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Andere Länder: Schottischer und irischer Nationalismus

Autonomie statt Nation, Solidarität statt Hass

15. Dezember 2018 | Bei all den nationalistische Tendenzen und Wahlerfolgen wird leicht übersehen: Es gibt auch weltoffene Bestrebungen. Hier ein Beitrag aus der vorletzten Nummer des «Widerspruch».

Bei all dem Chaos, der Inkompetenz, den Absurditäten und dem sonstigen Durcheinander, das die britischen Konservativen dem staunenden Publikum derzeit bieten, war das Triumphgeheul der Tory-Rechten Mitte Dezember 2017 ziemlich bezeichnend: Es ging um die Farbe des Reisepasses. Endlich dürfe man wieder zum royalen Blau zurückkehren, jubelten die Brexit-Hardliner. Die Tage des burgundroten Umschlags, den die verhasste EU als Standardversion empfohlen hatte, seien gezählt; das Vereinigte Königreich von Grossbritannien und Nordirland (UK) habe einen ersten wichtigen Schritt zur Wiedergewinnung seiner Souveränität getan. Dabei hatte die EU ihren Mitgliedstaaten nie die rote Variante aufgezwungen – der EU-Staat Kroatien stellt bis heute blaue Pässe aus.

Eine Episode am Rande also, die gleichwohl erwähnenswert ist. Denn mitten in diesem nationalistischen Furor setzte Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon einen bemerkenswerten Tweet ab. «Die offene, inklusive, zivile und internationalistische schottische Unabhängigkeitsbewegung», twitterte die Chefin der Scottish National Party (SNP), «ist Welten entfernt von diesem insularen, bauchnabelzentrierten Unfug». Ein paar Wochen später doppelte Sturgeon nach. Mitte Januar 2018 erläuterte sie in einer Rede, weshalb ihre Partei und ihre Regierung weiterhin Zuwanderung und offene Grenzen befürworte: Die MigrantInnen, «die uns die Ehre geben, Schottland zu ihrem Zuhause zu machen, stärken unser Land auf vielfältige Weise», sagte sie. JedeR Lohnabhängige aus anderen Ländern zahle im Durchschnitt 10 400 Pfund Steuern und trage so zum Erhalt des Nationalen Gesundheitssystems NHS und der öffentlichen Dienste bei. Ohne Immigration sei der statistisch zu erwartende Bevölkerungsrückgang nicht aufzufangen, weshalb Schottland nicht auf die Bewegungsfreiheit verzichten werde.

Wie kommt das? Warum versteht sich eine Partei, die das Wort Nation im Namen führt, als Speerspitze des Internationalismus? Weshalb benennt die schottische Erstministerin (so Sturgeons offizieller Titel) in aller Ruhe Fakten, die zu erwähnen den meisten europäischen RegierungschefInnen schwerfällt? Weshalb vertritt sie Positionen, die den meisten NationalistInnen auf dem Kontinent gar nicht erst in den Sinn kämen? Oder anders gefragt: Was unterscheidet die politische Stimmung in Schottland von jener in England?

SNP als Alternative zu Margareth Thatcher

Die Erklärung ist in der jüngeren Geschichte zu suchen. Bis in die 1960er-Jahre gab es zwar mentale und kulturelle Unterschiede zwischen EngländerInnen und SchottInnen – die politischen Differenzen hielten sich jedoch in Grenzen: Es gab sogar Zeiten, in denen eine Mehrheit der schottischen Abgeordneten im britischen Unterhaus das Parteibuch der Konservativen in der Tasche hatten. Irgendwo am Rande dümpelte zwar eine kleine, 1934 gegründete Partei vor sich hin, die SNP, aber viel mehr als Dudelsack, Kilt und Erinnerungsfeiern an die Schlacht von Culloden 1746 – als Englands Truppen die Highlander unterwarfen – hatte sie nicht zu bieten. Niemand nahm sie ernst.

Das änderte sich mit Margaret Thatcher. Die britische Premierministerin (1979 bis 1990) zerstörte mit ihrer monetaristischen, an den Interessen des Londoner Finanzmarkts orientierten Politik die industrielle Basis des Nordens, attackierte die in Schottland starken Gewerkschaften und testete nicht zufälligerweise hier, wo der Zusammenhalt traditionell grösser war als in anderen Teilen des UK, ihre Poll Tax genannte Kopfsteuer, die MillionärInnen in gleichem Mass belasten sollte wie die Habenichtse. Die Werftindustrie Glasgows schrumpfte dramatisch, die Kohlezechen machten dicht – und die sozialdemokratische Labour Partei eroberte auf lokaler wie nationaler Ebene fast alle Sitze. Auf Thatcher, die 1990 über die – vor allem in Schottland starke – Poll-Tax-Boykottbewegung gestolpert war, folgte erst der Konservative John Major, dann, 1997, «New Labour» mit Tony Blair an der Spitze.

Im traditionell sozialdemokratisch orientierten Schottland war Blair gut gelitten – bis sich herausstellte, dass er Thatchers Antigewerkschaftsgesetze beibehielt, dass er ihre Privatisierungspolitik fortsetzte und auch sonst wenig unternahm, was den Armen nutzen würde. «Es gibt keine Alternative»: Thatchers Mantra war auch seins. Und damit zog er 2003 auch noch in den Irakkrieg ¬– eine in Schottland enorm unpopuläre Entscheidung.

Parallel zur wachsenden Frustration über New Labour begann sich die SNP zu wandeln. Schritt für Schritt verpasste Alex Salmond, 1990 zum SNP-Vorsitzenden gewählt, der Partei einen Kurswechsel. Er setzte sozial-, friedens- und gesellschaftspolitisch neue Akzente, die nichts mit Folklore und Hymnen wie «Scotland the Brave» zu tun hatten, aber viel mit der zunehmenden gesellschaftlichen Kluft zwischen reich und arm, zwischen Big Business und ArbeiterInnenklasse, zwischen oben und unten, zwischen den Regierenden in London und den Menschen in Schottland, die – egal, wie sie wählten – deren Entscheidungen ausbaden mussten. Dabei war es doch «ihr Öl» vor der schottischen Nordseeküste, mit denen «die da unten» die Senkung von Unternehmens- und Reichensteuern finanzierten! Die Partei änderte zwar nichts an ihren Strukturen, gewann aber unter Salmond viele neue Mitglieder (darunter auch bislang loyale Labour-AnhängerInnen) und entwickelte ein neues Programm. Plötzlich stand eine Alternative im Raum. Und wurde genutzt.

Autonomiebestrebungen als Bollwerk gegen Sozialabbau

1998 föderalisierte New Labour den zentralistisch strukturierten Gesamtstaat. Diese Dezentralisierung und die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns waren die einzigen Wahlversprechen, die Blair auch tatsächlich umsetzte. Es war Thatcher gewesen, die in den 1980er-Jahren regionale Einrichtungen wie den Greater London Council oder Greater Manchester aufgelöst hatte, um Bollwerke des örtlichen Widerstands gegen ihre Politik des sozialen Kahlschlages auszuschalten – nun wurden sie wieder eingerichtet. Ausserdem bekamen die Landesteile Nordirland, Wales und Schottland Regionalversammlungen zugesprochen und beschränkte Kompetenzen (die je nach Region unterschiedlich weit reichten): An das Scottish Parliament zum Beispiel fiel die Zuständigkeit für Landwirtschaft und Tourismus, Bildungs- und Gesundheitswesen, Umwelt und Verkehr, Wohnungsbau, regionale Entwicklung, regionale Justiz und in begrenztem Masse die Entscheidung über Steuern und Gebühren. Über Aussen- und Energiepolitik, Verteidigung und Migration, Finanzen, Währungspolitik, Steuern und Verfassungsfragen befindet hingegen weiterhin London.

Bei der ersten schottischen Regionalwahl 1999 gewann die SNP – die ihr Fernziel, die Unabhängigkeit vom UK, trotz ihrer Wandlung in eine sozialdemokratische Partei beibehalten hatte – 35 der 129 Sitze im Scottish Parliament, sie wurde damit zweitstärkste Partei hinter Labour. Zwei Wahlen später, 2007, überflügelte sie mit 47 Abgeordneten Labour und bildete eine Minderheitsregierung. Bei der folgenden Regionalwahl 2011 reichte es der SNP mit 69 Sitzen zur Mehrheitsregierung. Ein spektakulärer Aufstieg, der auch deswegen so rasch vonstatten ging, weil die SNP an der Regierung Alternativen zum neoliberalen Credo präsentieren und auch durchsetzen konnte: Während in England und Wales die Studiengebühren in die Höhe schnellten, bleibt der Hochschulbesuch in Schottland kostenlos; während im Süden die Regierungen der letzten Jahrzehnte das National Health Service (NHS) Schritt für Schritt dem Markt überantworten, achten die Verantwortlichen im Norden darauf, dass die Gesundheitsvorsorge staatlich und gratis bleibt; und während die britischen Kommunen die Sozialausgaben dramatisch reduzieren mussten, bekommen die schottischen Bedürftigen dort, wo die Behörden eine Kürzung nicht verhindern konnten, einen Zuschuss.

Dank ihren Wahlerfolgen konnte die SNP ihrem ursprünglichen Daseinszweck – die Abkoppelung vom UK – so viel Druck verleihen, dass die konservativ-liberale Regierung von David Cameron 2012 nachgab und ein Unabhängigkeitsreferendum auf die Tagesordnung setzte. Es würde eine lockere Übung werden, glaubte Cameron. Denn laut Umfragen lehnten über sechzig Prozent die Unabhängigkeit ab. Dieselben Umfragen hatten aber auch ergeben, dass eine grosse Mehrheit der SchottInnen einer weitestgehenden Autonomie (alle Kompetenzen bis auf Aussen- und Verteidigungspolitik) zustimmen würden.

Nach zähen Verhandlungen kam es zu einem Deal: London durfte die Referendumsfrage formulieren, die die populäre Option der weitestgehenden Autonomie ausschloss. «Soll Schottland ein unabhängiges Land werden?», stand auf dem Wahlzettel. Dafür konnte die SNP-Regionalregierung, die sich auch mit einer maximalen Autonomie zufriedengegeben hätte, entscheiden, wer abstimmungsberechtigt sein sollte. Sie wählte eine bemerkenswerte Variante. Beim Referendum im September 2014 durften nicht etwa nur angestammte SchottInnen votieren, sondern praktisch alle Menschen, die ein Jahr lang in Schottland gemeldet waren – also auch Staatsangehörige der übrigen 27 EU-Mitgliedsländer sowie MigrantInnen aus allen 52 Commonwealth-of-Nations-Staaten. Wohl noch nie zuvor war ein von NationalistInnen durchgesetztes Unabhängigkeitsreferendum so international fundiert.

Linke Basisbewegung für die Unabhängigkeit

Der Abstimmungskampf war intensiv. Auf der Nein-Seite standen alle britischen Parteien, sämtliche Grossunternehmen, die internationalen Konzerne, mit Ausnahme einer Sonntagszeitung alle einflussreichen Medien, die Kirchen und die Militärs, die um den Fortbestand des einzigen Atom-U-Boot-Hafens Britanniens in Farslane bei Glasgow bangten – denn die SNP hatte angekündigt, ihn nach der Unabhängigkeit zu schliessen. Im Ja-Lager hatten sich Friedensbewegte versammelt, BasisgewerkschafterInnen, die SNP, die schottischen Grünen und vor allem Linke, die bis dahin noch nicht organisiert waren. Mitglieder der Radical Independence Campaign zum Beispiel putzten Klinken, bauten Informationsstände auf, organisierten zahllose Veranstaltungen auch in ArbeiterInnenquartieren, wo die Wahlbeteiligung traditionell niedrig war. Sie argumentierten für ein «anderes Schottland». Was, so ihre Botschaft, wäre nicht alles möglich, wenn wir in Schottland über unsere eigenen Geschicke selber bestimmen könnten: regenerative Energiequellen stärken, mit den Öleinnahmen neue Industrien fördern, eigene Steuergesetze durchsetzen, Hierarchien in Firmen und Behörden demokratisieren, die Monarchie abschaffen, den Sozialstaat ausbauen, den Frieden fördern, die Macht der landbesitzenden Aristokratie brechen … Und bestand da nicht noch die Gefahr, dass Britannien nach dem damals bereits absehbaren Referendum über die EU-Zugehörigkeit Verbindungen und Verträge kappen, also Schottland aus der internationalen Gemeinschaft führen könnte?

Der Zuspruch war enorm. Es entstanden Gruppierungen wie «Schottische AsiatInnen für ein Ja» oder «AfrikanerInnen für ein unabhängiges Schottland»; der merkliche Stimmungsumschwung vor dem Referendum hat manchen Verantwortlichen in London (und nicht nur dort) schlaflose Nächte bereitet. Am Ende aber gab ihre auf materielle Ungewissheit abzielende Angstkampagne den Ausschlag: Am 14. September stimmen rund 55 Prozent der 4,2 Millionen Stimmberechtigten für den Verbleib im UK. Entscheidend waren die Älteren (ab 55 Jahren), denen ein Sprung in die Eigenstaatlichkeit zu riskant erschien. Niedrigere Renten, höhere Hypothekarzinsen, Abwanderung der grossen Finanzunternehmen: Diese Drohungen wollten sie nicht ignorieren. Die ganz Jungen (71 Prozent «Yes» bei den Sechzehn- und Siebzehnjährigen) und die Altersgruppen zwischen 25 und 54 votierten mehrheitlich für die Unabhängigkeit – ebenso die BewohnerInnen des ehemaligen Industriegürtels um Glasgow und von Dundee. In den grenznahen Grafschaften sowie den eher mittelständischen Städten Edinburgh und Aberdeen hatte die «Ja»-Seite jedoch keine Chance. Während der gesamten Referendumsdebatte waren nationalistische Töne selten zu hören. Es ging den UnabhängigkeitsbefürworterInnen nicht um Abschottung und Ausgrenzung, sondern um eine Abkopplung von den Folgen der in London exekutierten neoliberalen Politik – und um Selbstbestimmung. Nur eine weitestgehende Selbständigkeit, davon waren viele BefürworterInnen überzeugt, ermögliche das erhoffte bessere, gerechtere, demokratischere Schottland. Damals, im Jahr 2014, konnte noch niemand ahnen, dass sich Labour mit Jeremy Corbin innerhalb von kurzer Zeit in eine linkssozialdemokratische Partei verwandeln würde.

Brexit treibt Autonomieforderungen wieder an

Und heute? Das Thema Unabhängigkeit ist nicht vom Tisch, auch wenn ein zweites Referendum momentan nicht zur Debatte steht. Dafür gibt es mehrere Gründe: Erstens haben sich mit der seit 2008 andauernden Wirtschafts- und Finanzkrise und mit dem Rückgang der Einnahmen aus dem Nordseeöl die Voraussetzungen für eine ökonomische Eigenständigkeit verschlechtert. Zweitens eröffnete Labours Kurswechsel neue Perspektiven, etwa in Richtung einer Labour-SNP-Kooperation in sozialen und wirtschaftspolitischen Belangen. Und drittens würde es derzeit keiner britischen Regierung einfallen, nochmals einem Referendum zuzustimmen – die Konservativen werden jedenfalls eine ähnliche Erfahrung wie 2014, als sie sich nur mit Mühe zum Erfolg zitterten, garantiert nicht mehr machen wollen.

Andererseits hat das Brexit-Referendum der Unabhängigkeitsdebatte wieder neuen Schwung verliehen. Im gesamten UK befürworteten 51,9 Prozent der Abstimmenden im Juni 2016 ein Ende der britischen EU-Mitgliedschaft. In England waren über 54 Prozent für den Brexit, in Schottland hingegen sprachen sich 62 Prozent für einen Verbleib in der EU aus – entsprechend entsetzt reagierten viele SchottInnen: Für kurze Zeit ergaben Umfragen in Schottland sogar eine Mehrheit für die Unabhängigkeit. Woher diese Differenz? Neben der politischen Orientierung – Schottland votierte in den letzten Jahrzehnten eher sozialdemokratisch, England konservativ – hat eine Reihe von Faktoren dazu beigetragen. So blickt Schottland (ähnlich wie Irland) auf eine lange Migrationsgeschichte zurück. Die Erinnerung an die Zeiten, in denen Menschen auswandern mussten, um zu überleben, sitzt weiterhin im kollektiven Gedächtnis. Es gibt immer noch viele Familien, deren Angehörige nach Australien, Neuseeland, Kanada, teilweise auch in EU-Staaten emigriert sind. Das machte die SchottInnen zwar nicht gänzlich immun gegenüber der Forderung nach Zuwanderungsbegrenzung (die beim Brexit den Ausschlag gab); sie spielte aber in weiten Teilen Schottlands längst nicht dieselbe Rolle wie in den ländlichen Gebieten Englands.

Zweitens haben die SchottInnen in den letzten beiden Jahrzehnten die Erfahrung gemacht, dass sich grundlegende Dinge ändern können – und zwar auch hin zum Positiven. Mit der «Devolution» genannten Föderalisierung hat das schottische Rechtssystem eine Reihe von Umstrukturierungen erlebt, die viele als fortschrittlich empfinden: Die Dezentralisierung schuf mehr Zuständigkeiten auf den unteren Ebenen (beispielsweise bei kommunalen Entscheidungen), sie sorgte dafür, dass örtliche Bevölkerungsgruppen eher gehört werden und brachte ein repräsentativeres Kommunal- und Regionalwahlrecht, das das althergebrachte Majorzsystem ablöste. In England hingegen blieb in diesen Punkten vieles beim Alten: Die Kommunen haben auszuführen, was die Londoner Regierung vorgibt und ein Proporzwahlsystem gibt es nur bei den Wahlen zum EU-Parlament. Dass Verhältnisse veränderbar sind – diese Ansicht ist im Norden (wo sich die BürgerInnen als Souverän sehen) weitaus verbreiteter als in England, wo die Souveränität bei der Krone liegt und eine Mehrheit staatliche Strukturen für fest zementiert hält – und im Falle der EU für unverrückbar betrachtet.

Nicht zuletzt spielte die Mehrfachidentität der SchottInnen eine wichtige Rolle. Seit dem Act of Union 1707, der Schottland mit England und Wales vereinigte, begreifen sich die meisten BewohnerInnen im Norden sowohl als SchottInnen als auch als BritInnen. Ihnen fiel es entsprechend einfacher, sich auch als EuropäerInnen zu verstehen als den EngländerInnen, die ihr Englischsein stets mit Britischsein gleichsetzen. Die lange Repressionserfahrung, die selbst heute noch in Folksongs mitschwingt, hat zudem verhindert, dass sich die SchottInnen der postimperialen Sehnsucht nach dem Glanz des alten Empires hingeben, die seit dem Brexit-Abstimmungskampf auch über besonders reaktionäre Kreise der englischen Konservativen hinaus fröhliche Urständ feiert. Die nationale Selbstbezogenheit, gespeist aus dem Gefühl der Einzigartigkeit, ist nördlich von Hadrianswall längst nicht so stark ausgeprägt. Das gilt auch für jene Teile im traditionell von Labour dominierten Wales, in denen die 1925 gegründete Regionalpartei Plaid Cymru (Partei von Wales) Stimmen gewinnen kann. Die von der linken Gewerkschafterin Leanne Wood geführte Partei, die in der walisischen Versammlung die zweitstärkste Fraktion stellt, hatte sich klar gegen den Brexit ausgesprochen.

Wie nationalistisch sind also die regionalen, nach mehr Autonomie, zuweilen auch Unabhängigkeit strebenden Kräfte im UK wirklich?

Antikolonialer Nationalismus in Irland

Schliesslich gibt es im UK noch die nordirischen NationalistInnen, die eine vereinigte irische Nation anstreben. Auf den ersten Blick ähneln die nordirischen Verhältnisse den schottischen: Auch dort votierte eine Mehrheit der Bevölkerung (58 Prozent) für den Verbleib in der EU; auch dort verfügen die Parteien, die eine Loslösung vom UK befürworten, über grossen Einfluss; und auch in Nordirland politisieren sie vorwiegend links. Und doch ist vieles anders. Denn auf der Nachbarsinsel geht es im Wesentlichen um die Beseitigung einer «postkolonialen Anomalie» – wie es die moderaten NationalistInnen etwa von der nordirischen Social and Democratic Labour Party (SDLP) nennen würden – beziehungsweise um die Vollendung des «irischen Befreiungskampfs», wie es in den Reihen der irisch-republikanischen Partei Sinn Féin («Wir selbst») heisst.

Rund hundert Jahre nach dem Act of Union mit Schottland hatte sich das daraus entstandene Grossbritannien 1801 eine weitere Nation formal einverleibt: Irland. Die bereits im späten 12. Jahrhundert eroberte Insel war früh von der englischen Aristokratie kolonisiert worden – und das mit den üblichen Begleiterscheinungen: Unterdrückung und Vertreibung der einheimischen Bevölkerung, Verbot ihrer Sprache und Kultur, Ansiedlung der im Zuge der «enclosures», den Einhegungen der landwirtschaftlichen Allmenden in Schottland und dem englischen Norden, überflüssig gewordenen Bevölkerung. Vor allem nach der Grossen Hungersnot Mitte des 19. Jahrhunderts revoltierten immer wieder landlose IrInnen unter Führung des nationalen Kleinbürgertums. Der Charakter der vornehmlich agrarischen Aufstände änderte sich erst, als sich Teile des Südens (vor allem die Gebiete um Dublin und Cork) industrialisierten und revolutionäre GewerkschafterInnen wie der Schotte James Connolly die entstehende ArbeiterInnenklasse zu mobilisieren begannen. Connolly hatte dem irischen Nationalismus eine sozialistisch-antiimperialistische Ausrichtung verliehen. Er gründete mit der Irish Citizen Army bereits 1913, beim grossen Streik des Dubliner Proletariats, die wohl erste ArbeiterInnenarmee Europas und proklamierte stets, dass der Kampf für die nationale Unabhängigkeit ohne die soziale Befreiung der Lohnabhängigen vergebens sei: Selbst wenn morgen die englische Armee verschwände, sagte er sinngemäss, und die grüne Fahne über Dublin wehe, wäre ohne die Etablierung einer sozialistischen Republik alles umsonst. Dann würde England immer noch herrschen – durch seine Kapitalisten, seine Grossgrundbesitzer, seine Financiers. Connolly wurde nach dem gescheiterten Osteraufstand 1916 exekutiert, aber sein Ansatz hat Generationen irischer SozialistInnen geprägt.

Auf den Osteraufstand folgte der irische Unabhängigkeitskrieg 1919 bis 1921, der mit der Teilung Irlands endete: 26 Grafschaften im Süden wurden zuerst in eine begrenzte Unabhängigkeit entlassen und bilden seit 1937 die irische Republik; die übrigen 6 Grafschaften im Nordosten blieben im UK und wurden per Ausnahmeverordnungen von den protestantischen UnionistInnen, den Nachfahren der britischen SiedlerInnen, regiert.

Die Dominanz der probritischen Kräfte in Nordirland schwand erst mit der Bürgerrechtsbewegung ab Mitte der 1960er-Jahre, die – dem Beispiel der Bewegung der schwarzen Bevölkerung in den USA folgend – gleiche Rechte für alle verlangte. Allerdings gab der britische Staat nicht sofort nach. DemonstrantInnen wurden von der nordirischen Polizei krankenhausreif geschlagen, probritische Paramilitärs erschossen unbeteiligte ZivilistInnen, die Armee griff ein. Schliesslich führte die Repression zur Wiederbelebung der Irisch-Republikanischen Armee (IRA), die 1917 entstanden war und im Unabhängigkeitskrieg die britische Kolonialmacht teilweise besiegt hatte. In den 1940er- und 1950er-Jahren hatte sie vergeblich gegen die britische Herrschaft über Nordirland gekämpft – und verhökerte Anfang der Sechziger ihr Arsenal an eine eher dubiose walisisch-nationalistische «Befreiungsorganisation». Ab 1969 kämpfte die IRA wieder bewaffnet für die Wiedervereinigung Irlands, begünstigt durch die Internierungs- und Repressionsstrategie der britischen Regierung, die der Guerilla zahllose Freiwillige zutrieb. Gleichzeitig versandeten alle Bemühungen linker BürgerrechtlerInnen und RepublikanerInnen, die unionistisch-protestantischen ArbeiterInnen für ihren Kampf um Demokratie, Gleichberechtigung und sozialen Fortschritt zu gewinnen – zu sehr waren diese in die nationalistische Ideologie eines «protestant state for protestant people» eingebunden. Da half es auch nicht, dass die IRA und ihr politischer Flügel Sinn Féin ihren Kampf als Teil einer internationalen Bewegung verstanden und sich stets auf andere Freiheitskämpfe bezogen: den des African National Congress ANC gegen die südafrikanische Apartheid, den der PalästinenserInnen gegen die israelische Besatzungspolitik oder den der BaskInnen gegen die Franco-Diktatur. Natürlich gab es innerhalb von IRA und Sinn Féin auch nationalkonservative und militaristische Tendenzen, über längere Zeit hinweg prägten jene die Politik, die sich als RepublikanerInnen (im Sinne der Werte der Französischen Revolution und der Ziele von James Connolly) verstanden und für ein anderes, ein sozialistisches Irland eintraten.

Mittlerweile sind die bewaffneten Auseinandersetzungen vorbei, beendet durch das Karfreitagsabkommen 1998, mit dem London und Dublin unter Mithilfe der EU und den USA den Konfliktparteien Zugeständnisse machten und der nordirischen Bevölkerung – der protestantisch-unionistischen wie der eher katholischen irisch-nationalistischen Gemeinschaft – garantierten, über die staatliche Zugehörigkeit der sechs Grafschaften per Referendum entscheiden zu können. Wie in Schottland und Wales entstanden auch in Nordirland – wo britische Parteien wie die Tories oder Labour noch nie eine Rolle gespielt haben – eine Regionalregierung sowie ein Regionalparlament (die Northern Ireland Assembly) mit einer lokalen Autonomie. Die Regionalregierung jedoch war von Anfang an kaum handlungsfähig, da sie aufgrund der Massgaben des Karfreitagsabkommen von den wichtigsten Parteien beider Gemeinschaften gebildet werden muss – und das sind seit über einem Jahrzehnt die reaktionär-klerikalprotestantische Democratic Unionist Party (DUP) und die sozialdemokratische irisch-orientierte Partei Sinn Féin, die im Zuge des Friedens- und Anpassungsprozesses viele ihrer einst radikalen Positionen aufgegeben hat (so etwa die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die Beendigung des religiös-segregierten Bildungswesens, die Demokratisierung aller Lebensbereiche).

Das gesellschaftlich-politische Patt (seit Anfang 2017 gibt es weder Parlamentssitzungen noch eine Regierung) bewirkte lange Zeit einen Stillstand; zudem hielt sich der Wunsch der nordirischen Bevölkerung nach einem Anschluss an die irische Republik aufgrund der schweren Finanz- und Immobilienkrise Irlands in engen Grenzen. Auch deswegen kam es nie zu dem Referendum. Mit dem Brexit jedoch – sofern er kommt – ist vieles wieder offen: Eine bewachte innerirische Grenze zwischen dem EU-Süden und dem UK-Norden könnte politisch, sozial und ökonomisch zunichte machen, was an grenzüberschreitender Kooperation in den letzten zwanzig Jahren entstanden ist. Sollte zudem die nordirische Wirtschaft so stark unter einem Brexit leiden, wie viele erwarten, ist ein nordirisches Referendum zugunsten eines Gesamtirlands in den nächsten Jahren nicht auszuschliessen. Denn Zölle und eine «harte» Grenze zwischen Nord und Süd wollen nicht einmal die Hardliner unter den protestantischen UnionistInnen – das zeigt beispielsweise die Tatsache, dass nach dem Brexit selbst DUP-PolitikerInnen ihren WählerInnen empfohlen hatten, sich einen irischen Pass zuzulegen – eine doppelte Staatsbürgerschaft ist für NordirInnen aufgrund eines Übereinkommens zwischen der Republik und dem UK problemlos möglich. Es ist mithin einiges im Fluss: Sollte die nordirische Ökonomie unter dem Brexit leiden, der von London verordnete Sozialabbau weiter gehen und gleichzeitig der EU-Staat Irland einen Aufschwung erleben (etwa durch die Verlagerung von Finanzinstitutionen und Betrieben in die Republik), verlöre das Gespenst einer Wiedervereinigung Irlands selbst für hartgesottene UnionistInnen seinen Schrecken. Mit anderen Worten: Die nationale Frage ist auch in Nordirland nicht die wichtigste.

Linke Wende dank Schottlands Eigenständigkeit?

Auch in Schottland wird sich die Unabhängigkeitsfrage wieder verstärkt stellen, falls sich die Tory-Rechte mit ihrem Konzept eines harten Brexits durchsetzt, also weder die Zollunion noch den Binnenmarkt beibehält, und stattdessen Freihandelsverträge mit aller Welt abzuschliessen versucht. Dazu müsste sich jedoch die EU doch noch für eine Mitgliedschaft eines unabhängigen Schottlands erwärmen. 2014 hatte die EU dies auf Druck Spaniens noch rundweg abgelehnt; das war beim Unabhängigkeitsreferendum ein wesentlicher Faktor für die Ablehnung gewesen.

Aber wäre ein unabhängiges Schottland auch gut für die Linke auf den britischen Inseln? Britannien ist seit Thatcher ein vielfach gespaltenes Land. In den ehemaligen Industrieregionen Nordenglands und Schottlands sowie in den früheren Bergbaurevieren herrscht zum Teil bittere Armut; dort und in London war und ist Labour traditionell stark. Politisch aber dominiert das vorwiegend konservative Südengland – und die Finanzindustrie. Deswegen befürworten die ehemalige ArbeiterInnenpartei Labour und unabhängige Linke eine Verlagerung der Macht hin zu den Regionen. Politische Handlungsfähigkeit setzt eine Mobilisierung vor Ort voraus, Widerstand gegen das Kapital und die Marktradikalen muss von unten kommen. Das war auch in Zeiten so, als die Gewerkschaften noch grossen Einfluss hatten: In den 1960er- und 1970er-Jahren entschieden die Shop Stewards, die gewählten Vertrauensleute in den Betrieben, wo wann und warum die Arbeit niedergelegt wird. Und wären nicht auch alle Unterhausabgeordneten, die aufgrund der Majorzwahl einen ganzen Wahlkreis gewinnen müssen, vor allem ihren lokalen WählerInnen verpflichtet?

In diesem Zusammenhang ist auch das Streben vieler SchottInnen nach mehr Selbstbestimmung zu sehen. Ein sozialeres, gerechteres, offenes Schottland – so glauben manche – könnte den Menschen im dann übrig gebliebenen Kleinbritannien als Vorbild dienen – und zeigen, dass Alternativen von unten geschaffen werden können. Andererseits ist das ein frommer Wunsch: Obwohl Labour bei den letzten Kommunalwahlen in Manchester beispielsweise 95 von 96 Sitzen errang, in Liverpool 80 von 90 Mandaten und in London beständig zulegt: Gesamthaft gesehen hätte Labour in England und Wales, aber ohne Schottland, auf Jahre und Jahrzehnte hinaus bei Wahlen keine Chance, eine Mehrheit der Abgeordneten zu stellen. Das ist das Dilemma, das Schottland mit vielen anderen regional-progressiven Unabhängigkeitsbewegungen teilt: Sollten progressive Regionen tatsächlich eine nationale Eigenständigkeit gewinnen, schrumpfen die Optionen auf einen Wechsel der politischen Machtverhältnisse in den übergeordneten Staatsgebilden auf ein Minimum. Das scheint auch in der EU der Fall. Es sei denn, die derzeit aufgrund der Globalisierung und der neoliberalen Kommissionspolitik von zentrifugal-nationalistischen Kräften gebeutelte Union besinnt sich doch noch auf das schon länger kursierende Konzept eines «Europa der Regionen», das wieder die ursprünglichen Werte Frieden, Menschenrechte, Demokratie in den Mittelpunkt rückt und den Regionen weitgehende Rechte einräumt. (pw)


Das Manuskript dieses Beitrags wurde im April 2018 abgegeben und im Sommer veröffentlicht.