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Zeitschriftenkritik: Fünf Jahre «Lunapark 21»

In guter Gesellschaft

1. Oktober 2013 | Seit fünf Jahren erscheint das Wirtschaftsmagazin «Lunapark 21». Das anfangs waghalsige Medienprojekt wird inzwischen von vielen Linken gelesen – und geschätzt. Hier mein Beitrag in der Jubiläumsausgabe.


Das aktuelle Titelbild von «Lunapark21»In den USA gibt es die kritische Zeitschrift «Mother Jones» (gegründet 1976), die Wochenzeitung «The Nation» (gegründet 1876) und «Labor Notes», das 1976 erstmals erschienene Magazin für AktivistInnen, die – so das Motto – «die Bewegung wieder in die Arbeiterbewegung bringen» wollen. In Britannien genießen die Analysen der Zweimonatsschrift «New Left Review» (gegründet 1960) mittlerweile einen legendären Ruf. Und auch das seit 1977 drei Mal im Jahr publizierte Organ der britisch-irischen Conference of Socialist Economists – «Capital & Class» – findet weiterhin interessierte LeserInnen.

Mit «Lunapark 21» sind all diese publizistischen Projekte aus dem englischsprachigen Raum mit ihren (in den USA) zum Teil beachtlichen Auflagen (in den USA) allerdings kaum zu vergleichen. Die journalistischen Blätter «Mother Jones» und «The Nation» richten sich tages- und wochenaktuell vornehmlich an ein linkes und liberales Publikum. «Labor Notes» konzentriert sich ganz auf die Auseinandersetzungen innerhalb der US-amerikanischen und kanadischen Gewerkschaften. «New Left Review» veröffentlicht hervorragende und lange Beiträge (früher von Autoren wie Nicos Poulantzas, Eric Hobsbawm oder Ernest Mandel, heute von Tariq Ali, Perry Anderson oder Mike Davies) – aber oft auf akademisch-anspruchsvollem Niveau. Und «Capital & Class» ist im wesentlichen ein Debattenmagazin für marxistische ÖkonomInnen.

Nur das seit 1987 in Boston (USA) redigierte «Z Magazine» verknüpft monatlich ökonomische Analyse, politische Kritik und journalistische Berichterstattung auf ähnliche Weise wie «Lunapark 21» – und betreibt mit ZNet eine enorm populäre, vielschichtige Website (mit Informationen für Schulen, mit Beiträgen von Autoren wie Noam Chomsky, Robert Fisk oder John Pilger, mit Blogs und Videos), deren Inhalte zum Teil in andere Sprachen übersetzt werden, manchmal auch ins Deutsche.

Und dann gibt es da noch das indische Economic and Political Weekly (EPW), eine Wochenschrift, die in Grossauflage und jeweils zwischen 80 und 120 Seiten dick zum Abo-Preis von 1650 Rupien (umgerechnet 16,50 Euro) im Jahr verkauft wird. Seit 1949 erscheint diese international vielleicht einzigartige linke Publikation in der Finanzmetropole Bombay. Nach der Unabhängigkeit Indiens als Organ für die linke Intelligenz konzipiert, ist EPW seit Jahrzehnten die wichtigste Zeitschrift für polit-ökonomische Analysen im südasiatischen Raum, für Debatten unter SozialwissenschaftlerInnen (dazu zählen in Indien auch ÖkonomInnen) und für aktiv Handelnde, also Mitglieder der in Indien trotz vieler Rückschläge und staatlicher Knebelung recht ausgeprägten Zivilgesellschaft.

Tabellen ohne Ende

Als ich das letzte Mal die Redaktion besuchte, befanden sich die EPW-Räume noch in einer der kleinen Gassen der Bombayer Innenstadt: Ein unglaublich kleines Büro, in dem sich unglaublich viel Papier stapelte und in dem ein unglaublich belesener Redakteur das Projekt erläuterte. Mittlerweile ist die EPW-Redaktion in einen Industriepark nördlich des Zentrums umgezogen und betreibt eine umfangreiche Website, deren Beiträge – etwas zeitverzögert zur Veröffentlichung in Papierform – nicht nur einen Einblick in die Lebensverhältnisse der indischen und asiatischen Lohnabhängigen erlauben, sondern mit ihren Kommentaren auch jede Menge Argumentationsmaterial für den Kampf gegen Ausbeutung, Kriegstreiberei und die Kräfte des mittlerweile auch dort neoliberal geprägten Kapitalismus bieten.

Das EPW-Konzept kommt mit seinen Untersuchungen und Interventionen dem von «Lunapark 21» also recht nahe. In Aufmachung und ökonomischer Grundierung könnten die Unterschiede allerdings kaum grösser sein. Auf den vielen Seiten (bei den durchschnittlich zwei Sonderausgaben im Jahr sind es sogar 200) dominieren die Buchstaben. Es gibt keine Fotos – nur Texte, Tabellen und Grafiken. Und herausgegeben wird EPW von Sameeksha, einem gemeinnützigen Trust.

Überhaupt fällt auf, dass sich praktisch alle erwähnten Publikationen auf die eine oder andere Weise eine finanzielle Basis über den reinen Verkaufserlös hinaus verschaffen konnten. Hinter «Mother Jones» steht die Foundation for National Progress, «Labor Notes» wird zum Teil getragen vom Labor Education and Research Project, «The Nation» stützt sich auf regelmässige Zuwendungen von 25000 LeserInnen (den «Nationa Builders»), ZNet hat ebenfalls eine Community aufgebaut und «New Left Review» arbeitet immerhin mit dem Verso-Verlag zusammen.

Sie alle sind mithin nicht selbsttragend und verteilen die Kosten auf mehrere Schultern. Umso erstaunlicher ist, dass die LP21-MacherInnen vor über fünf Jahren den Mut hatten, ohne den finanziellen Rückhalt einer Institution und nur mit eigenen Einlagen an der Start zu gehen. Das Risiko hat sich gelohnt – denn auf diese Weise (so kommt es mir als Leser jedenfalls vor) hat sich eine plurale Sicht auf die ökonomischen, politischen, sozialen, ökologischen und kulturellen Zustände dieser Welt entwickeln können. Da redet kein Geldgeber rein, da sind linkskeynesianische Position ebenso zu finden wie anarcho-syndikalistische Perspektiven.

Gute Mannigfaltigkeit

Diese Vielfalt, die die gesellschaftlichen Widersprüche und deren Wahrnehmung auch durch Linke spiegelt, ist heutzutage Voraussetzung für eine erfolgreiche linke Publizistik. Wer will noch Publikationen lesen, die sich – analog zu Lenins Vorstellungen von Zeitungen – als Sprachrohr einer Avantgarde verstehen? Ein ähnlich pluralistisches Konzept verfolgt übrigens auch die Schweizer Wochenzeitung WOZ, die einer Genossenschaft der ZeitungsmacherInnen gehört und bis heute keine Chefredaktion kennt.

Die RedakteurInnen sind sich zwar in den journalistischen Grundprinzipien einig und haben allesamt ein aufklärerisches Verständnis – kommen aber aus höchst unterschiedlichen politischen Zusammenhängen, die von der Mitte der (in der Schweiz vergleichsweise linken) Sozialdemokratischen Partei über die (noch linkeren) Grünen bis zu bewegungsorientierten, halbanarchistischen Kreisen reichen. Mit auch deswegen hat die WOZ im Unterschied zu den Mainstream-Printmedien in den letzten zwei Jahren ihre Auflage steigern können. Aber ohne den bald 30 Jahre alten Förderverein ProWOZ gäbe es die Zeitung schon lange nicht mehr.

Auch dank ihm kann die WOZ Löhne zahlen (vergleichsweise tiefe zwar, aber immerhin), während die LP21-MacherInnen weitgehend gratis arbeiten und das Zeitschriftenprojekt auf den Goodwill seiner KorrespondentInnen angewiesen ist. Und noch einen Unterschied gibt es zur WOZ, die als wochenaktuelle Zeitung ein breiteres Publikum bedient und es nur hin und wieder schafft, perspektivische Fragen aufzugreifen: LP21 konzentriert sich im wesentlichen auf einen von der Linken stark vernachlässigten Bereich, und das ist von Vorteil.

Wichtige Visionen

Denn kaum irgendwo sind die konzeptionellen Defizite der internationalen Linken so gross wie bei der Frage, wie ein Übergang weg vom Kapitalismus bewerkstelligt werden kann. Dass beispielsweise die deutsche Linkspartei trotz der atemberaubenden Zunahme an sozialer Ungleichheit, der wachsenden Armut und der anhaltenden Dominanz neoliberaler Konzepte politisch kaum Fortschritte macht, hat auch damit zu tun, dass sie nur rudimentäre Vorstellungen von einer alternativen, nicht-kapitalistischen Ökonomie und Zukunft hat – und daher als defensiv-bewahrende Kraft daherkommt: Verteidigung der erkämpften Standards, Revidierung der Agenda 2010, Rückkehr zu einer Steuerpolitik wie zu Helmut Kohls Zeiten. Bei den linken Parteien anderer Staaten sieht es meist nicht anders aus.

Es reicht nicht, nur die Rück- und Neuumverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von oben nach unten zu fordern. Und der Verweis darauf, dass es leider kein Bespiel eines funktionierenden demokratischen Sozialismus gibt, dieser sich aber schon irgendwie einstelle, sobald nur politische Mehrheiten gegeben sind – der überzeugt halt niemanden. Da muss man schon weiterdenken. Und dafür braucht es Debatten, ökonomischen Sachverstand jenseits der marktradikalen Dogmen – und eine Plattform, die die vorhandenen Ideen bündelt und zur Diskussion stellt, also mehr offeriert als nur eine Analyse der aktuellen Zustände und ihrer Ursachen.

Das US-amerikanische ZNet lanciert immer wieder Debatten über die Idee einer partizipatorische Ökonomie («Parecon»); im indischen EPW erscheinen mitunter Texte, die Möglichkeiten einer anderen, solidarischen Wirtschaft skizzieren. Doch es gibt zumindest im deutsch- und englischsprachigen Raum keine Publikation, die sich so ernsthaft und vielfältig wie LP 21 mit ökosozialistischen Alternativen (siehe LP21-extra 7) beschäftigt, konkrete Gegenmodelle etwa zur gängigen Verkehrs-, Energie- oder Klimapolitik vorstellt, diese durchrechnet und auf ihre Machbarkeit hin abklopft. Das macht diese Zeitschrift so wichtig. (pw)