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Britannien: Streiks bei U-Bahn und Heathrow Express

Im Gedenken an Bob

24. April 2014 | Neue Arbeitsniederlegungen, zahllose Urabstimmungen, wachsende Mitgliederzahlen: Die britische RMT gehört zu den erfolgreichsten Gewerkschaften Europas.


Den Schock konnten sie rasch überwinden. Zwei Wochen lang trauerten die Mitglieder und FunktionärInnen der Transportgewerkschaft National Union of Rail, Maritime and Transportworkers (RMT) um ihren Generalsekretär Bob Crow (52), der Mitte März unerwartet verstorben war. Sie verfolgten zu Tausenden den Trauerzug, hängten ein grosses schwarzes Transparent an das Gewerkschaftshaus in London und legten Kondolenzbücher auf, die sich schnell füllten. Danach aber war wieder «business as usual». «Im Gedenken an Bob setzen wir das fort, was seine zwölf Jahre als Generalsekretär ausgezeichnet hat», sagt RMT-Sprecher Geoff Martin in der Gewerkschaftszentrale: «den konsequenten Kampf für die Interessen der Mitglieder».

Dieser Kampf wird kommende Woche wieder für Schlagzeilen sorgen. Ab Montagabend steht – sollte es nicht doch noch zu einer Einigung mit dem städtischen Verkehrsunternehmen Transport for London (TfL) kommen – der gesamt U-Bahnverkehr der Hauptstadt für zwei Tage still. Und ab Dienstagmorgen bleiben die Züge zum Flughafen Heathrow 48 Stunden lang in den Depots.

Mit dem Ausstand wiederholen die U-Bahn-Beschäftigten ihren zweitägigen Streik von Anfang Februar, der bemerkenswert populär gewesen war. Selbst die vielen PendlerInnen, die vor verschlossenen Tube-Stationen standen, zeigten Verständnis für die Aktion. Schliesslich hatten TfL und der konservative Londoner Oberbürgermeister Boris Johnson, der als Nachfolge des Tory-Vorsitzenden David Cameron gehandelt wird, die Schliessung aller Fahrkartenschalter angekündigt: 950 Stellen sollen abgebaut werden. Dabei hatte Johnson vor wenigen Jahren noch Wahlkampf mit dem gegenteiligen Versprechen betrieben: Erhalt aller Ticket-Offices. Weniger Personal in den Bahnhöfen aber, das wissen die LondonerInnen, bedeutet weniger Sicherheit und Hilfe – vor allem bei Unfällen oder Anschlägen wie jenen im Juli 2005.

«Wir haben die PR-Schlacht gewonnen», sagt Geoff Martin, «und werden wieder gewinnen». Mit Ständen in der Stadt, mit Flugblattaktionen und Demonstrationen vor Johnsons Büro hatten die RMT-AktivistInnen die Öffentlichkeit überzeugen können. Nach den zwei Streiktagen im Februar signalisierte TfL Verhandlungsbereitschaft, doch die Gespräche führten zu keinem Ergebnis. Daher der neue Ausstand, der vom 6. bis 8. Mai wiederholt werden soll.

Neunzig Prozent

Zugute kommt der RMT dabei der grosse Ärger der Bevölkerung über die Bahnprivatisierung. Seit der Zerschlagung und dem Verkauf von British Rail vor zwanzig Jahren fordert eine massive Mehrheit eine Wiedervergesellschaftung des öffentlichen Verkehrs, darunter den auf der beliebten, aber horrend teuren Strecke zum Flughafen Heathrow. Hier will der private Betreiber demnächst das gesamte Begleitpersonal auf den Zügen des Heathrow Express streichen. Das könnte über 200 Jobs kosten, die Hälfte der Belegschaft. Neunzig Prozent der betroffenen RMT-Mitglieder votierten für die Arbeitsniederlegung.

Und das sind längst nicht alle Aktionen der RMT. Anfang April streikte das Putzpersonal von Merseyrail (Liverpool) gegen das miserable Entgelt auf Mindestlohnniveau (6,31 Pfund pro Arbeitsstunde, umgerechnet 7,65 Euro). Einen Tag später begann eine Urabstimmung der Beschäftigten des Bahnunternehmens First Great Western, die gegen Leiharbeit und den Tagelohn bei Subfirmen protestieren. Und eine Woche darauf beschlossen die WartungsarbeiterInnen von Bahnunternehmen im Norden Englands mehrtägige Streiks gegen schlechtere Bedingungen. Wann immer die Basis zum Konflikt bereits ist, unterstützen wir die KollegInnen – das war das Motto von Bob Crow gewesen, und das hat die RMT zur am schnellsten wachsenden Gewerkschaft Britanniens gemacht. Innerhalb von Crows Amtszeit (2002–2014) stieg die Mitgliederzahl von 57.000 auf über 80.000, ein Plus von vierzig Prozent.

Bürokratische Hürden

Dass fast jede Woche irgendwo im zersplitterten Bahnwesen eine Urabstimmung stattfindet (meist mit hohen Zustimmungsraten), ist mittlerweile fester Bestandteil der RMT-Strategie. «Damit zeigen wir den Unternehmen, wie zornig ihre Beschäftigten sind», sagt Martin, «viele Firmen lenken dann ein und lassen mit sich verhandeln». Das ist für die Gewerkschaft aufwendig.

Denn seit den Antigewerkschaftsgesetzen von Margaret Thatcher müssen die britischen Trade Unions vor jeder Kampfmassnahme ihre Mitglieder im entsprechenden Bereich anschreiben, sie danach ebenfalls brieflich über das Ergebnis informieren und anschliessend die Unterlagen samt allen Informationen (Name des Mitglieds, Adresse, Sozialversicherungsnummer, Firmenadresse, Arbeitsplatzbeschreibung und so weiter) den Unternehmen übergeben. «Ist auch nur ein Detail falsch, prozessieren die gegen uns», sagt Geoff Martin. Inzwischen sei eine ganze Abteilung in der RMT-Zentrale mit solchen Verwaltungsaufgaben beschäftigt. Aber effizient scheint sie zu sein: Es ist schon eine Weile her (2010), dass ein Unternehmen eine RMT-Abstimmung erfolgreich anfechten konnte.

So konfliktbereit waren die BähnlerInnen nicht immer gewesen. Zu den Zeiten von British Rail hatten sie mit nur einem – staatlichen – Unternehmen zu tun. Erst die Privatisierung und mit ihr die Massenentlassungen, die Ausgliederungen, die Angriffe auf Löhne und Arbeitsbedingungen, machten aus ihrem eher behäbigen Verband eine flexibel agierende, dezentrale und handlungsstarke Organisation, die sich inzwischen als «antikapitalistische Gewerkschaft» (Geoff Martin) versteht. Und überall präsent ist.

So widersetzen sich RMT und andere Transportarbeitergewerkschaften derzeit mit Kundgebungen, Flyeraktionen und auf juristischem Weg der geplanten Wiederprivatisierung der East Coast Mainline, der Ostküstenhauptstrecke von London nach Edinburgh. Im Jahre 2009 hatte die Bahnaufsichtsbehörde der öffentlichen Nonprofit-Bahngesellschaft Directly Operated Railways (DOR) die Betriebserlaubnis erteilt, nachdem zuerst der private Betreiber GNER pleite gegangen war und dann National Express (ebenfalls in Privathand) scheiterte. Innerhalb kurzer Zeit entwickelte sich DOR zu einem Musterunternehmen, das dem Staat Geld einbrachte, statt zu kosten. Doch nun will die Regierung den Betrieb erneut Privaten überlassen.

Eine Kaderschmiede in Doncaster

Für solche Kampagnen braucht es erfahrene Leute. Und die hat RMT in den letzten Jahren rekrutieren können. RMT-Sprecher Geoff Martin zum Beispiel hatte früher im kulturellen Bereich (etwa beim Glastonbury Festival) für den gewerkschaftlichen Solidaritätsgedanken mobilisiert, und Andy Gilchrist war einst ein führender Gewerkschafter der britischen Feuerwehrleute gewesen, bevor er die RMT-Akademie in Doncaster übernahm. «Die Elite weiss, wie wichtig Ausbildung ist», sagt er, «viele Arbeiter hingegen haben zu wenig Ahnung von den politischen und ökonomischen Zusammenhängen in dieser Klassengesellschaft».

Weiterbilden, agitieren, organisieren: Das sei doch schon immer das Konzept der Arbeiterbewegung gewesen. Und so bietet das RMT-Ausbildungszentrum nicht nur Kurse in Rechts-, Gewerkschafts-, Organisations- und Sicherheitsfragen an, sondern auch Schulungen, die sich mit dem Kapitalismus beschäftigen, dem Profitstreben und Bedeutung der Gemeinwirtschaft für das Wohl aller.

Doncaster ähnelt also einer Kaderschmiede: Hier werden die AktivistInnen geschult, die die Basis der RMT-Mobilisierungsstrategie bilden – nach innen wie nach aussen. Während viele europäische Gewerkschaften diesen Bereich vernachlässigen (in Deutschland hatte zuletzt die frühere IG Medien ihre Mitglieder in Politischer Ökonomie geschult), will Gilchrist jetzt die Kapazität des Zentrums von 450 TeilnehmerInnen pro Jahr auf 900 verdoppeln.

Diese Investition könnte sich auszahlen. Denn allmählich dämmert auch der Führung der Labour Partei, dass die Bahnpolitik fundamental geändert werden muss. Allein im Jahre 2013 hatten die öffentliche Hand die privaten Bahnfirmen mit vier Milliarden Pfund (umgerechnet 4,9 Milliarden Euro) subventioniert; im gleichen Zeitraum zahlten diese Unternehmen über 200 Millionen Pfund an Dividenden aus. Nun will Labour, sollte die Partei die Wahl 2015 gewinnen, die Ausschreibung der East Coast Mainline stoppen und später eventuell die Verträge mit den Privaten auslaufen lassen. Doch dazu braucht es Druck von unten. (pw)