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Britannien: Das Brexit-Durcheinander

Kommt eine Kehrtwende?

11. Oktober 2017 | Brexit: Während die überforderte und zerstrittene Regierung weiterwurstelt, hat die Labour Partei einen Kurswechsel eingeleitet. Aber reicht das aus?

Kann das gut gehen? Über ein Jahr ist es her, dass die britische Bevölkerung mit knapper Mehrheit (51,9 Prozent der Abstimmenden) für einen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union votierte, sieben Monate sind vergangen, seit das Austrittsdatum bekannt ist (29. März 2019) – und doch tun die regierenden Konservativen so, als sei alles in Butter, als würde sich die EU nach ihren Wünschen richten, als sei nicht längst erkennbar, dass der Bexit erhebliche Auswirkungen auf Wirtschaft, Handel, die Rolle Britanniens in der Welt, vielleicht sogar den Tourismus haben wird. Das zeigte sich beispielsweise an den Positionspapieren, die London nach der parlamentarischen Sommerpause publizierte, an Theresa Mays Reden und auf dem Parteitag der Konservativen Anfang Oktober. Mehr als ein paar abstruse Erwartungen, abenteuerliche Phantasien und einfältige Hoffnungen waren da nicht zu hören oder lesen.

Britannien werde nach dem Brexit mit allen globalen Wirtschaftsregionen rasch Freihandelsverträge abschließen, die Grenze zwischen Nordirland (Britannien) und der Republik Irland (EU) stelle bestenfalls eine technische Herausforderung dar (elektronische Überwachung des Warenverkehrs), London bleibe natürlich das Finanzzentrum der Welt, die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs habe keinerlei Gültigkeit mehr – und Brüssel könne bestenfalls mit einem Bruchteil der auf 80 bis 100 Milliarden Euro geschätzten Trennungskosten rechnen. Ist es schiere Inkompetenz, die solche Träume blühen lässt? Eine dramatische Überschätzung der eigenen Fähigkeiten? Und eine völlige Verkennung der Bedeutung eines Landes, das die Herrlichkeiten des Britischen Empires längst hinter sich hat?

Wahrscheinlich spielt alles eine Rolle: Die imperiale Grundhaltung, die viele Tories weiterhin an den Tag legen („der Rest der Welt wird schon tun, was wir verlangen“), kombiniert mit beachtlicher Ahnungslosigkeit und einer guten Portion Arroganz ergibt eine Mischung, die selbst wohlwollende DiplomatInnen in Brüssel fassungslos macht. Denn die BefürworterInnen eines „harten“ Brexits verfolgen mit Verve die Quadratur des Kreises: Alle Vorteile behalten und nichts dafür geben. Sie schließen einen Kompromiss in Sachen Personenfreizügigkeit aus und wollen das Land doch im EU-Binnenmarkt und der Zollunion belassen.

Dabei müsste ihnen eigentlich klar sein, dass das Überleben ihrer MInderheitsregierung vom Goodwill der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) abhängt, die zwar ebenfalls den Brexit befürwortet, aber die „harte“ Version ablehnt. Allmählich dämmert nämlich den nordirisch-protestantischen Bauern, dass London gar nicht daran denkt, die EU-Agrarsubventionen wettzumachen, die sie mit Britanniens Exit verlieren. Und die ebenfalls von der DUP erhoffte Unsichtbarkeit der Grenze zwischen Nord- und Südirland ist eine Schimäre; das jedenfalls ergab eine Untersuchung der Dubliner Regierung. Sollte es zum Brexit kommen, so der Befund, könne an der rund 500 Kilometer langen EU-Außengreze auf der irischen Insel im Falle eines Brexits nichts so bleiben, wie es ist.

Auch anderswo schrillen mittlerweile die Alarmglocken. Viele internationale Banken denken an eine Verlagerung ihrer Aktivitäten, die britische Landwirtschaft sorgt sich um ihre SaisonarbeiterInnen (die schon jetzt seltener ins Land kommen), das Nationale Gesundheitssystem (NHS) können noch stärker in die Krise rutschen, wenn ausländische ÄrztInnen und Pflegekräfte ausbleiben.

Labours Dilemma

Rutsch das Land also in eine Katastrophe? Vielleicht nicht ganz. Jedenfalls hat sich die oppositionelle Labour Partei im August von alten Positionen verabschiedet und eine Politik des „sanften“ Brexits angekündigt. Bisher lag die in ihrer Haltung zur EU gespaltene Partei in etwa auf Tory-Linie: Das Votum der Bevölkerung müsse umgesetzt werden, sagte Labour-Chef Jeremy Corbyn und befahl den Abgeordneten bei der ersten Lesung des Brexit-Gesetzes im Unterhaus, mit der Regierung zu stimmen.

Inzwischen aber hat sich einiges geändert: Sein Wahlerfolg im Juni, der Theresa May zur Premierministerin auf Abruf machte, könnte durchaus Prolog für einen vorzeitigen Regierungswechsel gewesen sein. Vor allem die jungen BritInnen, die Corbyns Alternativprogramm zujubelten, Labour zu einem überaus respektablen Ergebnis verhalfen und den den neuen Hoffnungsträger auf dem Labour-Parteitag Ende September frenetisch feierten, sind ganz entscheiden pro-europäisch eingestellt.

Im ebenso EU-freundlichen Schottland kann Labour im Falle vorgezogener Wahlen nur dann weitere Sitze gewinnen, wenn die Partei Brücken schlägt. Die meisten Gewerkschaften (vor allem sie finanzieren Labour) lehnen einen „harten“ Brexit genauso ab wie die schottischen NationalistInnen, die Liberaldemokraten, die Grünen und eine ganze Reihe von Tory-Abgeordneten. Und dann ist da noch ein Schreckgespenst: Das einer Labour-Regierung, die möglicherweise just in dem Moment die Amtsgeschäfte übernimmt, wenn eine Brexit-geschüttelte Ökonomie in den Keller rasselt. Corbyns Anti-Austeritätspolitik, die angekündigte Anhebung der Sozialausgaben, die Rücknahme der Studiengebühren, die versprochenen Investitionen – alles wäre Makulatur, sollte die Wirtschaft tatsächlich den Absturz hinlegen, den viele ÖkonomInnen bei einem definitiven Austritt aus dem EU-Binnenmarkt erwarten.

„Flexible Vieldeutigkeit“

Die ambivalente Haltung, die Labour bislang beim Thema Brexit vertrat, hatte Gründe. Während die Tories ihr Klientel ganz auf den Ausstieg einstimmte, ist Labours tatsächliche und potenzielle WählerInnenschaft gespalten: In London und einigen anderen urbanen Zentren des Landes wie Liverpool oder Manchester überwiegen jene, die einen Verbleib in der EU befürworteten; in den eher ländlichen, ehemals industrialisierten Regionen (wie den Bergbaugebieten) votierte die früher einst loyale Basis hingegen für den Brexit. Deswegen scheute die Parteispitze eine eindeutige Positionierung in der EU-Frage – offenkundig zu recht, wie das Ergebnis der Unterhauswahl zeigte.

Nicht minder bedeutsam für Labours „flexible Vieldeutigkeit“ (wie die Partei ihre langanhaltende Ambivalenz inzwischen nennt) war (und ist) die Tatsache, dass in Britannien – wie auch anderswo – viele Linke der neoliberal orientierten EU nicht vorbehaltlos zustimmen. Das gilt für Corbyn und seinen Schattenschatzkanzler John McDonnell ebenso wie für radikalere Trade Unions wie die Eisenbahnergewerkschaft RMT. Sie lehnen Europa und internationale Zusammenarbeit nicht ab, im Gegenteil. Aber sie verweisen mit guten Argumenten auf die aktuelle Politik der EU, etwa im Umgang mit Griechenland, bei der Durchsetzung von Privatisierungsprogrammen oder in der Handelspolitik.

Dazu kommt die Sorge, dass die EU-Kommission einer möglichen linken Regierungspolitik ganz erheblich ins Handwerk pfuschen könnte: Ist eine Wiedervergesellschaftung des Energiesektors, der Bahnverkehrs oder der Wasserwerke überhaupt EU-kompatibel? Würden geltende EU-Regeln eine massiv höhere Besteuerung der Reichen überhaupt zulassen? Oder wäre das linkssozialdemokratische Parteiprogramm nicht viel einfacher außerhalb der EU durchzusetzen, wie so manche Parteilinke argumentieren?

Impuls für eine Reform der EU?

Angesichts der Gespaltenheit der Partei in der Brexit-Frage war es dann doch überraschend, wie klar sich Brexit-Schattenminister Keir Starmer Ende August äußerte. Offenbar mit Rückendeckung der Parteispitze schlug er vor,

● dass das Vereinigte Königreich über den offiziellen Austrittstermin (29. März 2019) für eine Übergangszeit von zwei, möglicherweise vier Jahren im Binnenmarkt bleibt,

● dass so lange die europäischen Regeln und Gesetze gelten,

● dass die Regierung (Starmer meint natürlich eine Labourregierung) in dieser Zeit mit der EU Verhandlungen über Migrationsmodalitäten und andere Politbereiche führt.

Außerdem schloss Starmer nicht aus, dass bei einem erfolgreichen Verhandlungsergebnis das Vereinigte Königreich dauerhaft Mitglied des EU-Binnenmarkts oder in einer engen Assoziation mit der EU bleiben könnte.

Interessant an Starmers Vorstoß ist gleich mehrerlei. Erstens: Auch wenn die Initiative unter anderem den Zweck hat, die Premierministerin unter Druck zu setzen (indem sie den EU-BefürworterInnen unter den Tories eine Alternative bietet), so schlägt Labour die Tür nicht zu. Zweitens: Nach anfänglichem Grummeln haben die Labours Brexiteers einigermaßen eingelenkt: Auf dem Parteitag spielte das Thema jedenfalls keine Rolle. Drittens schluckten sie offenbar auch die (gar nicht so abwegige) Option eines Verbleib des Landes in der EU, falls die erhofften Verhandlungen mit anderen 27 EU-Mitgliedsstaaten zu einem akzeptablen Ergebnis führen sollten. Sollte dabei eine sozialere, offenere, demokratischere Union herauskommen, wäre allen fortschrittlichen Kräften gedient.

Viel hängt davon ab, ob Corbyn und sein Team am Ball bleiben – und beispielsweise mit den linken und aufgeschlossenen Parteien, Gewerkschaften und Bündnissen Europas Gespräche darüber aufnimmt, wie eine bessere EU aussehen könnte und welche Schritte einzuleiten wären. Nur eine solche Bewegung könnte die Union in eine Richtung zwingen, die sie wieder attraktiver macht. Jedenfalls ist es eine reizvolle Vorstellung, wenn ausgerechnet aus dem Land, das kurz vor dem Austritt steht, wesentliche Impulse für eine grundlegende Reform kämen.

Die Alternative dazu wäre schauderhaft: Eine noch neoliberalere Union mit noch mehr nationalchauvinistischen Regierungen und eine international isolierte, im ökonomischen Abwärtsstrudel gefangene potenzielle Labourregierung kann sich eigentlich niemand wünschen. (pw)