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Liverpool Football Club: You'll never walk alone

Abschied von der Anfield Road?

19. September 2002 | Der FC Basel trifft bei seinem Champions-League-Spiel an der Anfield Road auf einen Gegner, der mehr als nur elf Mann aufbieten kann.

Wenn die Spieler des FC Basel am kommenden Mittwoch kurz vor 19.45 Uhr Ortszeit den Tunnel betreten, der zum Spielfeld führt, wird ihnen eine kleine Tafel auffallen: «This is Anfield.» Und manche wird ein bisschen Ehrfurcht ergreifen. Schliesslich ist das Stadion an der Anfield Road eine der heiligen Stätten des Fussballs – in England nur noch übertroffen vom Wembley-Stadion, und dort wird derzeit kein Fussball gespielt. «This is Anfield.» Nicht nur Ehrfurcht sollten diese drei Worte in all jenen auslösen, die unter ihnen hindurchgehen, sondern auch Angst und Beklemmung. Dies war jedenfalls die Absicht von Bill Shankly (vgl. Randspalte), der in den sechziger Jahren die Tafel anbringen liess: «Sie soll den Gegner daran erinnern, gegen wen er spielt.» Seine Rechnung ging auf. Ganze Kickergenerationen fühlten sich merkwürdig verzagt, wenn sie hineinschritten in den Hexenkessel, wo sie von zehntausenden enthusiastischer Liverpooler Fussballfans erwartet wurden. Und so spielten sie dann auch.

Doch die Tafel wird möglicherweise bald abgehängt. Erst vor kurzem haben die Direktoren des Liverpool Football Club (LFC) beschlossen, fünfhundert Meter weiter – im Stanley Park – ein neues, grösseres Stadion zu bauen; die alte Arena an der Anfield Road, sie liegt inmitten eines Arbeiterquartiers, kann nicht erweitert werden. Und mit den drei Worten wird auch der alte Zauber verschwinden. «This is Stanley Park»: Das klingt in etwa so furchteinflössend wie «Welcome to Disneyland». Ein Witz. Zumal das neue Stadion im Zuge der Kommerzialisierung, die Ende der neunziger Jahre auch beim LFC eingesetzt hat, einem Vergnügungspark recht nahe kommen dürfte. Und das ist kein Witz.

Ohnehin sind die Zeiten schon lange vorbei, in denen über 24.000 Fans allein im «Kop» standen, dem den LFC-Fans vorbehaltenen Westende des Stadions; heute gibt es dort nur Raum für 12.000, und die sitzen alle. Vorbei also das Gedränge, das manchmal so dicht war, dass auch während der Halbzeitpause ein Durchkommen etwa zu den Toiletten nicht möglich war, und das Geschiebe auf den Tribünen, als die Fans fast so viel liefen wie die Spieler auf dem Feld, immer rauf und runter, je nachdem, wohin der Ball gerade flog.

Vorbei auch die zweite grosse Show – das Arbeitertheater auf den Rängen. Die Darbietung eines Publikums, das sich zuweilen mehr auf den eigenen Witz und die Einfälle einzelner Fangruppen konzentrierte als auf das Geschehen auf dem Rasen. Die wöchentlich wechselnden Schlachtrufe (aktuelle Ereignisse aufgreifend), die Beatles-Songs (mit Lobpreisungen des Teams oder einzelner Spieler versehen), die blasphemischen Choräle («God Save Our Gracious Team» zur Melodie der Nationalhymne).

Sicher, die Spontaneität ist noch da. «Immer wieder tauchen neue Fahnen auf, immer wieder ertönen neue Gesänge», sagt Liz Crowley, die jedes Spiel besucht. Aber das «Kop»-Feeling, das Gedränge, die Schlagfertigkeit (für die die Liverpudlians berühmt sind) seien heute in den Liverpooler Pubs mit Liveübertragung auf Grossleinwänden eher zu spüren als im Stadion. Das ist auch kein Wunder bei diesen Preisen. Noch Mitte der siebziger Jahre kostete ein Einzelticket für den «Kop» umgerechnet fünf Franken, heute sind es über siebzig. Früher waren der Mittelschicht die beiden Sitztribünen vorbehalten, heute sind die Stehplätze ganz abgeschafft.

Die Kontinuität

Nicht nur die Eintrittspreise und das Publikum haben sich verändert. Ende der neunziger Jahre schlug der erfolgreichste Klub Englands (achtzehnmal Meister, sechsmal FA-Pokal-Sieger, sechsmal Gewinner des Ligapokals, viermal Europacup-Sieger der Landesmeister, der heutigen Champions League, viermal Uefa-Cup-Gewinner, zweimal Gewinner des Europa-Supercups) einen neuen Kurs ein. Grund dafür war eine lange Phase der Erfolglosigkeit, die zu Beginn der neunziger Jahre eingesetzt hatte. Die Eigentümer des Vereins (Geschäftsleute und insbesondere die Moores-Familie, alte Patrons, denen der Versandhandelskonzern Littlewoods gehört) verkauften zehn Prozent des Klubanteils an die Granada-Gruppe (TV-Kanäle, Hotels, Restaurants). Als traditionell eher konservativer Klub ging der LFC zwar nicht so weit wie der ewige Konkurrent Manchester United, der sich ganz den Finanzmärkten verschrieb. Aber er erhoffte sich durch die Beteiligung von Granada eine bessere Vermarktung bis hin zur Etablierung eines eigenen TV-Senders (deshalb die ungewöhnliche Webadresse www.liverpoolfc.tv).

Für Liverpooler Verhältnisse ungewöhnlich sind auch die Grösse des A-Teams, die internationale Zusammensetzung der Mannschaft, die Fluktuation im Spielerkader. Weder Bill Shankly, der wohl grösste Coach in der Geschichte des LFC, noch seine Nachfolger hätten einen Spieler wie Robbie Fowler weggeschickt. Sie setzten stets auf Kontinuität. Die Meisterschaft 1966 wurde von insgesamt zwölf Stammspielern gewonnen, der Titel 1973 von insgesamt vierzehn Spielern errungen. Wer gut ist und fit, der bleibt. Das galt auch für die Trainer auf Shankly (1959-1974) folgten Bob Paisley (1974-1983) und Joe Fagan (1983-1985); beide waren schon zu Shanklys Zeit Assistenztrainer gewesen. Dann kamen die früheren Stammspieler Kenny Dalglish und Graeme Souness und mit Roy Evans ein weiterer Shankly-Assistent.

Souness war übrigens erst der zweite Coach, den der Klub in seiner langen Geschichte entlassen hat, Evans der dritte; normalerweise scheiden Liverpools Trainer sonst wegen Erreichen des Rentenalters aus oder weil sie dem Erwartungsdruck der Fans nicht mehr standhalten – wie Dalglish, der 1991 aufgab, oder letztes Jahr fast Gerard Houllier (Herzinfarkt). So gingen etliche Augenbrauen in die Höhe, als Houllier, Boss seit 1998, letzten November den immer noch spielstarken Fowler auf die Transferliste setzte. Dabei war dieser «local lad» damals wohl der beliebteste Spieler – wer sonst hätte nach einem Tor in einem Uefa-Cup-Spiel sein Vereinsleibchen gelupft und das Solidaritäts-T-Shirt für die Liverpooler Docker zum Vorschein kommen lassen?

Auch die Spielweise hat sich im Laufe der letzten Jahre verändert. Shankly brachte den LFC an die Spitze der ersten Liga, indem er eine kollektive Haltung durchsetzte (das Team ist wichtiger als der Einzelne, gleicher Lohn für alle, keine Primadonnen), den Spielern im Training viel abverlangte (damals eine Novität) und ein einfaches System propagierte: «Geht raus, rennt und gewinnt.» Sein Rezept entsprach der damaligen Stimmung: «Fussball ist simpel, wenn man richtig spielt.» Zu einem richtigen Spiel gehörten seiner Ansicht nach Disziplin, Gemeinschaftsgeist, Respekt für die Fans (denn auf die komme es an), Verachtung für den Gegner. Umgesetzt auf dem Feld waren dies: den Ball maximal zweimal berühren (stoppen, passen), ständig in Bewegung bleiben, Verzicht auf taktische Spielchen. Für Taktik und Theorie hatten Shankly und seine Nachfolger wenig übrig. Das schnelle Spiel, der Verzicht auf (verletzungsanfällige) Stars und ihr Selbstbewusstsein machten die Liverpooler Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre zum besten Klubteam in Europa – bis die Katastrophen einsetzten.

Heysel und Hillsborough

Bis heute ist der Buchstabe «H» im Lexikon der Fussballkatastrophen dem LFC vorbehalten. Im Mai 1985 starben beim Europacup-Endspiel Liverpool-Juventus Turin im Brüsseler Heysel-Stadion 35 italienische Fans. Bei den in den achtziger Jahren üblichen Scharmützeln gegnerischer Fans brach in dem baufälligen Stadion eine Mauer zusammen. Ganz Liverpool war schockiert. Die inkompetente Uefa habe einen falschen Austragungsort gewählt, die belgische Polizei sei überfordert gewesen, bei der Ticket- und Platzvergabe habe Korruption eine Rolle gespielt – alles richtige Anschuldigungen, die dennoch nicht darüber hinwegtäuschen konnten, dass Liverpudlians unter den englischen Hooligans gewesen waren. Unmittelbar danach wurden alle englischen Klubs für fünf, Liverpool für sieben Jahre von den europäischen Cup-Wettbewerben ausgeschlossen.

Ausgerechnet Liverpool hatte das passieren müssen. Dabei genossen die Fans des LFC bis anhin einen guten Ruf – auch deswegen, weil sie sich kaum für die Nationalmannschaft interessierten, deren Auswärtsspiele regelmässig von national-chauvinistischen Hooligans begleitet wurden. In der von der konservativen Regierungspolitik gebeutelten Hafenstadt repräsentierte das Nationalteam den reichen Süden – es war gewissermassen die Mannschaft Margeret Thatchers. Nicht zufällig entstand nach Heysel in Liverpool die Football Supporters Association, eine linke Antwort auf den rechten Hooliganismus (und auf die zunehmende Kommerzialisierung der Klubs).

Vier Jahre später folgte das zweite Desaster: Vor einem Cup-Spiel im Hillsborough-Stadion von Sheffield schleuste die Polizei hunderte von wartenden Fans durch einen Korridor in ein Zuschauersegment, das allseits umgittert und bereits überfüllt war. 96 Liverpooler Fans wurden zu Tode gequetscht – Opfer einer Politik der Käfighaltung, die sich PolitikerInnen als Lösung des Hooligan-Problems ausgedacht hatten.

Beide Ereignisse blieben nicht ohne Folgen. Der LFC stattete wie alle anderen Liga-Klubs die Stehtribünen mit Sitzen aus (das reduzierte die Kapazität des Stadions um über 10.000 auf 45.000 Plätze), hob die Preise, förderte den Verkauf von Saisontickets (ein Viertel geht an Fans von weit ausserhalb der Stadt) – und wurde auch auf dem Feld ein Durchschnittsklub ohne unverkennbare Spielweise. Andererseits hat sich der LFC wieder an die Spitze gearbeitet: 2000 Vierter, 2001 Dritter (und Uefa-Cup-Sieger), 2002 Zweiter. Die Hintermannschaft mit Stephane Henchoz und Sami Hyypia liefert seit langem eine solide Leistung, das Angriffsduo Michael Owen und Emile Heskey spielt in der Nationalmannschaft. Mittlerweile bietet auch das Mittelfeld ansehnlichen Fussball. Die Spieler des FC Basel sollten sich also nicht von Liverpools Tabellenplatz (nur an fünfter Stelle) täuschen lassen. Zumal der LFC zu Hause mit mehr als nur elf Mann spielt – vor allem dann, wenn 40000 die Liverpooler Hymne vom Sturm, vom Durchhalten und von der Hoffnung anstimmen: «You'll Never Walk Alone».


PS: Fünfzehn Jahre nach Publikation dieses Artikels spielt der FC Liverpool noch immer an der Anfield Road: Das neue Stadion wurde nie gebaut. (pw)