geschwätz. Im Rahmen des höchst undemokratischen Hinduismus, der allen modernen Werten des Bürgerrechts zuwiderlaufe, sei eine radikale Transformation unmöglich.

Während Jahrzehnten führten die Dalits in Indien einen schier aussichtslosen Kampf. Selbst Ambedkar gab schliesslich seine Versuche auf, die vom Kastensystem geplagte hinduistische Gesellschaft von innen her zu reformieren: 1936 trat er mit Tausenden seiner AnhängerInnen zum Buddhismus über und gründete eine eigene politische Organisation, die Unabhängige Arbeiterpartei, die jedoch nicht lange bestand.

Auch nach der Unabhängigkeit Indiens änderte sich an der Lage der Dalits wenig. Trotz der Gesetze, die ihre Diskriminierung untersagten, wurden sie benachteiligt, vor allem in ländlichen Gebieten. Nur eine kleine Minderheit der Dalits nutzte ihre neuen Rechte, floh in die Städte und arbeitete sich hoch. Einer schaffte es sogar bis ganz nach oben: K.R. Narayanan war von 1997 bis 2002 indischer Präsident.

BeobachterInnen sehen das Problem darin, dass die Mobilisierung der Dalits der Gemeinschaft keine positive Identität zu geben vermochte: Anstatt die Initiative zu ergreifen, kämpften die Dalits lediglich gegen das schlechte Image, das ihnen verpasst worden war. Sie waren immer nur gegen die Ausgrenzung, formulierten aber keine eigenen Positionen.

Das war auch so, als Kanshi Ram, ein Dalit-Politiker in Uttar Pradesh, 1984 die Bahujan Samaj Party (BSP) gründete. Aber immerhin: Der Grundstein für eine Massenmobilisierung war gelegt. Ziel der Partei sei es, eine «revolutionäre soziale und wirtschaftliche Bewegung» zu entfachen, so Kanshi Ram, «um die Grundsätze der Gerechtigkeit, Freiheit und Brüderlichkeit umzusetzen, die in der indischen Verfassung festgeschrieben sind». Doch die Parteigründung allein konnte die Machtverhältnisse in Indien nicht ändern. Selbst in Uttar Pradesh gewann die BSP nicht einmal fünf Prozent der Stimmen.

Kooperation mit dem Feind

Den Weg aus der Nische fand erst Kumari Mayawati, die Kanshi Ram zu seiner Nachfolgerin aufgebaut hatte und die die BSP neu ausrichtete. Die 53-jährige Chefministerin von Uttar Pradesh erkannte bald, dass die BSP nur mit den Stimmen der Dalits (die in Uttar Pradesh 21 Prozent der Wahlbevölkerung ausmachen) die Machtverhältnisse nicht ändern würde – und sah sich nach potenziellen BündnispartnerInnen um. Ihre Wahl fiel ausgerechnet auf die BrahmanInnen, die höchste Hindukaste, die als die grössten GegnerInnen der Dalits galten. Anders als die meisten PolitikerInnen begriff Mayawati, dass die BrahmanInnen in den letzten Jahrzehnten durch den Aufstieg der benachteiligten Klassen in Uttar Pradesh ihre politische Orientierung verloren hatten. Um ihrer zunehmenden Bedeutungslosigkeit zu entkommen, warteten sie nur darauf, jemandem ihre Stimmen anbieten zu können und so wieder an politischem Einfluss zu gewinnen – und nahmen Mayawatis Angebot an. Die Rechnung ging auf: Bei der Regionalwahl 2002 erzielte die Dalit-Partei BSP plötzlich 23,6 Prozent der Stimmen; bei der landesweiten Parlamentswahl 2004 gewann sie fast 25 Prozent.

2007 folgte eine Steigerung. Kurz zuvor hatten die Dalits den 50. Todestag von Ambedkar mit Hunderten von Veranstaltungen, Kundgebungen und Demonstrationen begangen. Besonders in den Staaten Maharasthra, Tamil Nadu, Andhra Pradesh und Orissa, wo viele Dalits leben, traten Tausende zum Buddhismus über. Die Feiern lösten einen politischen Begeisterungssturm aus, von dem die BSP profitierte. Im Bundesstaat Uttar Pradesh gewann die Dalit-Partei mit der Unterstützung der BrahmanInnen und der MuslimInnen mehr als die Hälfte der Sitze im Regionalparlament.

Seither ist Kumari Mayawati in den Augen vieler Dalits – sie machen rund siebzehn Prozent der indischen Bevölkerung aus – eine Art Messias. Ihr gilt auch die Aufmerksamkeit jener, die weder die Kongresspartei noch die BJP wählen wollen. Mehrere regionale Parteien haben sich bereits um sie geschart und wollen sie als Premierministerin. Auch die linken Parteien machen mit – jemanden zu unterstützen, der sich für die unterdrückten Dalits einsetzt, passt gut zu ihrem ideologischen Programm. Besonders für liberale städtische Intellektuelle stellen die ehemalige Dorfschullehrerin und ihre BSP eine Option dar. Manche Liberale sehen in ihr sogar so was wie einen weiblichen Barack Obama. Da etliche dieser Liberalen für die Medien arbeiten, wird Mayawati entsprechend gefeiert. «Rück mal zur Seite, Sonia Gandhi», schrieb beispielsweise das Magazin «India Today». «Es gibt eine neue Diva in der indischen Politik, und ihr Name ist Mayawati, das faszinierendste politische Phänomen unserer Zeit.» An Selbstbewusstsein mangelt es der neuen Ikone jedenfalls nicht. «Wenn ich den grössten Bundesstaat regieren kann, wieso soll ich nicht das ganze Land führen können?»

Reich und korrupt

Aber es gibt noch ein anderes Bild von ihr: Das der durchtriebenen politischen Strategin, die alles tut, um zu einer der reichsten PolitikerInnen des Landes zu werden. In ihrer Amtszeit als Chefministerin von Uttar Pradesh haben Korruption und Gesetzlosigkeit zugenommen; Gelder, die für Entwicklungsprojekte vorgesehen waren, wurden für Statuen und Denkmäler von Mayawati und Kanshi Ram ausgegeben; die Lage der Dalits hat sich kaum verbessert. Mittlerweile werfen ihr auch viele Dalits ihren pompösen Lebensstil und ihren autokratischen Regierungsstil vor. Ihre AnhängerInnen beeindrucken diese Vorwürfe jedoch wenig: Wer, bitte schön, sei denn nicht korrupt, fragen sie -– und verweisen auf die Reichtümer von führenden Kongress- und BJP-PolitikerInnen.

Kumari Mayawati habe immerhin so unterschiedliche Gruppen wie die BrahmanInnen, die MuslimInnen und die Dalits vereinen können, loben ihre UnterstützerInnen. Sie sprechen sogar von einer «wahrhaft sozialen Revolution unter der proletarischen Führung der Dalits», die «keinen Tropfen Blut gefordert hat». Andere sind da allerdings skeptischer. «Die BSP ist nur mithilfe der Brahmanen an die Macht gekommen», sagt beispielsweise Professor Harish Wankhede von der Universität Delhi – also mit Unterstützung einer Kaste, «die von früheren Dalit-Denkern für ihre Gerissenheit, ihren Machthunger und die kriminelle Ausnutzung ihrer sozialen Stellung verdammt wurde». Durch die Zusammenarbeit mit einem solchen Partner – der in anderen Bundesstaaten eher die BJP unterstützt – könne die BSP gezwungen sein, zentrale Anliegen der Dalits ausser Acht zu lassen: Gerechtigkeit und Säkularismus. Sollten sie ihre Ziele vergessen, sind die «Unberührbaren» bald wieder dort, wo sie lange waren: am Rand der Gesellschaft.