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Der Staat gegen Klimaproteste

«Für wie beschränkt halten die uns eigentlich?»

6. Juni 2023 | Vorletzte Woche gingen die Behörden in gleich sieben Bundesländern gegen Mitglieder der Gruppe Letzte Generation vor – diese könnten eine «kriminellen Vereinigung» gebildet haben. Dazu ein Interview mit der Konstanzer Klimaschützerin Eileen Blum.

Frage: Bundeskanzler Olaf Scholz hält euch für «bekloppt», Innenministerin Nancy Faeser, ebenfalls SPD, will nicht, dass ihr «dem Rechtstaat auf der Nase herumtanzt», Staatsanwaltschaften ermitteln wegen des Verdachts auf Bildung einer kriminellen Vereinigung, CDU, CSU, FDP wollen wir hier gar nicht erst zitieren – und die Grünen schweigen. Macht euch das Angst?

Eileen Blum: Die Situation ist so absurd, dass man lachen könnte, wenn sie nicht so ernst wäre. Auf der persönlichen Ebene gibt es schon ein paar Sorgen, weil man sich ja fragt, was auf einen persönlich noch zukommen kann. Aber direkt Angst haben wir nicht, weil wir vor unseren Aktionen wissen, was kommen kann. Wir bereiten uns gründlich vor, beraten uns gegenseitig, wissen, was zu tun ist, wenn es eine Hausdurchsuchung gibt – und was die Polizei darf und was nicht.

Aber jetzt eskalieren Justiz und Politik.

Blum: Das kommt einerseits nicht ganz überraschend. Wir werden als völlig bekloppt und rechtsstaatsfeindlich dargestellt – dabei wären wir, wie kürzlich jemand sagte, die erste kriminelle Vereinigung in der Geschichte, die dafür sorgt, dass sich der Rechtsstaat an die eigenen Gesetze hält. Wir wissen ja, dass durch den Klimawandel viele Menschen hier, aber auch in anderen Regionen, sterben werden. Dass Menschenrechte in großem Maßstab verletzt werden. Dass wenn wir die Klima-Kipppunkte reißen, eine einigermaßen gut funktionierende Zivilisation und damit ein Rechtsstaat nicht mehr erhalten werden können. Zu sagen, wir seien gegen den Rechtsstaat, obwohl wir nur fordern, dass der Staat endlich das konsequent umsetzt, wozu er sich schon vor längerem verpflichtete – das ist wirklich bekloppt.

Ihr sagt, ihr bekennt euch zum Rechtsstaat. Aber ist bei einem Staat, der so agiert, nicht eh alles verloren?

Blum: Bei der aktuellen Debattenkultur geht es weniger um Fakten oder das große Ganze – man ist mehr damit beschäftigt, aufeinander einzuhauen. Dass man nicht lösungsorientiert miteinander redet, macht mir schon Sorgen. Aber das führt nicht so weit, dass wir nicht mehr an den Rechtsstaat glauben. Als Bewegung ist uns das sehr wichtig.

Warum reagiert dann der Staat mit Razzien, Hausdurchsuchungen, Festnahmen, Sperrung der Website und von Konten?

Blum: Das frage ich mich auch. Vielleicht weil die Politik in einem Dilemma steckt. Wenn sie tut, was wir fordern, schreit die Qualitätspresse wie Bild: Der Staat lässt sich erpressen! Da ist es einfacher, gegen uns vorzugehen. Dabei müssten sich die Politiker um die Zukunft und die Bürger kümmern, und nicht um ihre Erfolgsaussichten bei der nächsten Wahl. Sie gehen nicht auf unsere Forderungen ein, weil das ihr Ego ankratzt. Und weil sie, wenn sie jetzt handeln würden, indirekt zugäben, dass ihr Nichthandeln vorher falsch war.

Schätzt ihr die Rolle des Staats richtig ein? Es gibt ja auch andere Staatstheorien …

Blum: … welche?

… zum Beispiel aus dem marxistischen Umfeld. Die besagen, dass die Hauptaufgabe des Staats darin besteht, die Interessen der Mächtigen zu wahren und die Besitztümer und die Dominanz der herrschenden Klasse zu schützen. So gesehen handelt dieser Staat jetzt auftragsgemäß.

Blum: Insofern ja. Daher kommt unsere Forderung nach einem Gesellschaftsrat. Wir wollen damit eine neue Instanz schaffen, die nicht irgendwelchen Lobbys nachgibt, die politische Entscheidungen beeinflussen können. Die meisten Politiker haben zudem eher einen akademischen Hintergrund, viele sind Juristen oder ehemalige Politikstudenten – ist das noch repräsentativ? Mit dem Gesellschaftsrat gäbe es die Möglichkeit, dass unterschiedliche Menschen demokratischer zusammenkommen.

«Die Regierung entmachtet sich gerade selber»

Die Bildung eines Gesellschaftsrats ist eine von euren Forderungen?

Blum: Das ist aktuell unsere Hauptforderung.

Wie soll das funktionieren?

Blum: Ähnliches ist in anderen Zusammenhängen bereits ausprobiert worden. Dabei gab es die Erkenntnis, dass Beschlüsse dieser Gesellschaftsräte bei der Bevölkerung oft eine größere Akzeptanz haben als die Entscheidungen von Politikern zum selben Thema. Und dass sie meistens ein bisschen fortschrittlicher und mutiger waren als das, was die Politiker meinen, dem Volk zutrauen zu können. Man müsste schauen, wie Deutschland demographisch aufgebaut ist: wie viele Junge, wie viele mit Migrationshintergrund, wie viele mit Ausbildung oder Studium – und innerhalb solcher Kategorien werden Leute ausgewählt, die sich zusammensetzen, sich mit Experten beraten und Maßnahmen für ein Ende der fossilen Energien bis 2030 vorlegen.

Damit das funktioniert, müsste der Gesellschaftsrat die Macht übernehmen, also größeren Einfluss haben als das Bundeskanzleramt, das Bundesverkehrsministerium …

Blum: Genau. Die Regierungsparteien haben im Koalitionsvertrag die Einsetzung von Bürgerräten vereinbart – wenn auch nicht genau zu der Fragestellung. Zudem sind sie sich einig, dass mehr Klimaschutz gemacht werden muss …

Ihr wollt eine Powerinstanz, die die Regierung endlich zum Handeln zwingt?

Blum: Ja, so in etwa – mit einem demokratischen Ansatz und aus der Gesellschaft heraus. Es gab ja schon mal einen Klimarat mit guten Vorschlägen, aber die sind in der Schublade verschwunden.

Das könnte wieder passieren.

Blum: Richtig. Deswegen wollen wir, dass die Regierung diesen Rat einberuft – und dass sie zusagt, dessen Vorschläge umzusetzen.

Ihr strebt im Bereich Klimaschutz die Entmachtung der Regierung an?

Blum: Das könnte man so formulieren (lacht). Aber nicht ganz. Denn die Regierung würde ja die Fragestellung vorgeben. Andererseits: Wenn man sich die ständigen Auseinandersetzungen und Querschüsse der FDP in der Ampelkoalition vor Augen führt, entmachtet die sich gerade selber.

Die Regierungsparteien haben mithin die Wahl, eurer Forderung nachzugeben. Oder weitere Eskalation und damit Einschränkungen des Rechts auf zivilen Ungehorsam.

Blum: Entweder gehen sie auf uns zu und setzen sich konstruktiv mit uns auseinander. Oder sie bleiben bei ihrer Haltung: «Weil ihr eure sinnvollen Maßnahmen so fordert, wie ihr das tut, werden wir sie nicht umsetzen!“ Wenn sie einen anderen Vorschlag als den Gesellschaftsrat haben und die Wissenschaft das für einen guten Weg hält, um den Klimawandel zu managen – okay, dann werden wir von der Straße gehen. Den Parteien ist natürlich freigestellt, mehr zu tun.

«Der beste Protest nützt nichts, wenn ihn niemand mitkriegt.»

Um eure Ziele oder beispielweise den Gesellschaftsrat durchzusetzen, braucht ihr mehr Unterstützung. Es gibt viele Leute, die euren zivilen Protest grundsätzlich gut finden, aber die Zielsetzung und das Mittel hinterfragen. Ohne breite Unterstützung aber nichts zu erreichen ist. Was tut ihr dafür?

Blum: Wir hören häufig, dass das Festkleben auf Straßen für ein 9-Euro-Ticket und Tempo 100 auf Autobahnen der falsche Weg für zu bescheidene Ziele seien.

Ist diese Protestform die richtige?

Blum: Es wird oft kritisiert, dass es die falschen trifft. Aber wir haben uns auch schon vor dem Bundestag und vor dem Landwirtschaftsministerium festgeklebt, wir haben Gasleitungen abgedreht, mit anderen Klimaschützern Kohlegruben besetzt. Aber kaum jemand weiß davon, weil darüber selten berichtet wird. Der beste Protest nützt nichts, wenn ihn niemand mitkriegt.

Und das ist bei Straßenblockaden anders?

Blum: Sie finden in der Mitte der Gesellschaft statt, da ist es schwierig, uns zu ignorieren. Leute regen sich auf, und es ist halt in unserer aktuellen Medienkultur so: Sobald sich jemand aufregt, wird darüber berichtet und diskutiert. Laut Protestforschung ist das bei anderen Widerstandsformen weniger der Fall – weil niemand sie mitkriegt.

Vorletzte Woche haben hundert Aktivist:innen den Genfer Flughafen besetzt und die Startbahn für einige Stunden blockiert. Das hat Schlagzeilen gemacht.

Blum: Das ist eine ähnliche Form; sie haben ebenfalls den Verkehr blockiert.

Nur richtete sich die Flughafenaktion vor allem gegen Privatflieger, die wesentlich mehr zur Klimakatastrophe beitragen als die kleinen Angestellten im Auto.

Blum: Gute Idee. Aber krieg mal genug Leute zusammen, die eine Flughafenblockade machen. Es ist nicht so einfach, auf eine Landebahn zu kommen, bei Straßen ist das einfacher. Außerdem ist die Repression nochmals deutlich stärker.

Warum dann keine Besetzung des Bundesverkehrsministeriums? Da würden sicher viele zustimmen.

Blum: Das kann durchaus sein. Aber unsere Besetzung des Landwirtschaftsministeriums hat keiner mitgekriegt. Ich weiß nicht, ob das Schlagzeilen machen würde.

Noch ein Vorschlag, diesmal von Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung, Zitat: «Vielleicht würde es sich mehr lohnen, in Karlsruhe, am Sitz des Bundesverfassungsgerichts, zu protestieren. Das höchste deutsche Gericht hat sich seit seinem vielgerühmten Klimabeschluss vom März/April 2021 der Fortschreibung des Klimaschutzes verweigert. Es nimmt seine eigene damalige Entscheidung selber nicht ernst: Es hat alle weiteren Klagen, die mehr Klimaschutz erreichen wollten, abgewiesen – zum Teil ohne jede Begründung. Da lohnt sich ein Protest.» Ein Ziel?

Blum: Ja, definitiv. Den ersten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts fand ich super, aber danach war’s schon enttäuschend. Es kam nichts. Wir haben ein Strategieteam, die werden sich schon überlegt haben, warum sie das nicht vorschlagen …

Warum nicht mal die Chefetagen der Energieriesen RWE und E.On oder die Konzernzentralen der Auto- und Chemieindustrie?

Blum: Mit politischen Zielen erreichen wir wahrscheinlich mehr Aufmerksamkeit. Dazu kommt: Bei bisherigen Aktionen zum Beispiel an Gaspipelines waren die Reaktionen sehr harsch, die Firmen haben mit Anwälten gedroht, hohe Geldstrafen in Aussicht gestellt und verlangt, dass alle Aussagen widerrufen und alle Beiträge von Netz genommen werden. Und dann ist es schwierig, die Presse bei Hausfriedensbruch mitzunehmen. Auf der Straße geht das einfacher.

Dabei müsste man doch genau an diese Firmen ran.

Blum: Richtig. Aber man hat viel mehr Ärger mit denen.

Fragt ihr euch nicht, ob sich euer persönlicher Einsatz und die damit verbundenen Risiken für eine 9-Euro-Ticket und ein Tempolimit lohnen. Solltet ihr da nicht ein bisschen mehr wollen?

Blum: Was ist die Alternative? Die Politik hat uns vorgeworfen, dass wir viel zu große Forderungen gestellt hätten, die nicht zu schaffen seien. Deshalb verlangen wir etwas, das sofort umgesetzt werden kann: Für das 9-Euro-Ticket und das Tempolimit gibt es bereits gesellschaftliche Mehrheiten, und der Organisationsaufwand wäre gering. Ein paar Schilder abschrauben genügt.

Das Klimathema ist unglaublich umfassend und komplex. Da hatte es die Anti-AKW-Bewegung mit der Besetzung von Bauplätzen einfacher.

Blum: Das Thema ist allumfassend, und deswegen fragen auch viele: Warum protestiert ihr da – und nicht dort? Warum der Flughafen und nicht die Massentierhaltung, die ist auch wichtig, und warum die Massentierhaltung und nicht die Kohlegruben in NRW? Dabei gab es ja dort auch Proteste. Es gibt eben nicht diesen einen Symbolort, wo alle hinkommen können. Andererseits kann man dafür überall ansetzen, weil alles mit Klima zu tun hat.

«Mittlerweile gibt es mit vielen Museen eine Zusammenarbeit.»

Ihr braucht Bündnispartner:innen. Was tut ihr dafür?

Blum: Wir fordern alle auf, uns zu unterstützen, führen Kampagnen, organisieren Veranstaltungen – und planen derzeit eine stärkere Vernetzung mit den Kirchen, Gewerkschaften und dem Kulturbereich wie beispielsweise Museen. Da haben wir schon einige Unterstützung bekommen …

Von Museumsleitern, die sagen: Kommt rein, wir hätten da noch ein Bild?

Blum: Nein, nicht zum Ankleben (lacht). Wir haben zum Beispiel in Friedrichshafen mit dem Zeppelin-Museum kooperiert, das uns Räume für Veranstaltungen, Aktionstraining und Malworkshops mit Kindern anbot. Mittlerweile gibt es mit vielen Museen eine Zusammenarbeit.

Mit den Gewerkschaften ist es wahrscheinlich nicht so einfach. Da gibt es zwar eine bundesweite Kooperation zwischen ver.di und Fridays for Future, aber vor Ort läuft nichts.

Blum: Vor Ort ist es ein bisschen schwierig, weil niemand freie Kapazitäten hat. Da fragt man sich etwa vor Klimastreiktagen: Machen die anderen hier eigentlich auch was, haben die sich mal gemeldet, warum hört man nichts, wer könnte sie anschreiben? Aber dafür hat dann niemand Zeit …

Wie viele seid ihr denn hier?

Blum: Aktiv sind etwa ein Dutzend. Das ist mehr als noch vor Kurzem und verglichen mit anderen Orten gar nicht so schlecht, aber wir wollen natürlich mehr werden.

Liegt es an der geringen Zahl von Aktiven, dass es bisher in Konstanz nur eine Aktion gab?

Blum: Uns gibt es seit 2021, und lange Zeit war ich die Einzige. Allein lässt es sich schlecht protestieren. Aber dann kamen mehrere Leute dazu, wir machten die Aktion, planten eine weitere, doch dann hat unser regionales Strategieteam, das mit der Protestforschung zusammenarbeitet, abgewunken. Aber es wird bis Herbst ein paar Aktionen geben.

Jetzt warnt die SPD vor einer Radikalisierung und empfiehlt eine weitere Beobachtung durch Sicherheitsbehören. Steht eine Radikalisierung an?

Blum: Die Forschung hat ergeben, dass radikalere Proteste nicht immer die wirksameren sind – aber Protest auch irgendwo stören und kontrovers sein muss, damit er wirkt. Und dass ziviler Ungehorsam die beste Form ist. Es entspricht unserem Grundkonsens, Leben zu schützen und ein gutes Leben für alle zu ermöglichen. Radikalere Formen lassen sich mit unseren Überzeugungen nicht vereinbaren und sind auch nicht effektiv. Da frage ich mich: Für wie beschränkt halten die uns eigentlich?

Was erwartet ihr nach dieser Repressionswelle, was kommt da auf euch zu?

Blum: Es gibt ein schönes Zitat, ich glaube, es ist von Gandhi: «Zuerst ignorieren sie dich, dann bekämpfen sie dich, dann gewinnst du». Wir stellen uns schon darauf ein, dass der Staat vielleicht noch zu heftigeren Mitteln greift, inklusive Gefängnisstrafen. Aber das mobilisiert ja auch Leute, wie wir derzeit sehen, die sagen: «Wir finden nicht alles gut, was ihr tut. Aber was der Staat da macht, ist nicht okay. Es ist offenbar nicht gewillt, auf vernünftige Forderungen einzugehen oder selber Vorschläge für mehr Klimaschutz zu machen – und so bin ich jetzt auf eurer Seite.»

Das staatliche Vorgehen ist also kontraproduktiv?

Blum: Es sieht so aus. Manche geben sich jetzt einen Ruck und sagen sich: «Wenn ich mich schon für eine Seite entscheiden muss, dann bin ich eher für die Klimaaktivisten.» Wir sehen das ja auch beim Spendeneingang – wenn nicht gerade, wie jetzt, die Konten beschlagnahmt werden.

Woher kommt das Geld?

Blum: Es gibt ein paar Großspender, die 10.000 Euro überweisen, weil sie sich sagen, dass das Geld bei uns besser investiert ist als in Aktien der Ölfirmen. Aber meist sind es kleine Beträge. (pw/Vjollca Veliqi)