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Andere Länder: Die Mondragón-Kooperativen
Solidarisch und ziemlich krisenfest
18. Januar 2017 | In Mondragón, einer baskischen Kleinstadt, hat der weltweit grösste Verbund von Industriekooperativen seinen Sitz. Warum funktioniert hier etwas, das anderswo kaum vorstellbar ist?
Ein bisschen Stolz steht ihm schon ins Gesicht geschrieben, als er durch die weite Montagehalle führt. «Dort drüben fertigen meine Kollegen gerade Teile einer automatischen Stanzmaschine, die ein grosses europäisches Autounternehmen in Auftrag gegeben hat», sagt Baltasar Pérez Sanz und zeigt auf ein blau lackiertes, sieben Meter hohes Ungetüm. Was neu ist an diesem Apparat und wer ihn bestellt hat, will der Ingenieur nicht erläutern. Betriebsgeheimnis. Konkurrenzfähig seien sie hier jedenfalls, und das im international umkämpften Marktsegment des Maschinen- und Anlagebaus: hydraulische Pressen, Walz- und Lackierwerke, Stanzautomaten, Montagebänder, halbe Fabrikanlagen würden hier entworfen und produziert. Und das Besondere dabei? «Fagor Arrasate ist ein Unternehmen, das uns Beschäftigten gehört. Wir entscheiden, wer was zu welchen Bedingungen produziert.»
Das Werk von Fagor Arrasate (derzeit 500 Beschäftigte) liegt am südlichen Rand von Mondragón, einer kleinen, unscheinbaren Stadt im baskischen Hügelland. Rund 22.000 Menschen leben in dem Ort, der auf baskisch Arrasate heisst. Hier, vierzig Kilometer südöstlich von Bilbao, hat der weltweit grösste Verbund von Industriekooperativen seinen Sitz: die Mondragón Corporación Cooperativa mit ihren 101 Genossenschaften und einem Jahresumsatz von 12,1 Milliarden Euro (vgl. Randspalte).
Vor sechzig Jahren wurde in diesem Tal die erste Genossenschaft gegründet. Eine wesentliche Rolle spielte Pater José María Arizmendiarrieta. Er hatte wie viele baskische Priester während des Spanischen Bürgerkriegs (1936 bis 1939) auf Seiten der Republik gestanden und war 1941 hierher versetzt worden. Mit der ihm eigenen Mischung aus katholischer Soziallehre und bei Karl Marx entliehenen Ideen baute er 1943 im seinerzeit bitterarmen, aber auch während der Franco-Dikatur sozialistisch orientierten Region mit ihrer industriellen Tradition eine Berufsschule auf, die Escuela Profesional (heute die Mondragón Unibertsitatea).
1956 gründeten unter seiner Anleitung fünf der von ihm ausgebildeten Arbeiter die Kooperative Ulgor, die Jahre danach in Fagor Electrodomésticos (Haushaltsgeräte) umbenannt wurde. Sie stellten zuerst Öfen, Lampen und Kochtöpfe her, erweiteten die Produktionspalette bald um Kühlschränke und Waschmaschinen (später kamen Spülmaschinen und Geräte für die Gastronomie dazu) und waren mit ihrer Selbstverwaltung so erfolgreich, dass in den nächsten Jahren weitere Genossenschaften entstanden: eine Konsumgenossenschaft (heute Eroski), eine Kooperative für Investitionsgüter (Fagor Arrasate), 1958 die Sozialversicherung Lagun Aro, 1959 die Genossenschaftsbank Caja Laboral Popular (heute Laboral Kutxa).
Nur wenn das Wissen allen verfügbar, wenn es sozialisiert ist, kann die Macht demokratisch sein, hatte Arizmendiarrieta gepredigt. Und: Nur kooperatives Wirtschaften könne den Wohlstand der Gesellschaft mehren. Dass sein Credo aufging, lag jedoch nicht nur an ihm. Andere Faktoren kamen hinzu: die handwerkliche und technische Fertigkeit der Menschen in der am stärksten industrialisierten Region Spaniens; der im Baskenland tief verwurzelte Unabhängigkeitsgeist; das beharrliche Streben nach mehr Selbständigkeit und nicht zuletzt die seit Jahrzehnten praktizierte Solidarität der Bevölkerung, die mit dem Staat nicht allzu viel zu tun haben wollte. Dazu kam die Topographie: das hügelige Land, die mühsame Landwirtschaft, die vielen einzelnen Gehöfte, in Gehweite voneinander entfernt – hier mussten die Menschen einander unterstützen, um überleben zu können.
Schneller Aufstieg
Das, was als Experiment begann, entwickelte sich mit atemberaubender Geschwindigkeit. Bereits sieben Jahre nach der Gründung von Ulgor, also Anfang der 1960er Jahre, waren rund um Mondragón und den benachbarten Provinzen mehr als zwanzig Kooperativen entstanden. Die Escuela Profesional Politécnica zählte rund tausend Studierende. Die Caja Laboral hatte gerade die 24. Filiale eröffnet. Der Umsatz überschritt erstmals die Grenze von 2,5-Milliarden-Peseten (umgerechnet 15 Millionen Euro); ein Prozess, der teilweise von dem Protektionismus (mit Zöllen und Einfuhrbegrenzungen) begünstigt wurde, mit dem das Franco-Regime die spanische Wirtschaft vor ausländischer Konkurrenz schützte.
Und es ging weiter immer nur aufwärts – bis zur Wirtschaftskrise Mitte der siebziger Jahre. Sie gab der baskischen Schwerindustrie, den Stahlwerken und Werften, den Rest; bereits zuvor waren diese Unternehmen in angeschlagen gewesen. Auch aus dem grossen Mondragon-Verbund überlebte eine Genossenschaft diesen Prozess der Deindustrialisierung nicht. Die Kooperativenmitglieder, die davon betroffen waren, hatten jedoch trotzdem weiter Arbeit. Der Grund: Sie wurden mit Massnahmen gerettet, die heute noch in Krisenzeiten angewandt werden. GenossenschafterInnen eines angeschlagenen Mondragón-Unternehmens können vorübergehend oder dauerhaft in eine der anderen Kooperativen wechseln. Sie erhalten zudem finanzielle Unterstützung aus dem Sozialfonds Lagun Aro, und die genossenschaftseigene Bank investiert gezielt in neue Produkte und Unternehmen, um wieder neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Am Ende dieser Krise stand der Mondragón-Verbund besser da als zuvor: Er hatte die Produktpalette verbreitert, seine Firmen expandierten – auch dank des europäischen Binnenmarks, zu dem Spaniens Firmen nach dem EU-Beitritt 1986 Zugang bekamen, und der Globalisierung, die damals einsetzte. Heute stellen die mehr als hundert Kooperativen zahllose Produkte her: Automatisierungsanlagen, Kran- und Liftsysteme, medizinische Apparate, Werkzeugmaschinen, Omnibusse, Windkrafträder. Sie sind im Bausektor aktiv: Pavillons auf der Expo `92 in Sevilla, Sporthallen der Olympiastadt Barcelona und die Dachkonstruktion des Guggenheim-Museums in Bilbao wurden von Mondragón-Mitgliedern gefertigt. Sie sind in der Landwirtschaft tätig, im Dienstleistungssektor (Unternehmungsberatung, Telekommunikation, Logistik) und im Handel. Die Supermarktkette Eroski mit ihren Megamärkten, Parfümerien, Sportgeschäften und Reisebüros ist einer der grössten Einzelhandelskonzerne des Landes. Laboral Kutxa mit ihren 338 Filialen in ganz Spanien wiederum gilt als eine der solventesten Banken Spaniens. Die fünfzehn Technologiezentren des Mondragón-Verbundes geniessen international einen guten Ruf. Und in den vier Fakultäten des Mondragón-Bildungssystems werden 4.750 Studierende unterrichtet.
«Unser oberstes Ziel ist es, mit der Schaffung und dem Erhalt von Arbeitsplätzen den Wohlstand der Bevölkerung zu mehren», sagt Mikel Lezamiz, der sein Büro am Olandixo-Hügel oberhalb der Stadt hat; dort ist die Zentrale des Kooperativenverbunds. Und das sei bisher ganz gut gelungen, versichert der Mondragón-Sprecher. Denn: «In renditeorientierten Firmen ist die Kapitalvermehrung der alleinige Zweck. Und die Arbeitskraft wird als Mittel eingesetzt, um dieses Ziel zu erreichen. Bei uns hingegen steht der Mensch im Mittelpunkt, das Kapital ist nur ein Instrument.» In den Tälern der Region liegt die Arbeitslosigkeit mit sechs Prozent deutlich unter dem spanischen Durchschnitt (rund zwanzig Prozent).
Kein Exportmodell
Was ist das Erfolgsgeheimnis? Die Unternehmen des Verbundes kooperieren sehr eng, sie beraten sich gegenseitig, sie investieren viel in die Weiterbildung der Beschäftigten, sie achten darauf, dass ihre Banken und Versicherungen solide und stark sind. Und nicht zuletzt macht das Prinzip der Selbstverwaltung einen Teil des Erfolges aus: In jeder Kooperative geben die Mitglieder, derzeit 81 Prozent der Beschäftigten, den Ton an. Sie entscheiden auf den regelmässigen Vollversammlungen über Investitionen, die Verwendung der Profite – ein Teil geht an die Zentrale und ein weiterer an die Bildungseinrichtungen –, die Besetzung des Managements, und sie wählen die Delegierten für die Generalversammlung des Mondragónverbunds (vgl. «Die Mondragón-Struktur» in der Randspalte).
Natürlich gibt es auch Probleme: Die Kooperativen funktionieren innerhalb des privatkapitalistischen Markts und sind damit auch den Zwängen unterworfen, die dieser schafft. Fagor Arrasate zum Beispiel hängt zu fast hundert Prozent vom Export und der Automobilindustrie ab: «Wir folgen notgedrungenermassen den Global Players», erläutert Baltasar Pérez Sanz in der Werkshalle. «Wenn Toyota oder General Motors ein Werk in Brasilien oder Mexiko aufbauen, verlangen die dortigen Behörden oft, dass sich auch grosse Zulieferer wie wir dort niederlassen.»
Das erklärt, warum der Mondragon-Verbund in zahlreichen Ländern Tochterfirmen hat (auch in Deutschland) und warum er auch beständig Unternehmen dazukauft – der Markt zwingt zur Expansion. Allerdings werden diese zusätzlichen Tochterfirmen zumeist nicht als Genossenschaften betrieben: «Wir sind zwar bemüht, die dort Beschäftigten ebenfalls zu Eigentümern zu machen, aber das gelingt selten», sagt Sanz. Warum? Weil sich der Genossenschaftsgedanke nicht einfach in andere Kulturen übertragen lässt, weil in manchen Staaten (wie China) Produktionsgenossenschaften nicht zugelassen sind, weil viele Arbeiter und Angestellte die Eigenverantwortung erst einmal scheuen, die ihnen das Genossenschaftskonzept abverlangt. Oder: Weil die Belegschaften die Beteiligungskosten nicht tragen wollen oder können. Denn diese sind – wie bei Industriebetrieben nicht anders zu erwarten – ziemlich hoch: Alle Genossenschaftsmitglieder müssen als einmaligen Beitrag 15.000 Euro in das Genossenschaftsunternehmen einzahlen; das entspricht dem Jahresgehalt der untersten Lohngruppe. Aber: Wer das Geld nicht auf einmal einzahlen kann, und das könnten nur die wenigsten, kann den Betrag auf Jahre verteilt abstottern. Oder bekommt einen zinsgünstigen Kredit.
Unbedingt schlechter gestellt sind die Beschäftigten in diesen Auslands-Töchtern jedoch deswegen nicht. Selbst in China, wo Fagor Arrasate auch ein Werk unterhält, verdienen IngenieurInnen so viel wie bei Mondragón selbst, sagt Sanz: rund 2000 Euro netto im Monat.
Ende der Expansion?
2000 Euro ist in Spanien ein hoher Lohn, wo der Mindestlohn bei unter 700 Euro netto im Monat liegt. Und die Chefs? Die bekommen in den meisten Kooperativen maximal das 4,5-Fache der am schlechtesten bezahlten GenossenschafterInnen, so Sanz. Nur bei den zehn umsatzstärksten Mondragón-Unternehmen verdient der CEO höchstens sechs Mal so viel wie die Reinigungskraft.
Ist also doch alles gut? Nicht ganz. Die mitunter bedenkenlos und allzu optimistisch vorangetriebene Expansion (unter anderem die Übernahme anderer Unternehmen), das Vertrauen auf kontinuierlich stürmisches Wachstum mit Umsatzsteigerungen zwischen 20 und 50 Prozent im Jahr und nicht zuletzt die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise ab 2008 haben etliche der bis dahin stabilen Kooperativen ins Schlingern gebracht.
Vor allem in Spanien, wo der Immobilienmarkt kollabierte, die Arbeitslosigkeit massiv anstieg und deshalb die Konsumkraft der Bevölkerung dramatisch einbrach, verschlechterten sich die wirtschaftlichen Bedingungen. In den letzten Jahren wurden allein Zehntausende von Hypothekengeschädigten aus ihren Wohnungen vertrieben. Das setzt natürlich auch dem Mondragón-Verbund zu: Wer kauft da noch Kühlschränke und Waschmaschinen? Bei Fagor Electrodomésticos gingen die Umsätze massiv zurück. 2013 beschlossen der Mondragón-Verbund, das Management und auch die Genossenschaftsmitglieder des Haushaltsgeräteherstellers das Aus für die Kooperative, mit der 1956 alles begonnen hatte.
«Wir haben alles versucht», sagt Mikel Lezamiz. «Der Investitionsfonds half mit 300 Millionen Euro aus, um die 2000 Arbeitsplätze zu retten. Doch vergebens». Immerhin: Entlassen wurde fast niemand. Die allermeisten Beschäftigten kamen bei anderen Kooperativen unter (obwohl auch diese unter Druck standen und manche sich selber die Löhne kürzen mussten) oder akzeptierten grosszügige Vorruhestandsregelungen; zwei Dutzend schlecht qualifizierten Mitgliedern hingegen blieb nach langen Auseinandersetzungen nur eine vergleichsweise geringe Abfindung.
Noch ein Krisenfall: Auch Eroski stolperte. Nur wenige Jahre zuvor, 2007, hatte die Grossgenossenschaft die spanische Handelskette Caprabo übernommen und deren 17.000 Lohnabhängige zu GenossenschafterInnen gemacht; eine beachtliche Leistung. Doch die Lage wurde immer schwieriger, je länger sich die 2008er-Krise hinzog. Im Baskenland konnten die Geschäfts-Umsätze zwar gehalten werden. Im übrigen Spanien aber brachen sie – wie bei den anderen Lebensmittelketten – ein. «Gegen makroökonomische Entwicklungen sind wir machtlos», sagt Kooperativensprecher Lezamiz, «das wissen auch die Mitglieder». Und treffen notgedrungen harte Entscheidungen, auch wenn sich diese gegen sie selbst richten. Bei Eroski votierte die Basis mit grosser Mehrheit dafür, Supermärkte zu verkaufen. In der Region Madrid, wo sich kein Käufer fand, mussten Beschäftigte entlassen werden.
Mitverantwortung in der Krise
«Solche Einbrüche machen uns zu schaffen», sagt auch Baltasar Pérez Sanz in der Werkhalle von Fagor Arrasate. «In gewisser Weise sind Krisen für uns Genossenschafter unangenehmer als für normale Lohnabhängige. Du hast neben der ohnehin anspruchsvollen Arbeit zusätzlichen Stress. Du denkst die ganze Zeit mit. Du überlegst dir andauernd, was auch aus den Belegschaften der Subunternehmen wird. Du trägst Verantwortung.» Schliesslich müsse man ja auch für jene handeln, die nicht mitentscheiden können.
Seit einiger Zeit, so Sanz, finden in seinem Werk alle zwei Wochen Abteilungsversammlungen statt. Alle müssen informiert sein, auf dem Laufenden bleiben, Entscheidungen treffen. Das hat immerhin dazu geführt, dass jetzt Arbeitszeitkonten eingeführt wurden, mit denen die Auftragsschwankungen ausgeglichen werden können. Zudem wurden Massnahmen ergriffen, die einen einfacheren Personalwechsel zwischen Abteilungen und Kooperativen erlauben. Natürlich: Mühsam sind die vielen Treffen und Diskussionen schon. «Andernorts geht das rascher, da trifft einer oben die Entscheidung; bei uns dauert das länger. Aber dafür setzen wir das Beschlossene viel schneller um, weil alle dahinter stehen.»
Wohl auch deswegen verlassen nur sehr wenige GenossenschafterInnen die Kooperativen, die Fluktuation ist gering. «Manche von uns bekämen in Privatfirmen deutlich höhere Löhne bezahlt, hoch qualifizierte Leute sind gefragt», sagt Sanz. Warum bleiben sie? «Weil die Arbeitsplätze sicher sind. Und weil es unglaublich viele Möglichkeiten zur Weiterqualifizierung gibt.» Und wohl auch deswegen, weil kaum irgendwo sonst die Entfremdung der Menschen zur und durch die Arbeit so gering ist wie in diesem Teil des Baskenlands. (pw)
PS: Dieser Artikel erschien in der Januar-Ausgabe der Monatszeitung «Oxi».