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Indien: Sicherheit oben, Risiko unten

Bombay erwacht

18. Dezember 2008 | Nach den Terroranschlägen in Bombay sind die Menschen wütend auf ihre politische Führung: Zehntausende gingen auf die Strasse.

Text: Joseph Keve, Bombay, Übersetzung: Pit Wuhrer

«Politiker spalten uns, Terroristen einen uns», steht auf einem Plakat, «Verdorbene Politiker sind schlimmer als Terroristen» auf einem anderen. 150.000 Menschen jeden Alters, jeden Berufs, jeder Religion haben sich am Wochenende zu einer hundert Kilometer langen Menschenkette zusammengeschlossen, die am Nariman Point im Zentrum Bombays begann und bis ins nördliche Dahisar reichte. Dazu aufgerufen hatten über zweihundert nichtstaatliche Organisationen. «Wir sind wütend – genug ist genug», stand auf dem Plakat der sechzehnjährigen Studentin Razia Khan. «Meine älteren Studentinnen wollten mitmachen, also hab ich sie mitgebracht», sagte der Vorsteher ihrer Schule, der an der Spitze von 1400 Schülerinnen und LehrerInnen marschierte.

Das Massaker, das die zehn islamistischen Terroristen Ende November in Bombay angerichtet haben (siehe den Artikel Die Wut der Muslime), hatte die achtzehn Millionen EinwohnerInnen Bombays in einen Zustand des Schocks, der Angst und der Ohnmacht versetzt. Alle fragten sich: Wer nimmt die Sache in die Hand? Doch es war niemand da, um die Frage zu beantworten. Die politische Führung und Verwaltung brillierte durch ihre Abwesenheit. Bombay schien führungslos.

«Tun wir etwas!»

Die Terrorattacken entzündeten den latenten Unmut über die Lächerlichkeit, den Egoismus und den Mangel an Verantwortung der gewählten RepräsentantInnen. «Ich bin verdammt wütend, ich kann es nicht länger ertragen. Wir dürfen nicht länger die passive Mehrheit spielen und uns nur um unsere eigenen Belange kümmern. Tun wir etwas! Ich werde am Mittwoch, 3. Dezember, um 18 Uhr vor dem Taj-Hotel stehen», schrieb der Filmemacher Suparn Verma in einem Blogeintrag, der von einem populären Webportal aufgegriffen und in ganz Bombay verbreitet wurde. Dem Aufruf folgten Zehntausende von Menschen, um ihrer Wut gegen die politische Elite Luft zu verschaffen.

Seither wurden Hunderte von Versammlungen abgehalten, organisiert etwa von Berufsverbänden oder Internetgemeinschaften. Die drei wichtigsten Themen waren die Regierungsführung, die Sicherheit und der Frieden. Bei jedem Treffen entlud sich die angestaute Wut über die politische Klasse. «Die Haltung dieser Leute stellt das eigentliche Problem dar – die glauben, dass sie über dem Rest stehen», schimpfte etwa Julius Rebeiro, ein ehemaliger Polizeikommissar von Bombay, an einem Treffen der neu gebildeten Action for Good-governance and Networking in India. Ein anderer Vorwurf richtete sich gegen den Status und die Sicherheitsvorkehrungen, welche die politischen Emporkömmlinge, die Filmstars und Cricketspieler geniessen. Eine unvertretbar hohe Anzahl werden als Very oder gar als Very Very Important People hofiert und von einer Armee an Sicherheitspersonal rund um die Uhr bewacht, was eine Menge Geld kostet und die Ressourcen der Polizei strapaziert.

Ein weiteres Thema der Versammlungen war das politische Engagement. «Wir können die Demokratie nicht als gegeben ansehen, nur weil wir alle fünf Jahre wählen gehen – und die gebildeten Mittel- und Oberschichten tun nicht einmal das», sagte die Teilnehmerin eines Nachbarschaftstreffens in Kandivli, einem Viertel in Nordbombay. Man müsse sich einmischen, die WählerInnen weiterbilden, von den RepräsentantInnen Transparenz und Verantwortung fordern. Andernfalls «müssen wir uns mit der politischen Führung zufrieden geben, die wir jetzt haben». Und eine andere meinte: «Die Menschen müssen lernen, ihre eigenen Visionen zu entwickeln, statt blind den Versprechen zu folgen, mit denen uns die Politiker vor den Wahlen eindecken.»

Muslime gehen auf die Strasse

Ein einfaches Rezept, eine verantwortungsbewusste Regierung zu bekommen, gibt es nicht. Und welche Auswirkungen diese Treffen und Konferenzen haben werden, weiss niemand. Doch die aktuelle Wut der Bevölkerung und die Tatsache, dass sich die PolitikerInnen heraushalten, schafften nun einen Freiraum, in dem Forderungen entwickelt und Menschen mobilisiert werden können. Fest steht: Die Anschläge haben die Art und Weise, wie die Menschen die politische Klasse sehen, verändert – und damit auch ein Stück weit ihre Haltung gegenüber dem Terrorismus.

Erstmals in der jüngeren Geschichte Bombays haben die Menschen eine Solidarität gezeigt, die über die politischen, religiösen, sprachlichen und regionalen Gräben reichte. Bei jedem Meeting gab es eine Stimme, die forderte, parteipolitische und partikulare Forderungen beiseite zu lassen. Es war wohl auch das erste Mal, dass nicht die muslimische Gemeinschaft beschuldigt wurde, für die Terroranschläge verantwortlich zu sein. Erstmals begaben sich auch Tausende von reichen wie armen MuslimInnen auf die Strassen, um gemeinsam die Anschläge und die Attentäter zu verurteilen. Zudem appellierten die muslimischen Führer an ihre Gefolgschaft, das islamische Opferfest zurückhaltend zu feiern.

Viele derer, die jetzt auf die Strasse gehen – VertreterInnen der Mittelschicht, Firmenchefs oder Filmstars –, hatten sich früher nie eingemischt. Die Breite des Protests führt dazu, dass die politischen HardlinerInnen und die hindu-nationalistischen ChauvinistInnen, die sich stets in Szene setzen, keinen Laut von sich geben. Selbst MaoistInnen bezeugten Respekt – und feuerten Ehrensalven für jene ab, die ihr Leben liessen, um andere zu schützen: für die von ihnen sonst so verhasste Polizei.