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Britannien: Privatisierung des Bildungswesens

Nachhilfe für Blair

16. März 2006 | Kommt jetzt die staatliche McDonald's-Schule? Nach der Zerschlagung des Bahnsystems durch die Konservativen haut nun die Regierung das Bildungswesen in Stücke – mit gravierenden Folgen.

In den letzten Tagen hat die Fraktionsführung der Labour-Partei im Londoner Unterhaus mal wieder Schwerstarbeit leisten müssen. In zahllosen Einzelgesprächen und Telefonaten nahm sie rund hundert Labour-Abgeordnete in die Mangel. Sie drohte, sie lockte, sie versprach, hakte nach, liess die potenziellen RebellInnen nochmals antreten, schickte MinisterInnen in Diskussionsrunden – und wusste dennoch bis kurz vor der wichtigen Abstimmung am Mittwochabend dieser Woche nicht, ob ihre Bemühungen Erfolg haben würden. Dass sie so beharrlich um jede Stimme rang, zeigt, wie wichtig der Regierung das neue Bildungsgesetz ist, das derzeit die politische Debatte in Britannien dominiert.

Premierminister Tony Blair hatte die Messlatte ja auch sehr hoch gelegt. Die Reform des Bildungssystems sei die wichtigste Massnahme in seiner dritten Amtszeit, hatte der Regierungschef schon bei der Vorlage des Weissbuchs mit dem Titel «Höhere Standards, bessere Schulen für alle – mehr Wahl für Eltern und Schüler» verkündet. Mit dieser Reform wolle er einen «unumkehrbaren» Wandel im Schulsystem einleiten, den Eltern und den Schulen «mehr Freiheiten» geben und einen Wettbewerb zwischen den Bildungseinrichtungen im Sekundarbereich einführen, von dem alle nur profitieren könnten. Knapp hundert Labour-Abgeordnete, alle Gewerkschaften und Fachverbände des Lehrpersonals, die Labour-Basis und ein Teil der Öffentlichkeit sahen dies nach der Veröffentlichung der Regierungspläne Ende Oktober 2005 jedoch ganz anders. Blairs Reform würde das alte Labour-Ziel von gleichen Bildungschancen für alle zunichte machen, das Bildungssystem dem Marktdiktat unterwerfen, die Verantwortung für die Schulen an Private delegieren, die althergebrachte Klassenteilung im Bildungswesen weiter verstärken und den Kindern aus ärmeren Familien die Zukunft verbauen.

Diese Kritik ist trotz mehrerer Veränderungen am ursprünglichen Konzept nicht verstummt. Und so könnte es sein, dass die Regierung bei der Abstimmung im Unterhaus einen Rückschlag erlebt. Der Gesetzesentwurf «ist einfach falsch, und weitere Korrekturen machen ihn nicht besser», sagte beispielsweise am Wochenende der Londoner Labour-Abgeordnete Frank Dobson, der Gesundheitsminister in Blairs erstem Kabinett war. «Wer genügend Geld hat, kann künftig eine Schule kontrollieren», kritisierte Gwyneth Dunwoody, die den Wahlkreis Crewe im englischen Nordwesten vertritt und wie Dobson nicht der traditionellen Labour-Linken angehört. Olive Forsythe von der National Union of Teachers (NUT), der grössten LehrerInnengewerkschaft des Landes, befürchtet gar eine «weitgehende Privatisierung des Schulsystems». Dennoch wird der Entwurf wohl die zweite und in ein paar Wochen auch die dritte Lesung überstehen – dank der Zustimmung durch die konservative Opposition. Ohne die Schützenhilfe von rechts hätte Blair ein Problem.

Vorsichtige Reformen

Seine Regierung habe drei Prioritäten, hatte Blair bei seinem Amtsantritt im Jahre 1997 gesagt und die Schwerpunkte auch gleich benannt: «Education, education, education.» Das Bildungswesen war damals, nach achtzehn Jahren Thatcherismus, in einem denkbar schlechten Zustand. Die Konservativen hatten auch in diesem Bereich gespart und die alten Strukturen verbissen verteidigt: Hier ein paar wenige Privatschulen und Eliteuniversitäten für die Sprösslinge der Wohlhabenden; dort die Bildungseinrichtungen für den Rest.

Damals mussten viele öffentliche Schulen ihre SchülerInnen mindestens einmal im Jahr zum Fundraising, zum Geldsammeln, auf die Strassen schicken – ohne Spenden hätten sie weder die Kosten für Lehrmittel decken noch die Gehälter des Lehrpersonals auszahlen können. Die Labour-Regierung änderte dies. Sie stockte den Bildungshaushalt auf und reduzierte vorübergehend die Auswahlprüfungen am Ende der Primarschulzeit, bei denen die Noten und oftmals auch die Herkunft darüber entschieden, ob die Elfjährigen künftig eine elitäre Grammar School, eine Comprehensive School, eine Gesamtschule also, oder eine miserabel ausgestattete Mittelschule besuchen.

Viele kleine und grosse Reformen sorgten seither im Sekundarbereich für eine kontinuierliche Besserung. Die Regierung investierte, die in den siebziger Jahren erstmals erprobten Comprehensive Schools wurden zur Regelschule, das Bildungsniveau der SchülerInnen stieg. In der Schulleistungs-Vergleichsstudie Pisa 2000 lagen die britischen Ergebnisse in fast allen Belangen deutlich über denen des schweizerischen und deutschen Bildungswesens. Andererseits haben all die Anstrengungen von Gemeinden, Schulgremien, Lehrerinnen und Sozialarbeitern die alten schichtspezifischen Unterschiede bisher nicht beseitigen können: Während die einen gute Ergebnisse vorweisen können, schaffen – so die letztjährigen Prüfungsresultate - rund vierzig Prozent eines Jahrgangs nur mit Mühe den untersten Schulabschluss.

Dafür gibt es mehrere Gründe: Die fehlende Motivation der Kids in den Arbeitslosenquartieren zum Beispiel, die ohnehin keine Zukunft sehen. Oder der Mangel an qualifizierten LehrerInnen: Diese werden miserabel bezahlt, arbeiten lange Stunden und stehen vor allem in den Ghettoschulen unter ständigem Druck. Viele verlassen vorzeitig den Beruf – mit der Folge, dass auch nicht ausgebildetes Personal eingesetzt wird. Dennoch habe man, so NUT-Sprecherin Forsythe, in den letzten Jahren gute Fortschritte erzielt.

Keine demokratische Kontrolle

Der Politikwechsel, der jetzt vollzogen werden soll, zeichnete sich seit Jahren ab. Bereits 2002 hat die Regierung begonnen, so genannte City-Akademien einzuführen (siehe Kasten nebenbei). 2004 beschloss sie trotz vieler Proteste vor allem der Studierenden die Einführung von Studiengebühren an den Universitäten – und nun krempelt sie den Sekundarbereich um. Das Bildungswesen benötige eine grössere Vielfalt, um den Ansprüchen der Eltern gerecht zu werden, sagt die Labour-Führung. Deshalb wird derzeit über folgende Massnahmen abgestimmt:

– Alle öffentlichen Schulen können künftig im freien Wettbewerb gegeneinander antreten, selber über die staatlichen Gelder verfügen und über die Arbeitsverhältnisse und -bedingungen ihres Personals bestimmen.

– Elternvereinigungen, Unternehmen, Wohltätigkeitsverbände, Religionsgemeinschaften und andere Organisationen können Stiftungen («Trusts») bilden, die bestehende Schulen übernehmen und leiten – oder eigene Schulen gründen.

– Diese Trusts entscheiden künftig über die Lehrpläne, die Entwicklungsrichtung, das Personal und das Management der Schulen. Dabei ist es gleichgültig, wer die Stiftung dominiert (das kann auch eine Einzelperson sein). Bisher haben gewählte Gremien die Aufsicht. Sie bestehen aus VertreterInnen der Eltern, der LehrerInnen, der Ortsgemeinde und lokaler Gruppen.

– Leistungsschwache Schulen, die im Notenwettbewerb schlecht abschneiden, werden unter Aufsicht gestellt und, wenn keine Besserung eintritt, nach einem Jahr geschlossen.

– Die Gemeinden dürfen nur noch mit Zustimmung des Bildungsministeriums Schulen gründen. In der ursprünglichen Vorlage, die auf Druck von unten leicht abgeändert wurde, war dies den Gemeinden noch ausdrücklich untersagt.

Sicher, es gebe auch positive Elemente im Gesetzesentwurf, sagt Forsythe von der NUT. Dass personalisiertes Lernen intensiviert werde, dass das Schulessen qualitativ besser werden solle, dass LehrerInnen mehr Handlungsspielraum im Umgang mit schwierigen SchülerInnen und SchulschwänzerInnen bekommen sollen – daran sei nichts auszusetzen.

Doch die Nachteile überwiegen. Kritisiert werden insbesondere das Trägerschaftskonzept und die sich abzeichnende Aufspaltung des Bildungswesens. So hatte Tony Blair letzte Woche eine Reihe von Organisationen und Firmen zu einem Seminar in seinen Amtssitz an der Downing Street eingeladen, um sie für seine Pläne zu begeistern. Darunter waren VertreterInnen von Microsoft und der weltweit agierenden Buchprüfungs- und Steuerberatungsfirma KPMG. McDonald's und der Süsswarenhersteller Cadbury haben ebenfalls Interesse bekundet. Diese Firmen könnten künftig ebenso unmittelbar Einfluss auf die Ausbildung von tausenden von Kindern nehmen wie die Emmanuel Foundation des evangelikalen Multimillionärs Peter Vardy, die bereits an zwei City-Akademien die «christliche Wahrheit» der Schöpfungsgeschichte lehren lässt. Eine Schnapsidee sei auch die Vorstellung, dass Eltern am besten wüssten, wie eine Schule zu führen ist. «Eltern sind naturgemäss nur kurz an einer Schule interessiert, je älter die Kinder werden, desto schneller verblasst ihr Engagement», sagt Olive Forsythe. «Ausserdem kümmern sie sich vorwiegend um ihre eigenen Kinder; die Bedürfnisse aller haben nur wenige im Blick.»

Mittelfristig verheerend ist auch, dass die Stiftungsschulen die Comprehensive Schools verdrängen. «Dann haben wir bald noch mehr religiöse Schulen, Sportschulen, Technikschulen, Grammar Schools, City-Akademien, Privatschulen – aber keine Gesamtschulen mehr, in denen alle Kinder die gleichen Chancen haben», sagt die Schulexpertin Melissa Benn. Wohin diese Entwicklung führe, sei absehbar: «In zwanzig Jahren wird unser Schulsystem so aussehen wie das in den USA mit seinen nach Schicht- und Rassenzugehörigkeit getrennten Schulen.»

Dass die Schulwahl die wohlinformierte, ehrgeizige und mobile Mittelschicht begünstige, sei eine altbekannte Tatsache, sagt auch die Bildungsanalytikerin Fiona Millar. Die Stiftungsschulen dürfen zwar nach dem vorliegenden Gesetzesentwurf keine Auswahlgespräche mit Eltern und Kindern führen, um sich wie die Grammar Schools die SchülerInnen auszusuchen (in der ersten Fassung war dies noch erlaubt), «aber es gibt ja bekanntlich viele Hintertüren», wie Millar das ausdrückt. «Die von Privaten kontrollierte Schulleitung muss nur ein paar Erkundigungen über die Eltern einholen, die Vorlage einer Heiratsurkunde verlangen oder eine teure Schulkleidung beschliessen.» Wenn der agile Mittelstand die Schulen selber wählen kann und die miteinander auch über Ergebnistabellen konkurrierenden Schulen sich ihre Zöglinge aussuchen dürfen, sei klar, wer auf der Strecke bleibe.

Lord gegen Lord?

Was treibt die Regierung dazu, ein funktionierendes System zu zerschlagen? Man werde auf diese Art die Mittelschichten für das öffentliche Schulwesen gewinnen, heisst es in Blairs Umfeld. Das klingt jedoch etwa so, als wolle man die Schönheit eines Waldes zeigen, indem man ihn abholzt. Der Grund ist banaler: Blair, der selber nur Eliteschulen und -universitäten besuchte, hat für das öffentliche Bildungssystem so viel übrig wie die Limousinenfahrerin Margaret Thatcher für das öffentliche Verkehrswesen. Und, wichtiger noch: Wenn das Wasser, die Mobilität, die Gesundheit privatisiert werden können, warum dann nicht auch die Bildung?

Nach der dritten Lesung wird das Oberhaus über das Gesetz beraten. Wie die Lords votieren werden, ist noch offen. Denn in der zweiten Kammer sitzen Leute wie beispielsweise Andrew Adonis, «Blairs Bildungsguru» (BBC), der als Staatssekretär im Bildungsministerium die Privatisierung des Schulsystems massgeblich vorangetrieben hat. Aber auch Neil Kinnock, der frühere Labour-Chef, hat dort einen Platz. Dass er das Gesetz ablehnt, zeigt, wie umstritten Blairs Vorhaben ist – Kinnock hat seinen Nachfolger noch nie so offen kritisiert. (pw)