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Britannien: Sieg trotz Krieg

Das Ende einer Ära?

28. April 2005 | Am nächsten Donnerstag wählen die britischen StimmbürgerInnen ein neues Parlament. Der Labour-Partei dürfte eine Mehrheit sicher sein. Und doch hoffen viele, dass danach manches anders wird.


In wohl jedem anderen europäischen Land hätte die Schliessung eines so renommierten Industriebetriebs einen Proteststurm entfacht und die Parteien unter grossen Druck gesetzt, besonders vier Wochen vor der Wahl. In Britannien jedoch blieb der grosse öffentliche Aufschrei aus: MG Rover, das letzte Autowerk in britischem Besitz, ging vor drei Wochen in Konkurs, aber ausser den 5000 unmittelbar betroffenen ArbeiterInnen, den 20.000 Beschäftigten in Zulieferbetrieben und ihren Gewerkschaften scherten sich nur wenige um das Ende einer Firma, die einst der Stolz einer Industrienation gewesen war.

Sicher, Premierminister Tony Blair reiste mit Schatzkanzler Gordon Brown sofort zu einem Fototermin vor das Werk Longbridge in Birmingham, auch die Medien berichteten einen Tag lang über den absehbaren Verlust von rund 25.000 Arbeitsplätzen, aber viel mehr passierte nicht. Sogar die Beschäftigten resignierten schnell. Eine kleine Delegation von Arbeiterfrauen reiste zwar noch nach London, um vor dem Amtssitz des Premierministers zu demonstrieren, aber das wars dann auch. Ein Industriebetrieb weniger – was solls?

Die Gunst der Stunde

Die Gründe für den Niedergang von Rover sind so vielfältig wie die Gründe für den Niedergang der britischen Industrie: Keine Investitionen, selbstgefälliges Management, miserables Marketing, mangelhafte Exportorientierung – und dazu ein viel zu hoher Kurs des Pfund Sterling, der sich an den Interessen des Finanzkapitals in der Londoner City, nicht aber an den Bedürfnissen des verarbeitenden Gewerbes orientiert. All das treibt seit Jahrzehnten die britische Industrie in den Abgrund. Die Labour-Regierung habe sich schon um Rover bemüht, sagt Eric McDonald, Sekretär der grossen Gewerkschaft TGWU in Birmingham, «sie hat potenziellen Investoren hohe Überbrückungskredite in Aussicht gestellt und den Arbeitern eine Woche lang den Lohn bezahlt.» Ein neues Gesetz garantiere den Beschäftigten sogar einen Grossteil ihrer Rente (bisher verloren bei ähnlichen Pleiten die Beschäftigten auch ihre Pensionsansprüche).

Aber die gleiche Regierung, sagt McDonald, «wirbt in anderen Ländern mit tiefen Löhnen und den schlechtesten Arbeitsgesetzen in der EU.» Unter Tony Blair ist Britannien endgültig zum Billiglohn-Dienstleistungsland mit rechtlosen Gewerkschaften verkommen.

Und zu einem Land, in dem der Unterschied zwischen Arm und Reich grösser geworden ist als sonstwo in der EU (mit Ausnahme von Griechenland und Portugal), in dem die öffentlichen Einrichtungen zerfallen, Millionen von Kindern in Armut heranwachsen, allzu flexible und ungeschützte Arbeitskräfte in unsicheren, überfüllten Verkehrsmitteln von einem Job zum nächsten hetzen, und die Gesellschaft auseinander fliegt. Ein Land, in dem die Überwachung öffentlicher Räume ständig zunimmt (Millionen von Videokameras beobachten jede Bewegung), in dem Obdachlose wegen Betteln eingesperrt werden und in dem verhältnismässig mehr Menschen in (vielfach privat betriebenen) Gefängnissen sitzen als in jedem anderen europäischen Staat. Ein Land dazu, in dem profitorientierte Privatunternehmen auch im sozialen Bereich immer mehr öffentliche Aufgaben übernehmen (die Risiken aber der öffentlichen Hand überlassen bleiben), in dem Gruppenbesäufnisse bis zum Abwinken zu einem festen Bestandteil der Freizeitkultur geworden sind und in dem eine von allen grossen Parteien sanktionierte Fremdenfeindlichkeit grassiert.

Und doch stellt sich nun die Regierung dieses Landes, das nach sozialen und moralischen Massstäben ziemlich verludert ist, ein Jahr früher zur Wahl als notwendig gewesen wäre (die Legislaturperiode dauert regulär fünf Jahre). Offenbar wollen Tony Blair und seine BeraterInnen – sie spielen eine viel grössere Rolle bei politischen Entscheidungen als die Labour-Fraktion und die Parteigliederungen – die Gunst der Stunde nutzen. Diese Gunst besteht vor allem aus zwei Dingen: dem erbärmlichen Zustand der grössten Oppositionspartei, die sich immer weiter in die kleinbürgerlich-verängstigte, rassistische Ecke geflüchtet hat und die mit dem reaktionären Haudegen Michael Howard an der Spitze kaum eine Alternative bietet. Und der derzeitigen Wirtschaftslage.

Die Ökonomie hat Zuwachsraten, auf die Länder wie Frankreich und Deutschland nur neidisch sein können, die Arbeitslosigkeit ist nur halb so gross wie im EU-Durchschnitt, der Konsumboom scheint ungebrochen. Die Stimmung ist gut. Fragt sich nur, wie lange. Ein Gutteil des Booms beruht auf dem phänomenalen Anstieg der Immobilienpreise, der es den vielen Wohnungs- und HauseigentümerInnen erlaubt hat, immer wieder neue Kredite aufzunehmen. In Kilburn im Nordwesten von London zum Beispiel stiegen die Wohnungspreise in den letzten fünfzehn Jahren um das Vier- bis Fünffache. Diese Blase aber, da sind sich alle ExpertInnen einig, könnte demnächst platzen. Und ein Teil der Dienstleistungsjobs, die in den letzten Jahren dank des Sprachvorteils in Britannien entstanden sind, wandert derzeit wieder ab: So werden immer mehr Callcenter nach Indien verlegt.

Mobilisierung der Basis

Noch kann Blair mit Arbeitslosenzahlen und Zuwachsraten wuchern - und so setzt Labour ganz auf die Ökonomie. Gordon Brown sei wohl «der beste Schatzkanzler der letzten hundert Jahre», lobte er seinen ewigen parteiinternen Widersacher zu Beginn des Wahlkampfs. Damit band er nicht nur Brown, den die Parteibasis im Unterschied zu Blair noch für einen Sozialdemokraten hält, sondern auch die Partei selber in den Wahlkampf ein. Wir kümmern uns um die Armen, wir investieren in das Gesundheitswesen, wir unternehmen etwas gegen den Hunger in Afrika, lautet die Botschaft. Denn auch Blair ist nicht entgangen, dass sich viele einstmals loyale AktivistInnen von der Partei verabschiedet haben – Labour hatte in den letzten Jahrzehnten noch nie so wenige Mitglieder wie heute. Aber ist der programmatische Kurswechsel auch ernst zu nehmen?

Auf den ersten Blick kann die Regierungspartei kaum verlieren. Sie gewann bei der letzten Wahl 419 der insgesamt 659 Sitze; die Konservativen müssten 158 Sitze hinzugewinnen, um eine Regierung bilden zu können. Das wird ihnen kaum gelingen. Andererseits hängt Labours Mehrheit im Unterhaus von Wahlkreisen ab, in denen die Partei bei der letzten Wahl nur bis zu 5800 Stimmen mehr bekam als der oder die VertreterIn der nächststärksten Oppositionspartei (Konservative, Liberaldemokraten, schottische und walisische Nationalisten). Sollten die bisherigen Labour-Abgeordneten in diesen Wahlkreisen jeweils nur 2901 Stimmen verlieren, wäre die Mehrheit weg. «Die Partei der Nichtwähler ist unser grösster Gegner», fürchtet daher der ehemalige Labour-Aussenminister Robin Cook. Bei Labours erstem Wahlsieg 1997 lag die Wahlbeteiligung noch bei 71 Prozent, 2001 war sie bereits auf 59 Prozent geschrumpft, 2005 könnte sie – laut Meinungsumfragen – auf knapp über 50 Prozent sinken. In etlichen Labour-dominierten Wahlkreisen in Liverpool lag sie schon vor vier Jahren bei unter 40 Prozent. Die Basis kehrt der Partei den Rücken (vgl. Interview unten).

Kriegsfolgen

Die zunehmende Abstinenz hat viele Gründe. Nach einer Studie der Wahlkommission glaubt nur noch ein Drittel der Bevölkerung, dass eine Stimmabgabe darüber entscheidet, wer wie das Land regiert. Viele ehemalige Labour-WählerInnen wenden sich ab, weil sie die Privatisierungspolitik von Blair und Brown nicht mehr gutheissen - zumal beide im Wahlmanifest zwar mehr öffentliche Investitionen zugesagt haben, diese aber mit einer weiteren Ausgliederung von Schulen und Spitälern verknüpfen. Und dann ist da noch der Krieg gegen den Irak.

Kein anderes Thema hat die britische Bevölkerung in den letzten Jahren so sehr beschäftigt und gespalten wie Blairs Rolle beim Angriffskrieg gegen den Irak und seine späteren Rechtfertigungen. Dass Blair das Parlament und die Öffentlichkeit belogen hat, steht für die meisten BritInnen ausser Frage. Allerdings stecken die KriegsgegnerInnen bei der jetzigen Wahl in einem Dilemma: Sie können ja nicht über eine Partei und deren Kurs entscheiden, sondern aufgrund des Majorzsystems nur über einzelne Wahlkreisabgeordnete. Votieren sie für Labour-KandidatInnen, wird Blair dies als nachträgliches Plazet für seinen Kriegskurs interpretieren. Stimmen sie für die Liberaldemokraten (die anfänglich den Krieg ablehnten, der Besetzung des Iraks aber zustimmten), würden sie auch deren rechtskonservative Sozialpolitik gutheissen.

Dieses Dilemma hat in der Labour-Linken und in den sozialen Bewegungen eine heftige Debatte ausgelöst, die nur einen gemeinsamen Nenner fand: Labour ja, aber bitte nur mit einer hauchdünnen Mehrheit im Parlament. Eine knappe Mehrheit würde bedeuten, dass Blair und Brown wieder auf die Basis hören müssten. Ohne ihre riesige Mehrheit im Unterhaus hätte die Parteispitze weder den Krieg noch die Privatisierung der Grossspitäler und schon gar nicht die Erhöhung der Studiengebühren durchsetzen können.

Vorläufig aber gibt es keine Wahl. Abgesehen von Schottland und Wales – wo eher linksgerichtete Organisationen wie die Scottish National Party, die Scottish Socialist Party und Plaid Cymru gute Chancen haben, Labour Sitze abzuringen – bietet sich nur den WählerInnen im nordenglischen Wahlkreis Sedgefield die Gelegenheit, einen Kriegstreiber abzuwählen. Dort tritt der unabhängige Kandidat Reg Keys, dessen Sohn Tom im Irakkrieg starb, gegen den Labour-Abgeordneten Tony Blair an. In Birmingham Süd gibt es diese Möglichkeit nicht. Dort haben sich in den letzten Tagen die gefeuerten Rover-ArbeiterInnen arbeitslos gemeldet. Manche können auf Umschulung hoffen, andere werden künftig Fenster putzen - wenn sie überhaupt etwas finden. Für den lokalen Labour-Abgeordneten hat dies jedoch kaum Auswirkungen. «Er hat sich enorm für den Erhalt der Arbeitsplätze eingesetzt» sagt McDonald. Also wird er wohl wiedergewählt, Privatisierungspolitik hin, Krieg her. (pw)



«Wir werden Blair überleben»

Ein Gespräch mit Tony Benn, dem früheren Post-, Industrie- und Handelsminister und langjährigen Präsidenten der britischen Antikriegskoalition.

Tony Blair wird wohl wiedergewählt. Warum?

Tony Benn: Weil es keine Alternative gibt. Blair ist der am weitesten rechts stehende Premierminister, den ich je erlebt habe. Er hat keine Prinzipien und ist zu allem bereit. Er hat die Partei korrumpiert, die Basis entmachtet, die innerparteiliche Demokratie abgeschafft. Der Labour-Parteitag ist die einzige Konferenz, bei der man nicht nur nach Bomben, sondern auch nach kritischen Schriftstücken durchsucht wird. Auf dem letzten Parteitag wurde einer sogar festgenommen, weil er sich weigerte, Blair stehend zu applaudieren. Er hielt nur ein Papier in die Höhe: «Ich sitze für den Frieden.» Die Polizei schmiss ihn raus.

Aber eine interne Opposition ist nicht erkennbar.

Diese müsste von den Abgeordneten kommen. Doch diese haben Angst. Sogar das Kabinett ist unruhig geworden, ich weiss das, mein Sohn sitzt darin (Hilary Benn ist Entwicklungsminister, pw). Aber sie glauben, dass Blair ihren Sitz sichert. Ohne ihn hätten sie bessere Chancen gehabt, aber sie fürchteten die Unruhe, die ein Wechsel mit sich gebracht hätte. Nach der Wahl sieht die Lage anders aus. Blair hat der Partei immerhin zu zwei Wahlsiegen verholfen.

Wir haben 1997 aus zwei Gründen gewonnen. Die Menschen wollten nach achtzehn Jahren Tories einen politischen Wechsel. Das politische Establishment wollte keinen, dachte jedoch, dass Blair der bessere Nachfolger von Margaret Thatcher ist als John Major, der eine schwache und gespaltene Partei anführte. Sein Kalkül war: Wenn man Blair auf eine thatcheristische Politik verpflichten kann, ist der Thatcherismus sicher. Es hatte Recht damit.

Warum sind Sie dann immer noch in der Partei?

Meine Haltung zur Partei wird sich erst ändern, wenn sich die Gewerkschaften distanzieren. Zwei haben die Partei bereits verlassen. Wenn auch die anderen gehen, wäre Labour nur noch eine rechte sozialdemokratisch-konservative Partei. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das geschieht. Immerhin haben die grössten Gewerkschaften der Regierung etliche Zugeständnisse abringen können.

Wird Blair die nächste Legislaturperiode durchstehen?

Ich weiss es nicht. Er verhält sich wie ein König, der selbstherrlich bestimmt, wann er zurücktritt. Möglicherweise wird er jedoch nicht so lange durchhalten können, wie er will. Andererseits: Ist Gordon Brown so viel besser? Brown massakriert gerade den Service public und will die Zahl der öffentlichen Angestellten um ein Fünftel reduzieren. Die Personalfrage interessiert mich nicht. Wichtiger ist, dass wir eine öffentliche Stimmung schaffen, die es nicht einmal Michael Howard erlaubt, das zu tun, was er tun will. In der Kriegsfrage ist uns das gelungen. Weder Blair noch Howard können derzeit an einen neuen Krieg denken.

Sie sind also optimistisch?

Nein, nicht sehr. Aber manchmal hilft ein Blick zurück. 1931 war Ramsey McDonald Labourpremier einer Allparteienkoalition. Er schaffte es, die Zahl der Labour-Abgeordneten im Unterhaus auf ein Minimum zu bringen – und nur vierzehn Jahre später, 1945, hatten wir einen Erdrutschsieg. Wenn wir es geschafft haben, McDonald zu überstehen, werden wir auch Blair überleben.