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Fussballfans: Die modernen Desperados

Rebellion aus Langeweile

7. Juni 1985 | Nach den Vorfällen im Brüsseler Heysel-Stadion kommen die innerstädtischen Verhältnisse in den britischen Grossstädten plötzlich in die Schlagzeilen. Und plötzlich mag es Thatcher gar nicht mehr, wenn Leute die britische Fahne schwenken.

Donnerstag früh in der Liverpooler Lime Street Station. Am Gleis 9 wartet eine junge Frau in einem kleinen Menschenknäuel auf den ersten Sonderzug aus Brüssel in der Hoffnung, ihren Bruder zu entdecken, von dem sie seit seiner Abreise nichts mehr gehört hatte. Die Liverpool-Fans, viele in den schwarzweissen Farben von Juventus ziehen schweigend und müde an ihr vorbei. «Es ist fast wie eine Beerdigung», sagt sie zu ihrem Freund.

Viele von denen, die da vorbeizogen, hatten am Abend zuvor auf den Putz gehauen, und mit einem Schlag ihren guten Ruf und den ihres Clubs ruiniert. Dabei waren Die Liverpooler Fans bisher zwar für ihr rauhes, aber nicht aggressives und ungefährliches Verhalten bekannt. Warum? Sie wissen die Antwort nicht, und der, der so fragt, weiss nichts über die Verhältnisse in den britischen Innercities.

Hit and run

«Ich erinnere mich noch gut an Stoke», erzählt Tottenham-Fan John Gibbon:«Wir waren zehn oder zwölf Leute, liefen die verdammte Strasse runter – und sahen plötzlich ganz Stoke da warten. ‹Right›, sagten wir und rannten auf sie zu mit Gebrüll. Und die, das ist kein Witz, sind alle abgehauen, fielen auf die Schnauze bei der Flucht, haben sich gegenseitig umgestossen beim Versuch, wegzukommen.» John, mit kurzgeschorenen Haaren, abgesäbelten Hosen und den unvermeidlichen Bovver Boots, ein Skinhead also, war sichtlich stolz auf das Abenteuer von damals. «Das waren mehrere Hundert, und sie rannten wie die Hasen. So kamen wir rein in Stoke End (der Fan-Kurve von Stoke City), waren die einzigen dort von unserem Club und dicht umzingelt von der Polizei. Als es wieder raus ging, hätten wir nicht mehr sein dürfen, keine zwanzig, aber so kannte jeder jeden – die anderen waren jedoch mehr damit beschäftigt, wegzurennen als uns anzugreifen. Wir sind gewetzt, und die haben sich buchstäblich in die Hosen geschissen. Wir sind gerannt, bis wir am Bahnhof waren.»

John hat diese Geschichte Anfang der siebziger Jahre erzählt. Geändert hat sich seither nicht viel – ausser, dass die territorialen Kämpfe härter geworden sind. Wie die Verhältnisse.

Ruinen-Viertel heissen die Inner-City-Bezirke mit leerstehenden Häuserzeilen, verbarrikadierten Geschäften, verfallenden Gebäuden, und neuen kaputten Betonblocks. Es sind gewalttätige Gegenden, Arbeiterviertel, in denen kaum jemand Arbeit hat, wo die Jugendarbeitslosigkeit zwischen vierzig und achtzig Prozent ausmacht, wo rabiate Polizisten patrouillieren, wo erbarmungslose Sozialbürokratien ihre Detektive mutmasslichen Schwarzarbeitern hinterher schicken. Es sind auch Gegenden der Langeweile, des Nichts. In denen der Tag unendlich lang ist für jene, die weder Arbeit noch Geld haben.

Die Strasse ist der Ort, wo die grösste Chance besteht, dass etwas geschehen wird; wenn nicht heute, so morgen. Schon die Kids leben auf der Strasse, lungern an den Ecken herum, kicken Blechdosen an die Bordsteinkante, werfen Fensterscheiben ein, prügeln sich. Die Alternative wäre, mit Mum und Dad in die Glotze zu starren oder im gähnend langweiligen Jugendheim rumzuhängen. Da bieten Strasse und Gruppe doch mehr – und natürlich der Fussball. Vor allem der Fussball.

Schliesslich ist er eine Sportart, die in England von Proleten entwickelt wurde und von jeher mit den autonomen Werten der Arbeiterklasse verknüpft war. Werte, die in Kampf und Isolation, Sieg und Niederlage entstanden sind: Maskulinität, aktive Teilnahme, Loyalität zur Gruppe. Das Macho-Verhalten und der Kampf um Territorien – die eigenen verteidigen, die gegnerischen angreifen – spielten auf dem Rasen wie auf den Rängen immer schon eine grosse Rolle.

«Quincy Mob rules here» – der Spruch, der im Viertel überall gesprayt ist, steht auf auch auf Transparenten im Stadion. Die Fan-Kurve, das Park Lane End der Tottenham Hotspurs, der Shed von Chelsea oder der Kop in der Liverpooler Anfield Road, muss jedesmal neu gegen die Invasion der gegnerischen Supporters verteidigt' werden: «Wenn wir gegen die vom Norden spielen, kommen die manchmal schon in der Nacht oder am frühen Morgen, vor uns. Und gehen in die Park Lane, nehmen uns unseren Platz weg. Dann musst du dich hineinkämpfen.»

Hinfahren, saufen, und wieder zurück

Der Kampf gehört dazu, wenn die Fan-Clubs, die eigentlich Strassengangs sind, aufeinandertreffen. Wie der Alkohol, denn «ohne besoffenen Kopf hälst du die ganze Scheisse hier sowieso nicht aus». Ein Auswärtsspiel ist immer ein guter Grund, Leben in die Langeweile zu bringen, einen draufzumachen, sich vollzusaufen. Das Geld für die Fahrtkosten wird nur selten legal erworben. Mit einem Einbruch, mit Raub oder Diebstahl, beschaffen sich die Strassengangs die nötigen Mittel. Video-Geräte.., in dem einen Viertel besorgt, lassen sich im nächsten gut verscherbeln. Die Arbeiterjugendlichen der verkommenen Inner Cities haben schon längst keine gesellschaftlichen Ideale mehr, nur noch ihre Subkultur, die in ihrer Gewalttätigkeit die gesellschaftliche Gewalt reflektiert.

«Auf der Rückfahrt von Leeds» – dort ist es auch schon sehr munter zugegangen – «haben wir in einer Raststätte haltgemacht, um was zu essen», erzählt Rob Jones von den Hotspurs. «Aber da war schon ein Bus mit Manchester-United-Supporters. Wir sind rüber und haben die verdroschen. Wieder beim Bus, setzt sich Catto ans Lenkrad und startet das Ding. Du hättest sehen sollen, wie schnell der Fahrer rausgewetzt kam. Später ist dann Alex halb eingeschlafen, halb betrunken noch umgekippt und hat eine Scheibe kaputt geschlagen. Wir haben dann für den Fahrer gesammelt.» – «Ja, so ist's immer», ergänzt Dennis, «hinfahren, dich vollsaufen und wieder zurück.»

Wochenendurlaub von der alltäglichen Bedeutungslosigkeit.

Die Nobodys sind wer

Die «zerstörerische Kreativitätsentfaltung», wie Soziologen es nennen, die in den Inner Citles die Kriminalitätsratenach oben treibt, hat in und um den Fussball-Stadien Sinn. Der siebenjährige Bub, das in der Venmore Street vor dem Liverpooler Anfield-Stadion dem Autofahrer die Bewachung seines Vehikels anbietet (gegen Bezahlung natürlich, sonst sind die Reifen zerstochen), gehört ebenso dazu wie der Rowdy, der in der Gang umso angesehener ist, je härter er zuschlägt, je mutiger er ist. Von der Gesellschaft nicht ausgestossen, sondern liegen gelassen, können sie lediglich in der Strassengang was werden – und dort zählt nur, wer bereit ist, gegen die Normen zu verstossen, gesetzeswidrig zu handeln.

Die wilden Banden sind längst nicht alle Skinheads, aber ihre Kultur gleicht der der Skins: Rohe, scheinbar gefühlskalte Umgangsformen, brutale Herrschaft des Stärkeren – aber auch Solidarität und unbedingte Stammestreue zum Club. «Ein Clan, der zusammenhält, nicht weil er unbedingt und überall Krieg sucht, sondern weil er gejagt wird», schrieb ein Sportjournalist über die Unversöhnlichkeit der britischen Fans. Die Presse, die meist verständnisloser berichtet, verstärkt mit ihrem rigorosen Moralismus die ritualisierte Aggressivität. Die Nobodys sind plötzlich wer. Ein gehässiger Artikel von der anderen Seite, von «denen da oben», macht stolz.

Als der englische Fussballverband 1982 eine fleischige Bulldogge zum WM-Maskottchen machte, waren in den Londoner Pubs bald T -Shirts mit der Bulldogge im Um!auf. Der Aufdruck dazu: «Offlcial Hooligan», offiziell zugelassener Radaubruder.

Solange der soziale Zerfall Englands anhält, wird Fussball, das dramatische, nervenaufreibende Theaterstück mit einer Maximaldauer von zwei Stunden und stets gut für Überraschungen und Sensationen, ein Glanzlicht in einer tristen Umgebung bleiben. In Liverpool waren die SozialarbeiterInnen bislang froh, dass es ab und zu zu Widerstand, ziellosem Aufruhr und wilden Schlägereien kommt. «Damit zeigen die Jungs,dass sie noch nicht tot sind», sagten sie. (pw)