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Britannien: Welchen Spielraum hat linke Politik?

So leer wie der Millenium Dome

21. Mai 2001 | Wenn die Umfragen halbwegs stimmen, wird Tony Blair nächste Woche zum zweiten Mal siegen. Aber was ist damit gewonnen? Ein Gespräch mit Tony Benn, dem dienstältesten Labour-Abgeordneten.

In einem unserer letzten Interviews haben Sie gesagt, Sie würden noch mit hundert Jahren im Unterhaus sitzen …

Das habe ich sagen müssen, um andere von der Idee abzubringen, ich könnte demnächst aufgeben.

… nun sind Sie erst 76 Jahre alt und hören schon auf. Warum?

Der politische Handlungsrahmen hat sich verschoben. Das Parlament wird immer mehr von Grossunternehmen, Medien, Parteiapparaten und Marketing-Abteilungen dominiert. Der Spielraum ist inzwischen so eng, dass die Abgeordneten den Kontakt zur Bevölkerung verlieren, die wir doch eigentlich vertreten sollten.

Das Parlament hat an Bedeutung verloren?

Ja, und das nicht nur in Britannien. Die Welt wird von den multinationalen Konzernen, den grossen Medienunternehmen, den Banken, der WTO, der EU-Kommission in Brüssel, dem Währungsfonds, der Zentralbank in Frankfurt regiert. Wer heute in die Regierung gewählt werden will, muss den Mächtigen versprechen, das Land zu managen. Auch mich wollte man managen. Ich sollte nicht die Interessen der Menschen in meinem Wahlkreis vertreten, sondern im Wahlkreis die Interessen der Labour-Zentrale vertreten. Das ging natürlich nicht.

Endet so die politische Karriere von Tony Benn?

Als ich meinen Verzicht begründete, haben einige gelacht. Ich sagte nämlich: Ich höre auf, um mehr Zeit für die Politik zu haben. Inzwischen haben alle begriffen, was ich meinte. Ich habe in den letzten Wochen fünf Reden vor jeweils tausend Leuten gehalten – zu Palästina, zur Asylpolitik, zum Verkauf von Gemeindewohnungen, zur Kürzung kommunaler Haushalte, zur Globalisierung. Und am Wochenende vom 1. Mai bin ich in vier Städten aufgetreten. Ich habe seit dem Bergarbeiterstreik (1984-85) nicht mehr so viele öffentliche Auftritte gehabt wie jetzt. Die wichtigen politischen Bewegungen und Veränderungen finden heute ausserhalb des Parlaments statt. Ich stelle also nicht meine politische Arbeit ein, ich will nur effektiver werden.

Aber Labour ist doch erfolgreich wie selten zuvor. Zumindest liegen die Konservativen in den Meinungsumfragen weit zurück.

Weil Mister Blair eine äusserst konservative Politik betreibt. Man darf nicht vergessen: Blair gewann 1997 aus drei Gründen. Erstens hatten die Leute genug von den Konservativen und viele Rechte sind gar nicht erst wählen gegangen. Zweitens fühlten sich viele zu New Labour hingezogen – aber insgesamt lag der Stimmenanteil von Labour nur wenig über dem von 1992. Und drittens entschied sich das Establishment für Blair. Die Bevölkerung wünschte einen Wechsel, den die Mächtigen aber nicht wollten, und so bevorzugten diese eine New-Labour-Führung, die sowohl die Thatcher-Tradition fortsetzen wie die Arbeiter mobilisieren konnte. Das ist heute noch so, und deshalb hat Blair eine so gute Presse.

Er kann auch ökonomische Erfolge vorweisen, oder?

Wir haben einen Wirtschaftsboom geerbt, von dem niemand weiss, wie lange er noch anhält. Die Regierung gibt einen noch geringeren Teil des Staatshaushaltes für öffentliche Dienstleistungen aus als es die Konservativen getan haben. Da sie wesentliche ökonomische Steuerungsinstrumente aus der Hand gegeben hat, kann sie auf die nächste Konjunkturkrise nicht reagieren. Insgesamt befinden wir uns in einer nach-thatcheristischen Konsolidierungsphase, die bei unseren Wählern auf wenig Gegenliebe stösst.

Aber etwas Positives wird die Regierung doch geleistet haben.

Irland. In Irland gab es einigen Fortschritt. Nicht so viel, wie ich mir wünschen würde, aber der Krieg ist vorbei. Und dann vielleicht noch die Einführung eines Mindestlohns, der aber viel zu niedrig ist. Ansonsten sinken die Renten im Vergleich zum Durchschnittseinkommen, die Studierenden müssen Gebühren zahlen, die Geschworenengerichte werden abgeschafft, die Terrorgesetze sind ausserordentlich repressiv, die Privatisierung geht weiter, Schulen und Spitäler werden vom Privatkapital gebaut …

Halt, wir wollten von Erfolgen reden!

Nun denn, New Labour ist schon besser als die Thatcher-Regierung. Aber das Privatisierungsprogramm ist weitaus umfassender als unter den Tories. Thatcher hat die Staatsindustrie verkauft, wir hingegen verschleudern den Dienstleistungsbereich.

Kann man da noch Labour wählen?

Ich hoffe sehr, dass Labour gewinnt, und es sieht auch ganz danach aus. Wer will schon William Hague? Aber die Wahlbeteiligung wird sinken. Die Apathie ist gross. Vor allem in den Labour-Hochburgen sind viele gleichgültig geworden, weil sie den Eindruck haben, dass sich die Regierung nicht für sie interessiert. Seit dem Erfolg von Ken Livingstone bei der Londoner Oberbürgermeisterwahl hat New Labour den Nimbus der Unbesiegbarkeit eingebüsst [Livingstone war als Unabhängiger angetreten, weil Blair den linken Pabour-Politiker als Labour-Kandidat verhindert hat, pw.]. Die Parteiführung ist deswegen auch etwas nervös geworden – sie hat den Apparat, sie hat das Geld, sie hat die Technologie, aber sie hat nicht die Ideologie und die politische Unterstützung, die eine Partei braucht. Der dritte Weg ist wie der Millennium Dome – ein riesiges Konstrukt mit nichts drin.

Warum sind Sie dann noch in der Partei?

Ich habe mir das lange überlegt. Aber ich bin jetzt genau sechzig Jahre in der Partei und denke, dass die Chance für eine Durchsetzung sozialistischer Ideen im Land gering ist, wenn man nicht einmal Labour davon überzeugen kann. Wir müssen also erst die Partei gewinnen.

Manche Linke wurden aus der Partei geworfen.

Das stimmt. Dennoch gilt das Prinzip «Einigkeit macht stark» nicht nur für Arbeitskämpfe. Die schottischen Sozialisten, das linke Wahlbündnis Socialist Alliance oder der Bergarbeiterführer Arthur Scargill mit seiner Socialist Labour Party haben den falschen Weg eingeschlagen. Wir haben zu viele sozialistische Parteien, und zu wenig Sozialisten. Mr. Blair hat übrigens den gleichen Fehler gemacht, als er vor der letzten Wahl New Labour als neue Partei vorstellte. Für mich war das sehr praktisch – ich konnte immer auf New Labour verweisen, wenn sich Leute beschwerten. Ich bin ja «Old Labour». Übrigens lässt Blair den Namenszusatz wieder fallen.

Ein Sieg für Old Labour?

Natürlich nicht. Aber die Partei ändert sich: Im letzten Herbst haben die Gewerkschaften der Führung in der Rentenfrage die erste grosse Niederlage beigebracht. Die Unzufriedenheit mit der Parteispitze nimmt zu. In den Gewerkschaften wächst eine neue Generation radikaler und fähiger Aktivisten heran. Und vieles deutet darauf hin, dass sich die Labour-Basis nach einem zweiten Wahlsieg nicht mehr so leicht abspeisen lässt.

Den Druck von unten haben Sie vor vier Jahren schon prognostiziert.

Ich war immer Optimist; ohne Hoffnung hält man es als Linker nicht lange aus in der Politik. Die Friedensbewegung zum Beispiel wird wieder stärker. Das US-Programm Star Wars mobilisiert die Menschen in einem Masse, wie wir das seit der Nato-Nachrüstung vor zwanzig Jahren nicht erlebt haben. Bush ist ungemein unpopulär hier, selbst viele Konservativen lehnen seinen nackten Imperialismus ab.

Und Blair?

Im Moment zögert er noch, aber nach der Wahl wird er die Aufrüstung unterstützen und die Friedensbewegung bekämpfen. Zuerst wandelte er mit Clinton auf dem Dritten Weg, jetzt vertritt er «die gleichen Werte wie Bush». Wie flexibel man doch sein kann! Da ist es doch reine Zeitverschwendung, im Parlament zu hocken. Man muss draussen kämpfen.

Aber haben sich die Kampfaussichten nicht verschlechtert? Der Handlungsspielraum nationaler Regierungen als Adressat der Proteste ist geringer geworden.

Die Demokratie hat gelitten, das empfinden viele so. Das Parlament ist bedeutungslos geworden, das Kabinett hat nichts zu sagen, der Premierminister muss tun, wie ihm befohlen wird. Wir müssen also von vorn beginnen. Die demokratische Bewegung der Chartisten im 19. Jahrhundert war populär, weil die Menschen ihr Schicksal selber bestimmen wollen.

Damals aber boten Nationalstaaten den Rahmen.

Es geht um ein Grundprinzip, und auf jeder Ebene - lokaler, nationaler wie internationaler – gültig ist: Die Regierenden muss man wählen und wieder abwählen können. Wenn man die Mächtigen nicht loswerden kann, lebt man nicht in einer Demokratie. Heute müssen wir fordern, dass wir die Generalversammlung der Uno, den Sicherheitsrat, die Entscheiungsgremien von WTO und Währungsfonds bestimmen und internationale Arbeitsrechte sowie Sanktionen gegen Konzerne (nicht Nationen) durchsetzen können. Das klingt unrealistisch, ist aber nicht unrealistischer als vor 200 Jahren die Forderung nach allgemeinem, freien Wahlrecht. Mitte des 19. Jahrhunderts durften nur zwei Prozent der Bevölkerung – reiche, weisse Männer - wählen. Noch in meinem Geburtsjahr (1925) konnten Frauen unter dreissig nicht abstimmen gehen. Und wann haben Frauen in der Schweiz das volle Wahlrecht erhalten? Die erste demokratische Revolution haben wir gerade erst hinter uns, und nun steht uns eine noch grössere bevor.

Aber was nützen uns demokratisch gewählte Regierungen, wenn diese nurmehr ein Spielball der multinationalen Konzerne sind?

Das stimmt nur teilweise. Als Abgeordneter und Minister habe ich mich immer als eine Art Betriebsrat gesehen. Eine Labour-Regierung muss meinem Verständnis nach die Betriebskommission der Arbeiterbewegung und der Bevölkerung sein. Stattdessen ist sie Teil des Managements. Auf internationaler Ebene gibt es zwischen Kapital und Arbeit Konflikte wie zwischen Management und Belegschaft einer Fabrik. Als Minister ist man da nicht ganz machtlos.

Zwei Beispiele. Während meiner Zeit als Industrieminister haben wir herausgefunden, dass Philips aufgrund konzerninterner Preisverschiebungen unserer Handelsbilanz schadete, und das zu einem Zeitpunkt, als Britannien unter dem Druck des Währungsfonds' stand. Also bin ich nach Eindhoven geflogen und habe den Philips-Chefs erklärt, dass meine Regierung künftig nichts, nicht einmal eine Glühbirne, von Philips kaufe, sollte die Firma ihre Transferpreise nicht korrigieren.

Es war eine persönliche Initiative. Wenn das Kabinett davon erfahren hätte, wäre der Teufel los gewesen. Aber es klappte. In einem anderen Fall habe ich den IBM-Chef zu mir kommen lassen und ihm wegen Preistreiberei mit einem neuen Gesetz gedroht – ebenfalls erfolgreich. Wir sind also nicht so ohnmächtig, wie wir glauben. Das Problem ist, dass wir es nicht einmal mehr versuchen. Es gibt da auch einen linken Defätismus.

Damals war das einfacher. Da dominierten Firmen, die im Lande produzieren und verkaufen wollten. Heute gelten nur noch Aktienwerte, heute zirkuliert vor allem Geld.

Die Konzerne sind immer noch verwundbar. Wenn eine Regierung einer Firma droht, werden sich die Leute zweimal überlegen, ob sie deren Aktie kaufen. Wir müssen mit den Konzernen so umspringen wie die mit uns. Vor kurzem hat General Motors (GM) die Schliessung eines britischen Werks bekannt gegeben. Wenn die Regierung nun erklärt hätte, nie wieder ein GM-Wagen für die Polizei oder andere Behörden zu kaufen – was glaubst du, wie schnell die sich umbesonnen hätten. Gewiss, das ist ein riskantes Spiel und man muss hart verhandeln – aber ohne Erfolgsaussichten ist es nicht. Regierungen sind auch Grosskunden.

Bleibt uns nur noch die Konsumenten-Power?

Man darf die Macht von Regierungen und EinzelkonsumentInnen nicht unterschätzen. Auch im Arbeitsbereich müssen wir neue Strategien entwickeln. So werden in diesem Jahr die englischen Lehrer streiken. Das wichtigste Argument der Gegenseite ist jetzt schon zu hören: Ihr ruiniert die Zukunft der Prüflinge! Anstatt nun zu Hause zu bleiben, könnten einige Lehrer die vor einem Examen stehenden Schüler unterrichten, während die anderen die Schule für die ganze Gemeinschaft öffnen, die Bewohner einladen, mit ihnen die Probleme der jeweiligen Quartiere debattieren und angehen: Was stimmt nicht in unserer Stadt? So könnten aus tristen Schulen kleine revolutionäre Zentren werden. Das würde die da oben in Angst und Schrecken versetzen! Oder die Londoner Underground-Arbeiter. Sollten sie statt zu streiken nicht besser Gratisfahrten anbieten und statt Billets Flugblätter verteilen?

Gerät New Labour also in die Krise?

Die Seattle-Bewegung wird stärker und die Parteispitze verliert an Einfluss. Sie ist jetzt so isoliert wie früher die Parteilinke. New Labour ist eine winzige Partei, vielleicht die kleinste Regierungspartei in der Geschichte, vor allem aber hat sie keine Wurzeln in der Gemeinschaft. Das macht sie schwach.

(pw)