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Britannien: Die Basis lässt nicht locker

An allen Fronten

21. September 2006 | Für kommenden Samstag hat die Antikriegsbewegung zu einer Grossdemonstration aufgerufen, um den Druck auf die Regierung zu erhöhen. Derweil gehen den Militärs die Freiwilligen aus.


Wohl nur selten zuvor haben sich in einer Londoner Kirche so viele Nichtgläubige versammelt, und wahrscheinlich wurde an einem solchen Ort auch noch nie so viel geklatscht. Fast sechshundert Leute waren gekommen, um ihre Solidarität mit Flight Lieutenant Malcolm Kendall-Smith zu zeigen – und sie zahlten auch noch dafür. 15 Pfund, umgerechnet knapp 27 Euro, kostete dieser Abend in der St. James's Church am Piccadilly, und trotzdem war er lange vorher ausverkauft. Aufgerufen zu der Veranstaltung hatte die Stop the War Coalition, die britische Antikriegsbewegung. Und aufgeboten war eine illustre Schar von KünstlerInnen und Kulturschaffenden. Die Kabarettisten Mark Thomas und Mark Steel verspotteten die Regierung, der Komponist Michael Nyman spielte auf dem Piano, die Schauspielerin Janet Suzman rezitierte aus einem Stück von George Bernard Shaw, der Dramatiker David Edgar liess gleich ein halbes Ensemble auftreten, die irakische Autorin Haifa Sangana zitierte aus Briefen, die Modedesignerin Vivienne Westwood sprach zum Trema Menschenrechte. Und dann traten da natürlich auch Ken Loach auf, der linke Filmregisseur, und Tony Benn, der frühere Minister in Labourregierungen und heutige Präsident der Antikriegsbewegung.

Sie alle (und noch mehr) feierten in dieser «Nacht des Gewissens» die Entscheidung des Luftwaffenoffiziers Kendall-Smith, der sich geweigert hatte, seinen Dienst im Irak anzutreten, und deswegen im April 2006 von einem Kriegsgericht zu acht Monaten Haft und zur Übernahme der Gerichtskosten in Höhe von 20.000 Pfund (rund 30.000 Euro) verurteilt worden war. Das Eintrittsgeld dieses Abends war für ihn bestimmt.

«Eine ganze Reihe von Soldaten hat den Kriegsdienst im Irak abgelehnt», sagt Andrew Burgin, Sprecher der Stop the War Coalition (StWC), «aber keiner kam bisher dafür ins Gefängnis. An Kendall-Smith hat das Militär nun ein Exempel statuiert.» Den Elitesoldaten Ben Griffin zum Beispiel, sagt Burgin, der im Souterrain von Houseman's Bookshop ein linkes Antiquariat betreibt, habe das berüchtigte britische Sonderkommando Special Air Services (SAS) einfach gehen lassen, nachdem er den Dienst im Irak verweigerte. Griffin hatte wie Kendall-Smith bereits einen Irakeinsatz hinter sich und dabei miterlebt, wie die Besatzungstruppen mit der Bevölkerung umspringen, danach widersetzte er sich einem neuen Marschbefehl. Aber warum konnte Griffin, der Berufssoldat, seinen Job einfach vorzeitig kündigen? «Offenbar wollte die Geheimtruppe SAS nicht noch mehr Publizität», vermutet Burgin. «Ausserdem sind die Spezialeinheiten mehr als andere Truppenteile auf die Loyalität ihrer Mitglieder angewiesen.»

Engagierte Angehörige

Es rumort in der britischen Armee und der Royal Air Force. Die Zahl der SoldatInnen, die sich «unerlaubt vom Dienst entfernen», hat sich seit Beginn der Irakinvasion verdreifacht. Noch stärker zugenommen hat das Engagement von Familien der im Irak und in Afghanistan eingesetzten SoldatInnen. Sie sorgen sich nicht nur um ihre Angehörigen, sie bestreiten auch die Legalität und den Sinn der militärischen Aktionen. Sie haben sich zusammengeschlossen – und kooperieren mit der Antikriegsbewegung. Das ist eine neue Entwicklung, sagt Burgin, denn «ohne die zumindest stillschweigende Zustimmung der Soldaten würden sie dies nie tun». Und was hat die Stop the War Coalition den rund hundert Familien, darunter auch Angehörigen von Gefallenen, zu bieten? «Wir schreiben mit ihnen Briefe an die Abgeordneten, wir begleiten sie bei ihren Protestbesuchen in die Downing Street 10, wir sammeln für sie Geld, wir bieten Rechtsbeistand, wir schaffen Öffentlichkeit.»

Noch gibt es keine Soldatenkomitees, noch ruft niemand zur Desertion auf, noch besteht kein Netz, das SoldatInnen, die untertauchen wollen, auffangen könnte – in der britischen Armee dienen ausschliesslich BerufssoldatInnen, die sich freiwillig verpflichten. Aber diskutiert wird über solche Massnahmen. Denn eine wachsende Zahl der SoldatInnen leidet unter posttraumatischen Belastungsstörungen; viele halten ihren Job kaum noch aus. Sie würden im Südirak und in Afghanistan mit offenen Armen empfangen, hatten ihnen die Befehlshaber versprochen – und nun können sie sich kaum aus den Kasernen wagen.

«Time to go»

Während sich immer mehr Angehörige der Organisation Military Families against the War anschliessen (selbst in der eher konservativen und militärfreundlichen Region Cornwall haben sich kürzlich mehrere Soldatenmütter zusammengetan), reagiert die britische Bevölkerung pragmatisch gelassen. Zwar sind, laut Umfragen, immer noch 60 bis 65 Prozent der Meinung, dass die Entscheidung für den Krieg im Irak falsch war, und noch mehr empört, dass sie auf Lügen basierte. Aber jetzt, so denken viele, sind die Truppen nun mal dort – und sollten eine möglichst konstruktive Rolle spielen.

Diese Haltung, gibt Andrew Burgin zu, «macht uns zu schaffen». Auch innerhalb der Antikriegskoalition, die den sofortigen Abzug der Besatzungstruppen fordert, gibt es unterschiedliche Positionen. Ein Teil ist der Meinung, dass die britischen und US-amerikanischen Militärs im Irak durch Uno-Friedenstruppen aus muslimischen Staaten ersetzt werden müssten. Burgin und mit ihm die Mehrheit von StWC hält dies für eine Illusion: «Und woher sollen diese Kräfte kommen? Aus dem Iran, der Türkei, aus Pakistan?» Wer auf die perfekten Umstände hoffe, warte ewig, sagt er. «Irgendwann muss man gehen. Die Irakis sind durchaus in der Lage, nach sich selbst zu schauen, wenn die Besatzer mal weg sind.» Das würden auch viele IrakerInnen sagen, die vor dem Regime von Saddam Hussein nach Britannien geflüchtet waren.

«Time to go» – es ist Zeit, zu gehen – lautet daher das Motto der landesweiten Demonstration, zu der die auch von vielen britisch-muslimischen Organisationen unterstützte Antikriegskoalition jetzt aufgerufen hat. An dieser Demonstration am kommenden Samstag werden sicherlich nicht zwei Millionen Menschen teilnehmen (so viele hatten im Februar 2003 kurz vor Kriegsbeginn protestiert), und zwar schon deswegen, weil erstmals nicht in der Millionenmetropole London demonstriert wird, sondern im kleineren Manchester, wo tags darauf der Labourparteitag beginnt. Aber es werden viele GewerkschafterInnen erwartet, denn mittlerweile sind alle grossen Gewerkschaften des Landes offiziell Mitglied der Antikriegsbewegung (vgl. Randspalte). Mehr als die knapp Hunderttausend, die Anfang August gegen Israels Krieg im Libanon durch London zogen, werden allemal zugegen sein.

Dauerblockaden und Frauencamps

Die britische Friedensbewegung ist sich nicht nur in der Frage uneins, ob und durch wen die Besatzungstruppen im Irak und in Afghanistan ersetzt werden sollen. Es gibt auch Unterschiede im taktischen Vorgehen. So geht die StWC davon aus, dass nur politischer Druck auf die Regierung zum Ziel führt. Andere Gruppierungen hingegen setzen auf direkte Aktionen und hoffen auf die Wirksamkeit ihrer Störmassnahmen. Und davon gibt es viele. Sie sind vor allem in der Antiatomwaffen-Bewegung Campaign for Nuclear Disarmament (CND) organisiert. Diese älteste der britischen Friedensorganisationen ist in den fünfziger Jahren gegründet worden; ihr Logo – es zeigt die Flaggensignale der Buchstaben N und D in einem Kreis – wurde später weltweit zum Symbol für Frieden.

Viele CND-Aktive agieren seit Jahren vor US-amerikanischen und britischen Militäreinrichtungen. Ein paar Beispiele:

● Jeden Dienstag protestieren PazifistInnen und KriegsgegnerInnen vor Menwith Hill, der grössten elektronischen Abhöranlage der Welt. Diese Anlage dient nicht nur der Spionage, sondern ist ein wesentlicher Bestandteil des US-Star-Wars-Konzepts, das Weltraumwaffen vorsieht und US-Präventivschläge erlaubt. Im Juni wurden Helen Jones, 68, und Sylvia Boyes, 62, bei dem Versuch festgenommen, die US-Anlage zu betreten. Die beiden Grossmütter waren zwei Monate vorher schon bei einer ähnlichen Aktion festgenommen worden. Falls sie, wie die Polizei behauptet, wirklich mit Hammer und Kabelschneider ausgerüstet waren, drohen ihnen zehn Jahre Haft. Ihnen wird ein Verstoss gegen das seit dem Frühjahr geltende Gesetz gegen «das schwere organisierte Verbrechen» zur Last gelegt. Beide wollen sich jedoch «davon nicht einschüchtern lassen».

● Jedes zweite Wochenende treffen sich Frauen vor der britischen Atombombenfabrik Aldermaston in Südengland. In dieser Fabrik – sie ist die einzige des Landes und wird vom britischen Verteidigungsministerium, dem staatlichen Atomunternehmen British Nuclear Fuels und dem US-Konsortium Lockheed Martin gemanagt - werden derzeit neue Laserwaffen entwickelt. Mitte Juli nahm die Polizei erneut zehn Demonstrantinnen fest, weil sie die Zufahrt blockiert hatten.

● Viele Aktivistinnen – die Älteren unter ihnen hatten ihr Engagement vor 25 Jahren begonnen, als die USA ihre Mittelstreckenraketen Cruise Missiles in Greenham Common stationierten – besuchen regelmässig auch andere Frauencamps und versuchen immer wieder, Atomwaffentransporte von Aldermaston nach Faslane in Schottland zu blockieren.

● Vor Faslane – in diesem britischen Kriegsmarinehafen sind die Trident-U-Boote mit ihren Atomwaffen stationiert – beginnt Anfang Oktober eine 365-tägige Dauerblockade. Das dortige Peace Camp (es besteht seit 1982) will mit dieser Aktion, zu der täglich einhundert AntikriegsaktivistInnen erwartet werden, auch ein Zeichen setzen gegen die Aufrüstungspläne von Gordon Brown, dem möglichen Nachfolger von Premier Tony Blair.

Die Armee am Anschlag

«Wir sind immer noch da, und wir lassen nicht locker», sagt Andrew Burgin, «und das ist vielleicht unser grösster Erfolg.» An einem denkbaren US-Feldzug gegen den Iran wird sich die britische Regierung angesichts solcher Opposition jedenfalls kaum beteiligen können – zumindest nicht mit Bodentruppen. Und wer weiss, die innenpolitische Stimmung kann auch schnell umschlagen. Noch mehr Verluste wie jetzt in Afghanistan (seit Anfang August sind dort 23 Briten umgekommen) und noch mehr Tote im Irak (seit Kriegsbeginn 117) könnten das Blatt wenden, hofft Burgin. Eine solche Entwicklung ist angesichts des britischen Stoizismus, den Erfahrungen aus dem Nordirlandkrieg und der Kolonialgeschichte des Empires allerdings kaum zu erwarten.

Dennoch haben die Militärstrategen in Downing Street 10 und in der Armee ein Problem: Sie finden nicht mehr genug Freiwillige. Die britische Armee (sie umfasst rund 110.000 Personen, Köchinnen, Lastwagenfahrer, Sanitätspersonal, PC-SpezialistInnen inklusive) braucht jedes Jahr 10.000 bis 20.000 neue RekrutInnen, um einsatzfähig zu bleiben. In Schottland zum Beispiel, einem traditionellen Rekrutierungsgebiet, ist die Zahl der Freiwilligen jedoch merklich gesunken. Das mag damit zu tun haben, dass die SchottInnen die Irakpolitik der Labourregierung noch stärker ablehnen als die EngländerInnen. Vielleicht ist es aber auch auf das Engagement von Leuten wie Rose Gentle zurückzuführen. Ihr Sohn starb 2004 in Basra. Und seither geht sie von Schule zu Schule, um dort der Propaganda der werbenden Militärs entgegenzutreten und den Jungen zu erzählen, wie es war, als ihr Gordon in den Krieg zog und nicht mehr zurückkam.

Wie eng es für die Militärs geworden ist, zeigte ein Interview der britischen Tageszeitung «Guardian» Anfang September mit dem neuen Generalstabschef Richard Dannatt: «Können wir die Lage meistern? Ja. Aber nur knapp.» Und tags darauf forderte Kim Howells, Staatssekretär im Aussenministerium, die anderen Nato-Staaten auf, mehr Truppen nach Afghanistan zu schicken. (pw)