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Deutschland: Proteste gegen Sozialabbau

Auf dem Weg zur Sonderzone Ostdeutschland

8. April 2004 | Hunderttausende demonstrierten gegen die Politik der rot-grünen Regierung. Aber wars das schon? Oder folgt noch mehr?

250.000 in Berlin, 150.000 in Stuttgart, 100.000 in Köln: Gemessen an den Grossdemonstrationen der letzten Jahre in Rom, Madrid oder Paris ist die Zahl der TeilnehmerInnen an den Märschen gegen den Sozialabbau eher bescheiden ausgefallen. Gemessen an der in Deutschland nicht sonderlich ausgeprägten Demonstrationskultur aber zog eine beachtliche Menge durch die Strassen der drei Kundgebungsorte. Wann hatte es zuletzt so grosse Manifestationen gegeben? Bei den Feiern zur Wiedervereinigung 1989/1990? Bei Aktionstagen gegen den heute vergleichsweise harmlos erscheinenden Sozialabbau der Konservativen Mitte der achtziger Jahre (vorangetrieben übrigens vom damaligen Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm, der am Samstag in Köln nicht nur gegen den Sozialkahlschlag von Rot-Grün, sondern auch gegen die Politik seiner CDU wetterte)? Bei den Protesten gegen den Nato-Nachrüstungsbeschluss im Jahre 1981?

Dass Hunderttausende demonstrieren und eine rasch wachsende Minderheit nicht mehr hinnehmen will, was die grosse Mehrheit der Bevölkerung hinnehmen soll, hat für Verunsicherung gesorgt. Die wirtschaftliche Elite des Landes ist besorgt und fürchtet, dass sich weitere, bereits angekündigte Reformen nicht mehr so leicht durchsetzen lassen. Mehrere Fraktionsmitglieder der regierenden Parteien signalisierten Mässigung – über einzelne Punkte des Zumutungsprogrammes Agenda 2010 könne ja noch mal geredet werden.

Doch die Spitzen der informellen Allparteienkoalition bleiben hart: Ein Kurswechsel komme nicht infrage. Die DemonstrantInnen und Gewerkschaften müssten erst einmal sagen, wie sie die Sozialsysteme sichern und die Finanzkrise des Staates beheben wollten, forderte der neue SPD-Chef Franz Müntefering – als gäbe es da nicht Vorschläge genug.

Was tun? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, welche Probleme und welche Art von Krise man konstatiert. Steckt das Land in schier unüberwindlichen finanziellen Schwierigkeiten, wie Regierung und Opposition behaupten – oder nach Jahren der Steuergeschenke an die Wohlhabenden in einer Verteilungskrise? Leidet die Wirtschaft an einem Mangel an billigen Arbeitskräften, wie die Mächtigen und die meisten JournalistInnen betonen? Sie zeigen auf Osteuropa und China, erklären aber nicht, wie eine hoch industrialisierte Gesellschaft einen Billiglohnsektor à la Ukraine verkraften soll, ohne aus allen Fugen zu geraten. Oder leidet sie an einem Mangel an Binnennachfrage, vor dem mittlerweile auch die Konsumgüterindustrie, die Bauwirtschaft und der Handel warnen?

Bereits absehbar ist, dass der Kapitalismus mit seinem Zwang zur Expansion demnächst an Grenzen stossen wird. In zehn, zwanzig Jahren werden die heute als Vorbild herumgezeigten Märkte in Osteuropa und China durchkapitalisiert sein und als Wachstumsquelle ausfallen. Deshalb richtet sich der Expansionsdruck nach innen – hin zur Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme, zur Privatisierung der Alltagsbedürfnisse wie Wasser, Bildung, Postverkehr. Doch dies ist genauso wenig ein spezifisch deutsches Problem wie die Verlagerung von Produktionsstätten in Billiglohnländer oder die Tatsache, dass kein Sozialabbau die Vollbeschäftigung früherer Jahrzehnte wiederherstellen kann. Was bleibt, ist eine gerechte Verteilung des Reichtums, der Erwerbsarbeit, aus der Reichtum stammt, und der vorhandenen Ressourcen auf alle – nicht nur in Deutschland oder in Europa.

Abgesehen von der Forderung nach einer grundlegenden Umverteilung haben linke ÖkonomInnen in Deutschland schon vor langem Konzepte für eine alternative Wirtschafts- und Finanzpolitik vorgelegt: Sie plädieren für ein europaweites, öffentliches Investitionsprogramm in den Bereichen Ökologie, Bildung, Gesundheit und umweltverträgliche Verkehrssysteme. Solche Investitionen wären problemlos zu finanzieren und kämen den jeweiligen Nationalökonomien durch höhere Beschäftigungsraten zugute. Sie fordern eine EU-weite Steuerpolitik mit dem Ziel, die Steuerkonkurrenz zu beenden und die Schlupflöcher für SteuerhinterzieherInnen zu stopfen. Ausserdem empfehlen sie weitere Arbeitszeitverkürzungen, um die Erwerbsarbeit auf mehrere Knochen und Köpfe zu verteilen (in Deutschland sind rund zehn Prozent aller Krankheitskosten auf die Arbeitsbedingungen zurückzuführen).

All diese Vorschläge wären leicht finanzierbar. Doch was tun die Wirtschaftsliberalen in Politik und Wirtschaft? Sie verlangen auf Länderebene eine Anhebung der Arbeitszeit von 38,5 auf bis zu 42 Stunden und haben plötzlich Ostdeutschland als «Fass ohne Boden» entdeckt, das laut «Spiegel» den «Absturz West beschleunigt». Ausgerechnet jene Kreise, die 1989/1990 einen sofortigen Anschluss der DDR an den Westen befürworteten und Warnungen vor diesem Experiment als Verrat an der Vereinigungsidee diffamierten, plädieren nun für ein neues Experiment, das Ostdeutschland wieder zur Zone macht - einer Sonderwirtschaftszone mit Billigstlöhnen ohne Tarifschutz, mit massiven Steuererleichterungen für Unternehmen und aufgeweichten Umweltschutzauflagen.

Den sozialen Bewegungen, die sich am vergangenen Samstag als soziale Kraft zurückgemeldet haben, wird die Arbeit so schnell nicht ausgehen. (pw)