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Deutschland: Mobilisierung auf Knopfdruck?
Der Widerstand kommt von unten
6. November 2003 | Haben die deutschen Gewerkschaften kapituliert? Die Apparate halten sich bei den Protesten gegen die Agenda 2010 jedenfalls vornehm zurück.
Eine grosse Demonstration war das wahrhaftig nicht – jedenfalls nicht im Vergleich zu jenen Manifestationen in Italien vor zwei Wochen, als über eine Million Menschen gegen die Rentenreform der Regierung protestierten. Dort legten zudem zehn Millionen Beschäftigte mehrere Stunden lang die Arbeit nieder, um eine Massnahme zu verhindern, die in Deutschland heutzutage höchstens ein paar Augenbrauen bewegen würde, so minimal erscheint die von Silvio Berlusconi geplante Verlängerung der Rentenbeitragszeit ab dem Jahre 2008 in Relation zu dem, was die rot-grüne Regierung in Deutschland derzeit durchdrückt. Und doch war allein schon die Tatsache, dass rund Hunderttausend am vergangenen Samstag in Berlin auf die Strasse gingen, ein gewaltiger Erfolg angesichts der Umstände, unter denen die Demonstration zustande kam.
Hunderttausend DemonstrationsteilnehmerInnen, ein Erfolg in einem Land, in dem inzwischen weit über fünf Millionen Menschen keine Erwerbsarbeit finden? In dem jeden Tag neue Horrormeldungen verkündet werden, der Kündigungsschutz gelockert wird, eine bereits beschlossene Gesundheitsreform vor allem ärmere PatientInnen massiv belastet, RentnerInnen höhere Beiträge entrichten müssen (aber, wie Anfang dieser Woche bekannt wurde, die nächsten drei, vier Jahre auf jede Erhöhung ihrer oft kargen Altersversorgung verzichten sollen), Millionen von Langzeitarbeitslosen auf Sozialhilfeniveau gesetzt werden (345 Euro plus Mietzuschuss) und künftig viel schärfere Regeln akzeptieren müssen, wenn sie überhaupt noch Unterstützung erhalten wollen.
Müssten da nicht ständig Millionen unterwegs sein? Doch die Frage ist falsch gestellt. Die uralte und doch kaum ausrottbare Krisentheorie, nach der sich die Menschen dann besonders heftig wehren, wenn es ihnen besonders dreckig geht, stimmt halt nicht. In Deutschland geht die Angst um. Wer noch einen Arbeitsplatz hat, hält lieber die Schnauze. Fatal jedoch ist, dass die Angst und die Ratlosigkeit bei denen besonders gross sind, die von ihrer Funktion her den Protest anführen müssten.
Nur die Basis mobilisiert
Die Gewerkschaftsvorstände zum Beispiel haben, so scheint es, das Handtuch bereits geworfen. Weder der deutsche Gewerkschaftsbund DGB noch die Vorsitzenden von IG Metall und Verdi – immerhin die grössten Einzelgewerkschaften Europas – riefen aktiv zu der nationalen Demonstration «gegen den Sozialkahlschlag» und die Agenda 2010 der rot-grünen Regierung nicht auf. Die Initiative blieb Basisorganisationen wie dem linken Zukunftsforum Stuttgarter Gewerkschaften vorbehalten, die schon Anfang Sommer mobilisierten. Deren Aufruf schlossen sich dann Zug um Zug lokale und regionale Betriebs- und Gewerkschaftsorganisationen, Erwerbsloseninitiativen, Gruppierungen wie Attac, kleinere Parteien wie die sozialdemokratische PDS und linke Medien wie das Online-Magazin www.labournet.de an. Sie, und nicht die Kirchen, die grossen Wohlfahrtsverbände oder die nationalen Gewerkschaften, haben die Demonstration initiiert, organisiert und getragen. Betrachtet man diese Ausgangslage, dann war die Demonstration ein riesiger Erfolg (die OrganisatorInnen hatten mit deutlich weniger TeilnehmerInnen gerechnet).
Gewiss, die Gewerkschaftsbürokratien haben mit eigenen Problemen zu kämpfen. Die IG Metall, das zeigte der Gewerkschaftstag Anfang Oktober, ist weiterhin gespalten und geprägt von einer zermürbenden Auseinandersetzung in den Führungsgremien. Und die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi leidet immer noch unter den Folgen der Fusion ihrer fünf Gründungsorganisationen und einer hochkomplizierten Struktur, die einen Wasserkopf in der Zentrale schuf und jede politische Bewegung blockiert. Ausserdem starren beide Organisationen fast nur noch auf die grossen Mitgliederverluste (die nur zum Teil mit der steigenden Arbeitslosigkeit zu tun haben) und auf das immer grösser werdende Loch in ihren Finanzen. Dass auch Beschäftigte in prekären Arbeitsverhältnissen gewonnen werden können (wie dies die mittlerweile bewegungs- und konfliktorientierten britischen Trade Unions zeigen), haben die Funktionäre der grossen deutschen Gewerkschaften bisher nicht erkannt oder nicht erkennen wollen.
Mal kurz den Schalter umlegen
Doch das wirkliche Problem sind nicht die Alltagsschwierigkeiten. Keiner hat das besser umschrieben als der DGB-Vorsitzende Michael Sommer. «Ich bestelle gern die Busse für Demonstrationen», begründete er seine Absage an die OrganisatorInnen der Berliner Manifestation gegen die rot-grüne Politik, «aber sie müssen voll werden.» Sommer bezog sich damit auf die miserable Teilnahme an einem DGB-Aktionstag im Mai dieses Jahres (nur 90.000 waren dem DGB-Aufruf gegen die Agenda 2010 gefolgt).
Damals hatte der traditionell sozialpartnerschaftlich eingestellte DGB mal kurz die Basis mobilisieren, mal kurz Busse füllen wollen. Bewegungen kann man jedoch nicht an- und ausknipsen wie das Licht im Gewerkschaftsbüro. Dazu braucht es politische Überzeugung, einen langen Atem und viel Kleinarbeit. Wie wenig die DGB-Gewerkschaften von diesem Ansatz halten, zeigt ihr jüngster Kurswechsel. Nach heftiger Schelte suchen sie wieder die Nähe zur Regierungspartei SPD – nur weil die noch konservativere Opposition, angespornt von Bundeskanzler Gerhard Schröder und den Grünen, inzwischen noch rabiatere Modelle zum Abbau des Sozialstaats vorlegt. Für das kleine Zukunftsforum Stuttgarter Gewerkschaften gibt es noch viel zu tun. (pw)