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Britannien: Londons linker Bürgermeister

Politik in Zeiten der Verstopfung

2. Oktober 2003 | Viel kann er nicht bewegen. Aber das, was Ken Livingstone tut, kommt bei den Menschen an. Auch wenn er ihre Privatsphäre verletzt.

Der Mann liebt den Disput, und er liebt die Öffentlichkeit. Ganz besonders behagt es ihm, wenn er beides miteinander verbinden kann, wenn er im Zentrum der Auseinandersetzung steht.

So auch an diesem Morgen. Ken Livingstone, der Oberbürgermeister von London, gestikuliert, argumentiert, zitiert; und wenn ihm ein besonders guter Spruch gelungen ist, lehnt er sich genüsslich zurück. Es ist Mayor's Question Time, die monatlich stattfindende Fragestunde. Ihm gegenüber sitzen die Abgeordneten der Londoner Versammlung, und die haben in den letzten Wochen insgesamt 302 Fragen zusammengetragen, die er entweder mündlich oder schriftlich beantworten wird. Hat sich der Zustand der öffentlichen Toiletten in Richmond verbessert? Wird die U-Bahn im nächsten Jahr streikfrei sein? Warum bleiben im neuen Rathaus immer wieder die Lifte stecken? Die Abgeordneten sind wissbegierig; schliesslich besteht ihre einzige Kompetenz darin, die Politik des Bürgermeisters zu hinterfragen – die Entscheidungen trifft er allein.

An diesem Mittwoch im September stehen jedoch nicht nur Nebensächlichkeiten auf der Tagesordnung. Es geht vor allem um die Strassenmaut, die Ken Livingstone Mitte Februar eingeführt hat, um die chronische Verstopfung der Strassen im Londoner Stadtzentrum zu lindern. Da läuft noch längst nicht alles rund. Es geht auch um die U-Bahn, die ihm erst seit einigen Wochen unterstellt ist, und um eine Fahrpreiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr, die er kürzlich verkündet hat. Er wird ausserdem zur Wohnungsbaupolitik befragt, zum Zustand des Trinkwassers und zur Zukunft der Familiengerichte. Aber was soll Bürgermeister Livingstone dazu sagen? Dafür ist er nicht zuständig. Er ist überhaupt für nur sehr wenig zuständig.

Der rote Ken

Ein Blick zurück: Während der ersten Amtszeit der Labour-Regierung unter Tony Blair hatten Nordirland, Schottland und Wales Regionalversammlungen erhalten, um den separatistischen Tendenzen im Vereinten Königreich Einhalt zu gebieten. Im Zuge dieser gemässigten Dezentralisierung verabschiedete das Unterhaus auch ein Gesetz zur Demokratisierung der Hauptstadt London. Nachdem Margaret Thatcher Mitte der achtziger Jahre den Rat für Grosslondon (GLC) abgeschafft hatte, war London die einzige Grossstadt der westlichen Welt ohne gewählte Verwaltung. Die 32 Gemeinden auf dem Gebiet von Grosslondon verfügten zwar weiterhin über Stadt- und Gemeinderäte; die stadtteilübergreifenden Einrichtungen wie das öffentliche Transportwesen, die Feuerwehr und die Hauptstadtpolizei waren jedoch direkt den Ministerien unterstellt.

Erst Anfang 2000 konnten die LondonerInnen wieder einen Bürgermeister und die Versammlung (Assembly) der Greater London Authority (GLA) wählen. Doch mit grosser Befugnis sind die neuen Institutionen bisher nicht ausgestattet: Strom- und Wasserversorgung sind längst privatisiert, die Krankenbetreuung und das Bildungswesen werden auf anderen Ebenen geregelt, über die Metropolitain Police entscheidet das Innenministerium. Der Bürgermeister darf Vorschläge unterbreiten und Wirtschafts-, Umwelt- und Kulturstrategien skizzieren, tatsächliche Entscheidungsgewalt hat er jedoch nur in einem Bereich – dem des öffentlichen Nahverkehrs.

Schon lange vor der Wahl des Bürgermeisters im Mai 2000 wussten alle, wer sich um das Amt bewerben würde: Ken Livingstone, der Anfang der achtziger Jahre den GLC zu einer Bastion gegen den Neoliberalismus ausgebaut hatte und Margaret Thatchers grosser Gegenspieler war. Während seiner Amtszeit als Vorsitzender des Rats von Grosslondon verkündeten riesige Ziffern auf dem Dach des alten Rathauses – es lag direkt gegenüber dem Parlament – die neueste Arbeitslosenzahl, der GLC unterstützte offensiv den langen Kampf der Bergarbeiter, widersetzte sich vehement den von den Konservativen verordneten Preiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr, agitierte gegen Thatchers Rassismus und den Rassismus der Polizei und entwarf Konzepte für eine alternative Flüchtlings- und Immigrationspolitik. Diese Politik wurde von einer grossen Mehrheit der LondonerInnen unterstützt – nur nicht von Thatcher. Sie schaffte 1986 den GLC ab, um Livingstone loszuwerden.

Das Kind im Brunnen

Auf einen so populären Widersacher hatte auch Tony Blair wenig Lust: Als Livingstone seine Kandidatur bekannt gab, fiel der gesamte Parteiapparat über den Londoner Labour-Abgeordneten her. Die Zentrale eröffnete eine Schlammschlacht gegen ihn, manipulierte interne Wahlergebnisse und warf ihn (als er trotzdem kandidierte) aus der Partei. Die LondonerInnen hatten ihn jedoch nicht vergessen. Livingstone versprach, mit allen Mitteln die von Blair beschlossene Teilprivatisierung der Londoner U-Bahn zu bekämpfen, und errang einen überwältigenden Sieg.

Doch zur Verteidigung des wichtigsten Verkehrsmittels der Stadt konnte er nur wenig unternehmen. Gegen grossen Widerstand in der Bevölkerung und wider alle Erfahrungen bestand die Regierung darauf, die Fehler der Konservativen zu wiederholen. So hatte Blairs Vorgänger John Major das Staatsunternehmen British Rail privatisiert und die Bahn in über hundert Einzelfirmen aufgeteilt mit der Folge, dass diese viele tausend Beschäftigte feuerten, enorme Dividenden auszahlten und – wie im Fall des Infrastrukturunternehmens Railtrack – Bankrott gingen und für viel Geld wieder vom Staat übernommen werden mussten.

Ähnliches wollte Ken Livingstone für die Londoner U-Bahn verhindern. Er entwarf ein anderes Sanierungskonzept für die chronisch unterfinanzierte «Tube», holte sich die besten Experten, zettelte eine breite Kampagne an und zog vor Gericht – vergebens. Denn Blair hatte vorsorglich beschlossen, die Zuständigkeit für die U-Bahn so lange bei der Regierung zu belassen, bis sein Modell einer Public Private Partnership unter Dach und Fach und alle Verträge unterzeichnet waren.

Das war im April der Fall. Seither werden die Züge, Bahnhöfe, Tunnel, Signal- und Gleisanlagen der Londoner U-Bahn von drei Konsortien unterhalten, die vor allem einigen Bauunternehmen gehören und die das Netz unter sich aufgeteilt haben; die Behörde von Grosslondon ist nurmehr für den Betrieb und das Personal zuständig. Nachdem Blair das Kind in den Brunnen geworfen hat, darf Livingstone es vor dem Ertrinken retten: Seit Mitte Juli hat er alle Verantwortung für das Funktionieren der U-Bahn und für die Sicherheit der drei Millionen Passagiere, die täglich die Tube nutzen.

Eine schier unmögliche Aufgabe, wie Tim O'Toole, Londons neuer U-Bahn-Direktor, weiss. «Es wird noch lange dauern, bis wir den Fahrgästen einen guten Service bieten können», sagt er. Livingstone hat O'Toole wie seinen Verkehrsberater Bob Kiley aus den USA geholt; beide haben dort erfolgreich Bahn- und U-Bahn-Systeme saniert, sind erfahren im Umgang mit Privatunternehmen und übersehen auch in komplizierten Verträgen das Kleingedruckte nicht. Aber an der neuen Struktur können sie nur wenig ändern: Die Aufteilung des U-Bahn-Netzes ist kaum rückgängig zu machen. Der von der Labour-Regierung mit den drei Firmen Metronet SSL, Metronet BCV und Tube Lines ausgehandelte Vertrag läuft über dreissig Jahre. Und selbst danach, so O'Toole, «ist an eine Zusammenführung der einzelnen U-Bahn-Linien nicht mehr zu denken. Denn jede Firma entwickelt eigene Sicherungssysteme, eigene Signalanlagen, eigenes Rollmaterial.» Der Staat wird also noch viele Jahrzehnte viel Geld an private Unternehmen zahlen müssen für Dienstleistungen, die bei der öffentlichen Hand billiger gewesen wären.

Mehr Geld für Private

Ja, sagt Ken Livingstone in der Fragestunde. Auch ihm sei bewusst, dass die Firma kläglich versagt habe. Natürlich gehe es dem Unternehmen nur um den verdammten Profit. Aber hätte man deswegen das Projekt stornieren sollen? Auch ihm wäre es lieber gewesen, wenn eine Behörde die neue Strassenmaut in der Londoner Innenstadt verwalten würde. Aber hätte so ein Amt in so kurzer Zeit die nötigen Kenntnisse erwerben und die erforderlichen Mittel aufbringen können? Nein, natürlich nicht. Wer das nicht begreift, hat von Politik keine Ahnung.

Manchmal kann Livingstone ganz schön herablassend daherreden. Aber von Kommunikation versteht er etwas. Zweimal im Jahr stellt er sich den Fragen der LondonerInnen (das sind dann Massenveranstaltungen in riesigen Sälen), alle wesentlichen Dokumente werden auf seiner Website veröffentlicht (www.london.gov.uk), selbst Verträge, die seine Stadtverwaltung abgeschlossen hat, sind dort einsehbar. Livingstone legt viel Wert auf Transparenz. Auch die Sitzung an diesem Morgen wird per Webcam ins Internet gestellt.

Eine Weile lang geht es hoch her im Plenarsaal des neuen Rathauses, von dem aus man durch die gläserne Fassade auf die Themse und den Tower von London blicken kann. Denn erst vor wenigen Wochen hat Livingstone mit der Capita Group, die die Londoner Strassenmaut eintreibt, einen neuen Vertrag ausgehandelt. Mit ihr ist der Bürgermeister angreifbar; im Unterschied zur U-Bahn, für deren Zustand Livingstone nichts kann, ist sie sein Kind. Alle Fehler, die da passieren, werden ihm direkt angelastet. Und Mängel gibt es – acht Monate vor der nächsten Bürgermeisterwahl – genug.

Erfolgreiche Mautregelung

Capita, kritisieren die liberaldemokratischen und grünen Abgeordneten, habe bisher miserabel gearbeitet. Ein Viertel aller Schwarzfahrer entkomme ungestraft, dafür erhielten andere ungerechtfertigterweise Zahlungsaufforderungen in Höhe von 40 bis 120 Pfund (so viel muss zahlen, wer nicht rechtzeitig die Maut von fünf Pfund pro Tag entrichtet), weil das Erfassungssystem manchmal die Ziffern 0 und 1 mit den Buchstaben O und I verwechselt. Und hat der Bürgermeister nicht das getan, was er der Regierung immer wieder vorwirft, nämlich die Verwaltung dieser Strassenmaut privatisiert? Nein, entgegnet Livingstone, von einer Privatisierung könne keine Rede sein, die Oberhoheit liege immer noch bei ihm, ausserdem sei der Vertrag auf fünf Jahre begrenzt.

Aber ein Problem kann er nicht wegdiskutieren: Das Mautsystem ist erfolgreicher als geplant. Es fahren weniger Autos in die Innenstadt als berechnet, statt der erhofften 130 Millionen Pfund kommen nur 65 Millionen in die Kasse. Da Livingstone gleichzeitig das Busnetz ausweitet, um das höhere Passagieraufkommen zu bewältigen, klafft in der Kasse ein Loch. Um dieses zu stopfen, hat er nun (entgegen eines früheren Wahlversprechens) eine Anhebung der Preise für Einzelfahrten im Bus- und U-Bahn-Netz angekündigt. Und dann erhält Capita, da die Firma keinen Gewinn zu machen scheint, auch noch 31 Millionen Pfund mehr als ursprünglich vereinbart. «Nie zuvor», rechtfertigt sich Livingstone, «hat eine Stadt ein Mautsystem von dieser Grössenordnung ausprobiert.» Nur eine Frage scheint niemanden in der Versammlung zu interessieren: die der Überwachung (siehe Kasten).

Vor den Wahlen: Zurück in die Partei

Trotz allen Anfangsschwierigkeiten befürworten knapp achtzig Prozent der LondonerInnen die Maut – die meisten hätten auch nichts dagegen, wenn (wie bereits absehbar) die Mautzone ausgeweitet würde. Immerhin haben die Staus bereits um vierzig Prozent abgenommen. Da die Bevölkerung auch weiss, wie zäh er gegen die Zersplitterung der U-Bahn kämpfte, und viele seine anderen Vorstösse schätzen (seinen Einsatz für fairen Handel mit der Dritten Welt, sein Kulturkonzept für den Trafalgar Square, seinen Vorschlag für eine Flüchtlingsinitiative der europäischen Grossstädte, seine Ablehnung des Irak-Kriegs), ist Livingstones «Hegemonie in London» (so der «Guardian») ungebrochen.

Nur die Labour-Partei, die ihn vor drei Jahren rausgeworfen hat, steht vor einem Problem. Sie verlor kürzlich den einst sicheren Londoner Wahlkreis East Brent – nicht weil, sondern obwohl Livingstone für den Labour-Kandidaten warb. Der Bürgermeister ist in London populärer als die Partei, und da die Partei mittlerweile auch populärer ist als der Premierminister, wird Tony Blair (der letztes Jahr Livingstones Wiederaufnahmeantrag blockiert hatte) rechtzeitig vor den Londoner Wahlen im Mai 2004 Ken Livingstone wieder in der Labour-Partei begrüssen müssen.

Einen ernst zu nehmenden Gegenkandidaten gibt es ohnehin nicht. Denn die Konservativen treten wieder mit Steven Norris an. Norris war einer der Architekten der Bahnprivatisierung und ist inzwischen Sprecher des Baukonzerns Jarvis, dem neben anderen das private U-Bahn-Unternehmen Tube Lines gehört. In den letzten Jahren war Jarvis für mehrere Zugunfälle verantwortlich; erst vorletzte Woche entgleiste im Londoner Bahnhof King's Cross ein Personenzug, weil ein Wartungstrupp von Jarvis eine Weiche falsch gesetzt hatte. Dass die Rechte einen Mann aufstellt, der seinen Vorstandsposten bei Jarvis erst im Falle seiner Wahl aufgeben will, zeigt, dass sie sich keine Chancen ausrechnet. (pw)