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Britanniens Medien: Bekämpfen oder totschweigen

Rückgrat statt Spin

5. November 2015 | Eine dermassen schlechte Presse wie Jeremy Corbyn hatte seit ewigen Zeiten kein britischer Spitzenpolitiker. In seinem Fall ist das auch nicht weiter schlimm.

Sie sahen ihn nicht kommen. Keine Zeitungsredaktion, keinE ReporterIn, kein TV-Sender hatte Jeremy Corbyn auf dem Radar, als die Labour-Partei im Frühsommer eine neue Führung zu suchen begann. Es habe «im politischen Journalismus der letzten Jahre kaum ein grösseres Versagen gegeben als die Unfähigkeit der Medien, den grundlegenden Wandel in der politischen Landschaft zu erkennen, der zum Corbyn-Erdbeben führte», steht in der aktuellen Ausgabe von «The Journalist», dem Mitgliedermagazin der britischen JournalistInnengewerkschaft NUJ.

Und dann, als der Boden unter dem Partei-Establishment längst ins Rutschen gekommen war, hätten die Medien – so der «Journalist» – Corbyn entweder als «verrückten und unwählbaren Peacenik» charakterisiert. Oder als gutmeinendes Politfossil, das einer längst verlorenen Sache hinterher läuft. Das ist noch freundlich formuliert. Die meisten Medien, insbesondere die rechte Kampfpresse, hauten den Sozialisten und Unterhaus-Veteranen Corbyn in die Pfanne wie keinen Spitzenpolitiker zuvor. Er sei ein Terroristenfreund, ein Hamas-Sympathisant (und somit auch so was wie ein Antisemit), ein vaterlandsloser Geselle und eine Gefahr für die britische Wirtschaft.

Medialer Rohrkrepierer

All diese Warnungen haben bekanntlich nichts genützt. Corbyn wurde mit überwältigender Mehrheit zum neuen Labourvorsitzenden gewählt. Das mediale Dauerfeuer habe das Gegenteil dessen erreicht, was beabsichtigt war, vermutet der «Journalist» – weil die vielen Attacken von einer Zunft vorgetragen wurden, «die den Kontakt zur Realität verloren hat». Und es stimmt ja auch: Gerade die Tatsache, dass Corbyn von den Medien des Establishments so angegangen wurde, machte ihn zum Hoffnungsträger einer neuen Generation.

Laut «Guardian» vom Montag hat der Wechsel an der Labourspitze viele Jugendliche ermutigt: Die Studierenden gehen wieder auf die Strasse, Initiativen wie die Campaign for Nuclear Disarmament verzeichnen beachtlichen Zulauf, schon lange waren die Jungen nicht mehr so politisiert wie heute. Auch das hat sich in den meisten Redaktionsstuben bisher nicht herumgesprochen.

Werden die traditionellen Medien also überschätzt? Verlieren sie an Einfluss? Nicht unbedingt. Doch das Beispiel zeigt, dass sich medial ignorierte Bewegungen entwickeln können. Und kaum zu stoppen sind, wenn sie eine Dynamik entfalten. Das war im vergangen Herbst auch in Schottland zu sehen, wo (bis auf eine Zeitung) alle Medien die Unabhängigkeit für Unfug erklärten – und trotzdem fast ein «Ja» zustande gekommen wäre.

Sechs Fragen, sechs Ausflüchte

Die konservativen Blätter von Rupert Murdoch & Co. lassen weiterhin kein gutes Haar am neuen Labourchef. Als Corbyn kurz nach seiner Wahl an einer nationalen Gedenkfeier schwieg, statt die Nationalhymne mitzusingen, war die Hysterie gewaltig («Corbyn brüskiert die Queen!»). Man kann davon ausgehen, dass «Sun», «Times», «Daily Mail», «Telegraph», «Daily Express» und all die anderen Blätter «Heuchler!» gerufen hätten, wäre es Corbyn, dem überzeugten Anti-Monarchisten, in den Sinn gekommen, «Good save the Queen» zu summen.

Ansonsten aber schweigen die Massenmedien. Während sie früher ausgiebig über die parlamentarische Prime Minister’s Question Time berichteten (jeden Mittwoch kann der Oppositionsführer den Regierungschef herausfordern), verlieren sie darüber momentan kaum ein Wort. Dabei hat sich Corbyn was Neues einfallen lassen: Nicht er stellt die Fragen, sondern BürgerInnen, die ihm das zumailen, was sie bewegt. Und bei der Fragestunde vergangene Woche hat der Labourlinke sechs Mal diesselbe Frage gestellt (es ging um die Kürzung staatlicher Zuschüsse für geringverdienende Familien). Und sechs Mal ist ihm David Cameron ausgewichen. Ein beachtliches Spektakel – aber kaum reportiert.

Und Corbyn? Der nimmts gelassen. «Die sollen ruhig so weitermachen», spottete er am Labourparteitag im September, irgendwann werde «das Kommentariat schon merken, wie die Welt wirklich aussieht».

Ganz egal sind ihm, dem NJU-Mitglied, die Mainsteam-Medien allerdings nicht. Corbyn verzichtet zwar weiterhin auf Spin-Doktoren, deren einzige Aufgabe darin besteht, Redaktionen zu beeinflussen und jeder Meldung den richtigen Dreh verpassen. Er denkt auch – anders als Tony Blair – nicht daran, den Medienzaren zu hofieren. Aber er hat seit letzter Woche einen Kommunikationsverantwortlichen: Seamus Milne, seit Jahrzehnten einer der scharfsinnigsten «Guardian»-Redakteure, ein entschieden links argumentierender Kommentator und Autor einer ausgezeichneten Politanalyse des Bergarbeiterstreiks 1984/85 (Titel: «The Enemy Within»). Er ist jetzt Labours neuer Pressesprecher. (pw)