Indien: Wachsende Unterstützung für die NaxalitInnen
Im Land der Milliardäre
5. April 2007 | Die sozialen Auseinandersetzungen spitzen sich zu: Da die traditionelle Linke der wachsenden sozialen Kluft nichts entgegenzusetzen hat, wird die maoistische Guerilla immer stärker.
Text: Joseph Keve, Chhattisgarh, Übersetzung: Pit Wuhrer
Vor drei Wochen erschütterten zwei Zwischenfälle die Nation. Der eine ereignete sich im kleinen Dorf Rani Bodli im zentralindischen Bundesstaat Chhattisgarh: Dort überfielen am 14. März 300 bewaffnete NaxalitInnen ein Polizeicamp, töteten 55 Polizisten und Sicherheitsleute und verschwanden mit einer ansehnlichen Beute an Waffen und Munition. Untersuchungen, die inzwischen angestellt wurden, ergaben, dass die Polizisten sturzbetrunken waren, als die MaoistInnen in das Camp eindrangen.
Der andere Vorfall geschah im Dorf Nandigram im östlichen Bundesstaat Westbengalen, der seit Jahrzehnten von der ehemals maoistischen Kommunistischen Partei Indiens/Marxisten (CPM) regiert wird. Dort schossen Teile einer 5000 Mann starken Polizeiarmee wahllos in eine Demonstration – zwölf Menschen starben, siebzig wurden verletzt, darunter viele Frauen und Kinder. Die DorfbewohnerInnen hatten sich zu einer Kundgebung versammelt, um gegen die Pläne der westbengalischen Regierung zu protestieren. Diese will ihr fruchtbares Ackerland mehreren InvestorInnen (darunter der indonesischen Salim-Gruppe und dem indischen Tata-Konzern) aushändigen und in eine Sonderwirtschaftszone verwandeln (siehe auch den Artikel Mit Marx gegen Landlose).
Die Nachrichten von diesen Überfällen machten noch die Runde, als die ökonomischen und politischen Eliten des Landes bereits ein anderes Ereignis feierten: Am 8. März hatte das US-Magazin «Forbes» die Liste der reichsten Personen der Welt veröffentlicht – und unter den 946 DollarmilliardärInnen waren gleich 36 Inder mit einem Gesamtprivatvermögen von 191 Milliarden US-Dollar. Damit hat Indien erstmals Japan (24 Milliardäre) überholt und auch China (23) hinter sich gelassen.
Und noch eine Nachricht sorgte in den letzten Tagen für Aufsehen: In Ayodhya (Bundesstaat Uttar Pradesh), wo militante Hinduisten 1992 eine Moschee demoliert und eine Welle der Gewalt ausgelöst hatten, erklärten die Chefs des radikalen Welthindurats, dass sie innerhalb des nächsten Jahres im ganzen Land eine Million Tempel errichten wollen – um die Herrlichkeit des Hinduismus wieder herzustellen.
Es gibt also viele Visionen für Indien, und alle Parteien, Interessengruppen und PolitikerInnen sprechen von den Interessen der gesamten Nation. Narendra Modi, der militant hinduistische Chefminister des Bundesstaates Gujarat, redet beispielsweise stets im Namen aller fünfzig Millionen Gujaratis, wenn er gegen die Muslime hetzt. Lal Krishna Advani, dem Fraktionsführer der rechtsgerichteten indischen Volkspartei BJP im Unterhaus, liegen natürlich nur die Interessen der 800 Millionen Hindus am Herzen. Es verwundert daher kaum, dass auch die NaxalitInnen behaupten, im Sinne jener zwei Drittel der Bevölkerung zu agieren, die am unteren Ende der sozialen, ökonomischen und politischen Pyramide leben.
Der grosse Kongress
Die naxalitischen Gruppierungen – die Bewegung entstand 1969 aus einer Auseinandersetzung im westbengalischen Ort Naxalbari, daher der Name – kontrollieren mittlerweile grosse Gebiete in acht indischen Bundesstaaten. Sie setzen sich für die Ärmsten der Armen ein (siehe auch den Artikel Mit Pfeil und Bogen), wollen das Land von allen AusbeuterInnen befreien und griffen nach vielen vergeblichen Bemühungen, dieses Ziel mit zivilen Mitteln zu erreichen, zu den Waffen. «Sie praktizieren, was sie predigen, und halten ein, was sie versprechen», anerkennen selbst ihre grössten KritikerInnen.
Im Februar trafen sich erstmals seit vielen Jahren über 300 Anführer der diversen Bewegungen zu einem nationalen Kongress im Dschungelgebiet an der Grenze der Bundesstaaten Chhattisgarh und Jharkhand, um über die nächste Phase ihrer Revolution zu beraten. «Grosse Teile der Bevölkerung sind empört über die Politik der Regierung, die Staudämme und Autobahnen baut, grosse Infrastrukturprojekte plant, gigantische Minen errichtet, Sonderwirtschaftszonen einrichtet und die urbanen Zonen verschönern will», schrieben die KriegerInnen nach dem Treffen in einem Communiqué. Das sei «eine komfortable Position». Man werde die Operationen nun auch auf andere Gebiete ausweiten – wie etwa Kaschmir – und in den umstrittenen Sonderwirtschaftszonen besonders aktiv sein.
Die NaxalitInnen beschrieben auch, wie man künftig mit den GegnerInnen – insbesondere den von Grossgrundbesitzern ins Leben gerufenen und staatlich geförderten «Bürgerwehren» – umgehen werde, und nannten zwei Namen. Die eine Bürgerwehr wurde in Jharkand vom indischen Abgeordneten Sunil Mahato angeführt, der enge Verbindungen zur regionalen Baulobby unterhielt. Er wurde am 4. März erschossen. Die andere Bürgerwehr – sie wird in Chhattisgarh von der dort regierenden korrupten BJP und Politikern der Kongresspartei finanziert – war Ziel des Angriffs in Rani Bodli. 34 der getöteten 55 Polizisten gehörten zu einer Sondertruppe, die der Staat in Kollaboration mit den Mächtigen mit speziellen Vollmachten ausgestattet hatte.
Die Kolonisierung Indiens
Die NaxalitInnen gehen rücksichtslos vor. Aber wer nimmt schon Rücksicht in einem Land, in dem – je nach Statistik – zwischen 22 und 28 Prozent der Bevölkerung unter der offiziellen Armutsgrenze (zwei US-Dollar Einkommen am Tag) leben? Selbst nach konservativer Schätzung haben im Land der Milliardäre und der glitzernden Einkaufszentren rund 300 Millionen nicht genug zu essen. Viele leiden unter Krankheiten, haben keine Hoffnung mehr und müssen hinnehmen, dass ihnen das bisschen Land, das kleine Stück Wald und das Wasser, das sie noch haben, weggenommen werden. «Als sich der Westen industrialisierte, hatte er Kolonien, die er plünderte, und Sklaven», sagte die Schriftstellerin Arundhati Roy vergangenen Sonntag im Interview mit der Wochenzeitung «Tehelka»: «Wir aber kolonisieren uns selber.»
Für die Regierungen stellen die NaxalitInnen nur ein Sicherheitsproblem dar (nach dem Überfall in Rani Bodli durchkämmten 8000 Polizisten und Soldaten die Region). Sie halten auch an der Strategie fest, Privatmilizen zu bewaffnen und zu finanzieren – und das trotz heftiger Kritik vieler Intellektueller, nichtstaatlicher Organisationen (NGOs) und Volksbewegungen. Und doch geht die Rechnung nicht auf. Nicht nur in den Bundesstaaten, in denen die NaxalitInnen bisher agierten, treten immer mehr, teilweise gut ausgebildete junge Männer und Frauen der Guerilla bei. Auch in anderen Regionen (wie Uttar Pradesh, Karnataka oder Tamil Nadu) rekrutiert die Bewegung mit Erfolg.
Diesen Erfolg verdankt sie der Schwäche der herkömmlichen Linken. Die einst starke und lebhafte indische NGO-Szene ist nur noch ein Schatten ihrer selbst und für die Armen schon lange kein Hoffnungsträger mehr (siehe auch den Artikel Eingebunden und gezähmt). Und linke Parteien wie die CPM – sie regiert in Westbengalen und in Kerala – haben längst verlernt, mit den Armen zusammenzuarbeiten: Sie setzen auf InvestorInnen und auf das grosse Geld, wie das Beispiel Nandigram zeigt. Eine Autofabrik ist ihnen wichtiger als die Erhaltung der Lebensgrundlagen von DorfbewohnerInnen. Und so sehen viele der Bedrängten im Land der 36 Milliardäre, der 234 Sonderwirtschaftszonen (in denen selbst die bescheidenen Mindestlohn- und Arbeitsschutzregeln ausser Kraft sind) und der Tempelschwemme nur noch eine Option: die der NaxalitInnen.