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Britannien: Wohin will Boris Johnson?

Mit Karacho nach hart rechts

1. August 2019 | Der Brexit und der neue britische Premierminister Boris Johnson haben die konservative Partei umgekrempelt. Und auch wenn ein Großteil der Öffentlichkeit konsterniert ist: Die harte Rechte könnte sich durchsetzen.

Bei seinem letzten Wahlkampfauftritt vor konservativen Parteimitgliedern lief der Kandidat mal wieder zu großer Form auf. «Das hier», rief er seinen ZuhörerInnen zu und wedelte mit einem in Plastik eingeschweißten Fisch herum, «hat mit ein Fischer von der Isle of Man zugeschickt! Warum? Weil die EU jetzt von ihm verlangt, dass er seine geräucherten Fische nur noch so verschicken kann!» Da sei sie wieder, die Überregulierung durch die EU, die hart arbeitenden Briten das Leben erschwert. Die Menge johlte. Hatte man das nicht immer schon gewußt?

Die Geschichte, die Boris Johnson da erzählte, war doppelt falsch. Erstens gehört die Isle of Man nicht zur EU, und zweitens wurde die Vorschrift nicht von Brüssel erlassen, sondern von London. Doch das kümmerte nur wenige. Die vorwiegend rechten Medien nicht, die darüber berichteten, und auch die meisten Mitglieder der konservativen Partei nicht. Die wählten ihn mit Zweidrittel Mehrheit zum neuen Vorsitzenden; das Ergebnis wurde einige Tage später – am Dienstag vergangener Woche – verkündet. Tags darauf wurde Johnson als neuer Premierminister vereidigt.

Damit ist Johnson, den viele – zu Recht – als Scharlatan, Rassisten und Egomanen bezeichnen, am Ziel all seines Tuns. Er hatte sich, den Brexit als Vehikel nutzend, neben Nigel Farage zum Hauptpropagandisten des EU-Austritts aufgeschwungen, dem leichtgläubigen Publikum viele Bären aufgebunden (mit den 350 Millionen Pfund, die London angeblich nach Brüssel überweise, könne das nationale Gesundheitswesen saniert werden, etc.), sich als Anti-Establishment-Fighter geriert, war mit Getöse aus Theresa Mays Kabinett ausgetreten – und stand bereit, als diese nach drei verlorenen Unterhaus-Abstimmungen über ihr EU-Abkommen das Handtuch warf.

Am vergangenen Donnerstag war schnell klar, wohin die Reise mit ihm gehen soll. Er werde das Vereinte Königreich bis 31. Oktober aus der EU führen – koste es, was es wolle und notfalls auch ohne Abkommen, das den Übergang regelt. Unter seiner Führung würde der sogenannte Backstop verschwinden – jene Notlösung, die Nordirland weiterhin in der Zollunion und dem Binnenmarkt halten und verhindern soll, dass zwischen dem EU-Staat Irland und Nordirland eine harte Grenze entsteht. Und er baute das Tory-Kabinett völlig um: Während David Cameron, der das Brexit-Referendum ohne zwingende Not anberaumt hatte und von 2010 bis 2016 Premierminister war, noch KritikerInnen seines Kurses im Kabinett duldete und May (2016-2019) aus innerparteilichen Gründen auf Ausgleich bedacht war, duldet Johnson nur Claqueure am Kabinettstisch. Und schwingt große Worte: Er werde das Land zu alter Größe führen, versichert der Mann, dem als Autor einer wöchentlichen Kolumne von der Tageszeitung «Daily Telegraph» 275.000 Pfund im Jahr zugeschoben worden war. Und er werde die Nation wieder einen.

Geeint hat er schon, aber nur die Brexiteers im Land. Mit ihm an der Tory-Spitze ist die Gefahr gebannt, die von der «Brexit Party» ausging, welche bei der EU-Parlamentswahl im Mai den Konservativen zahlreiche Stimmen und Sitze abnahm. Aber jetzt?

Labour zögert immer noch

Von einer ähnlichen Einheit kann das Anti-Brexit-Lager nur träumen. Zwar fordern die Liberaldemokraten, die schottischen NationalistInnen von der SNP, die Grünen und die walisische Partei Plaid Cymru unisono ein zweites Referendum über den EU-Austritt. Doch Labour, die größte Oppositionspartei des Landes, tut sich weiterhin schwer mit einer klaren Aussage. Die Führung unter Jeremy Corbyn hat sich die letzten Monate auf die Hauptforderung «Sofortige Neuwahlen» kapriziert in der Hoffnung, bei einem vorgezogenen Urnengang ähnlich gut (oder noch besser) abzuschneiden als 2017. Vor zwei Jahren war der Labour ein unerwarteter Erfolg beschieden gewesen; die Partei konnte mit einem klaren linkssozialdemokratischen Programm den Konservativen viele Sitze abnehmen. Zwar hatte sich die Partei auch damals zu einer klaren Positionierung in Sachen Brexit durchringen können – aber seinerzeit war das noch keine brennende Frage gewesen – der geplante Ausstieg lag noch in weiter Ferne. Das hat sich mittlerweile geändert.

Dass die Partei mit dem Brexit Mühe hat, liegt unter anderem an einem fundamentalen Dilemma: Die Mehrheit der Wahlkreise, die ihre KandidatInnen 2017 gewinnen konnten, waren beim Brexit-Referendum 2016 für den Austritt gewesen; vor allem in den ehemaligen Industriegebieten im Nordosten Englands und in den Midlands hatten traditionelle Labour-WählerInnen für den Brexit gestimmt. Dazu kam die Kritik vieler Linker an dem «Kapitalisten-Club» EU, dem man besser den Rücken kehren sollte – allerdings, so Corbyns Haltung, nicht ganz und nicht ohne Abkommen. Und so warb die Parteiführung für einen Austritt bei gleichzeitigem Verbleib in der EU-Zollunion. Eine Position, die im Parlament jedoch genauso wenig mehrheitsfähig war wie ein zweites Referendum, ein «harter» Brexit (ohne Abkommen) und Mays Deal mit der EU-Kommission.

Zwar schließt die Parteiführung (nach Rücksprache mit den großen Gewerkschaften) inzwischen eine zweite Volksabstimmung nicht mehr aus, aber eindeutig positioniert hat sich Corbyn und der Vorstand immer noch nicht.

Vier Kundgebungen

Wozu dieser Wackelkurs führt, ließ sich in den letzten Tagen beobachten. Innerhalb weniger Tage kam es in London gleich zu vier Kundgebungen und Demonstrationen. Die erste war von den LiberaldemokratInnen, den Grünen und anderen Anti-Brexit-Parteien und Gruppierungen organisiert gewesen – über Zehntausend zogen am Samstag, den 20. Juli, mit blauen EU-Fahnen zum Parliament Square, wo sie dem noch nicht gekürten neuen Premierminister Johnson ein «No to Boris – Yes to Europe» entgegen riefen. Die zweite, deutlich kleinere Manifestation fand am folgenden Montag vor der Downing Street statt. Trotz hochkarätiger RednerInnen – unter ihnen Labours Schatteninnenministerin Diane Abbott , der «Guardian»-Kolumnist Owen Jones und die langjährige Grünen-Vorsitzende Caroline Lucas (die einzige Unterhausabgeordnete der Grünen) – waren auf Einladung der Antikriegsbewegung «Stop the War Coalition» und anderen nur rund zweihundert DemonstrantInnen gekommen.

Viel lebendiger ging es hingegen auf der Demo zwei Tage später zu, zu der basisnahe Gruppierungen und die LTBG-Community unter der Parole «Fuck Boris» in der Innenstadt aufgerufen hatten. Ihnen folgten mehrere Tausend vor allem junge Menschen. Die vierte Kundgebung (am Donnerstag auf dem Parliament Square) war hingegen eher überschaubar: Nicht mal Tausend Leute kamen zusammen, obwohl die Labour-Zentrale dazu eingeladen hatte und Jeremy Corbyn sprach – vor ein, zwei Jahren war er noch ein Publikumsmagnet gewesen.

Das sei doch ein deutliches Zeichen, sagte am Tag danach Steven Wood, Eisenbahngewerkschafter und Mitglied von Labours linker Basis-Bewegung Momentum. «Jeremy Corbyn redet in der Millionenstadt, und nur ein paar Hundert Leute tauchen auf!» Das zeige doch, wie sehr sich die Stimmung geändert habe. Für Wood, der klar für einen Verbleib in der EU ist (und sie von innen her reformieren will), ist auch keineswegs ausgemacht, dass Labour eine Neuwahl gewinnen kann – falls sie überhaupt noch vor dem angekündigten Austrittsdatum 31. Oktober stattfindet. Diese wäre nur nach einem erfolgreichen Misstrauensvotum des Parlaments nach den Sommerferien und nach einer Zweiwochenfrist möglich, mithin nicht vor dem 24. Oktober, also sieben Tage vor Ablauf der vereinbarten Exit-Frist (die aber die EU im Falle von Neuwahlen wohl verlängern würde).

Absehbare Neuwahlen

Deutlicher einfacher (und schneller) zu bewerkstelligen wäre eine vom Premier angesetzte Neuwahl. Vieles deutet darauf hin, dass Boris Johnson genau darauf zusteuert. Ein zweites Referendum ginge allen Umfragen zufolge anders aus das erste (mit etwa 54 Prozent für einen Verbleib in der EU) und wird vom neuen Premierminister daher kategorisch ablehnt. Da seine Mehrheit im Unterhaus schwindet, setzt Johnson auf Konfrontation, sein (unbestreitbares) Charisma und – obwohl er nicht einmal alle Tory-Abgeordneten hinter sich hat – auf einen vorgezogenen Urnengang. Das erscheint angesichts der breiten Opposition, die ihm entgegenschlägt, auf den ersten Blick ein kühnes Unterfangen. Aber ganz so aussichtslos ist das Vorhaben nicht. Erstens hat Johnson Erfahrung mit Urnengängen: Er wurde immerhin zwei Mal in einer Volkswahl zum Oberbürgermeister der eher fortschrittlichen Hauptstadt bestimmt, konnte die Brexit-Abstimmung in seinem Sinne beeinflussen und bestand die Wahl zum neuen Tory-Chef mit Bravour. Und zweitens begünstigt ihn das britische Mehrheitswahlsystem. So bekam Margaret Thatcher bei ihren drei erfolgreichen Unterhauswahlen, die den Tories substantielle Sitzmehrheiten sicherten, nie mehr als 43,9 Prozent der abgegebenen Stimmen; bei der Wahl 1983, die ihrer Regierung 144 mehr Mandate bescherte als der gesamten Opposition (61 Prozent der Sitze), hatten nur 42,4 Prozent der WählerInnen für die Konservativen gestimmt.

Der Eton-Schüler, Oxford-Student und Multimillionär könnte einen Brexitwahlkampf also durchaus gewinnen. Britannien wieder ins Zentrum der Welt rücken, die angeblich verloren gegangene Souveränität zurückgewinnen, die Zuwanderung begrenzen – solche Parolen kommen beim konservativen Publikum vor allem im Südosten Englands glänzend an. Und für die gesellschaftlich Marginalisierten hält er allerlei Versprechungen parat. Plötzlich zählt die Staatsverschuldung nicht mehr, die bisher als Begründung für eine rabiate Sparpolitik herhalten musste und die zahllose Arme und viele Kommunen ins Elend getrieben haben. Allein für die propagandistische Vorbereitung für einen harten Brexit hat die Regierung 200 Millionen Pfund bereit gestellt. Sollte das Projekt Neuwahl für die Tories erfolgreich ausgehen, wird wieder gespart. Und privatisiert – beispielsweise durch einen Verkauf des staatlichen Gesundheitswesen; US-Konzerne zeigen bereits lebhaftes Interesse.

Und Labour? Viel Zeit bleibt nicht. Spätestens beim Labour-Parteitag vom 21. bis 25. September in Brighton muss sich entscheiden, wohin die Partei steuert. Bleibt sie bei ihrer bisherigen Sowohl-als-auch-Haltung, schlägt sie sich auch dann nicht auf die Seite der BefürworterInnen eines zweiten Referendums, wird sie eine krachende Niederlage einfahren. (pw)