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Andere Länder: Mit Post-Chef Ulrich Gygi auf der Höhe

Die Klimaleiter am Gletschertisch

12. September 2002 | Auch in Zeiten der globalen Erwärmung ist Bergsteigen möglich, wie eine Aktion des Schweizer Bergführerverbandes zeigt. Doch die Touren werden gefährlicher.

Noch ruht der mächtige Felsblock auf seinem Sockel. Stefan hat ihn schon früh angekündigt auf unserem Marsch Richtung Konkordiaplatz, des grössten Gletscherplateaus in den Alpen. Einen so schönen Gletschertisch habe er schon lange nicht mehr gesehen. Und tatsächlich: Der Brocken (vier Meter lang, einen Meter dick) schwebt fast schwerelos, nur eine schmale Eissäule von rund zwei Meter Höhe gibt ihm Halt. Ein Bild für die Ewigkeit: Eis und Fels. Gibt es härtere Materien?

«Geht nicht zu nah dran», mahnt aber Stefan, denn «der Tisch wird Tag für Tag höher». Er wird höher, weil der Gletscher unter ihm wegschmilzt. Innerhalb der nächsten Tage, sicherlich aber der nächsten Wochen könnte der Sockel nachgeben, der Stein herunterfallen. «Aber demnächst schneit es doch wieder», sagt Ulrich. Nimmt dann der Gletscher nicht wieder zu? Verwandelt sich dann der Schnee nicht in Eis und stützt den Stein? «Ausgeschlossen», antwortet Stefan. Ulrich ist beeindruckt.

Seit drei Stunden ist die kleine Seilschaft unterwegs auf dem Firn, der sich von Mönch und Jungfrau, den Bilderbuch-Viertausendern des Berner Oberlandes, Richtung Süden ergiesst. Am Vormittag hatte sich die Gruppe auf dem Jungfraujoch getroffen. Hoi Ulrich, hoi Stefan. Hier in den Bergen ist man per du; die vollen Namen sind den Gedenktafeln vorbehalten wie jener bei der Konkordia-Hütte (unserem heutigen Tagesziel), welche an drei Arbeiter erinnert, die beim letzten Hüttenneubau zu Tode kamen. Stefan heisst mit Nachnamen Jossen, ist 38 Jahre alt und von Beruf Bergführer in Naters. Ulrich, 55, ist besser bekannt unter seinem Nachnamen Gygi und seiner Funktion als oberster Chef (CEO) der Schweizer Post.

Das Uno-Jahr der Berge

Der Weg nach unten ist einfach: Eine breite Spur zeichnet ihn vor. Doch vor einem Monat hatte es kräftig geschneit, viele Spalten sind von Schnee bedeckt, und so warnt Stefan bei jedem Sprung vor dem klaffenden Abgrund. Weiter unten wird der Schnee weicher, die Schuhe sacken ein. Am Konkordiaplatz, wo der Jungfraufirn, das Ewigschneefeld, der Grüneggfirn und der Grosse Aletschfirn aufeinander treffen, watet man schon im Matsch. In den Gletscherspalten gurgelt Schmelzwasser, das zuweilen fast an die Eisoberfläche reicht. Ohne den Bergführer hätten wir kaum den schmalen Holzbalken gefunden, der über einen Gletscherfluss führt. Hier kann man auf dem Gletscher ersaufen, witzelt einer. «Es sind schon einige ertrunken», sagt Stefan.

Stefan und Ulrich kennen sich. Sie hatten im Frühling gemeinsam einen Annapurna-Trek in Nepal unternommen, auch da war Stefan der Führer und Ulrich der Gast. An diesem Wochenende sind sie jedoch in besonderer Mission unterwegs: Der Schweizer Bergführerverband hatte sich im Rahmen des Uno-Jahres der Berge 2002 eine besondere Aktion einfallen lassen und rund 150 Personen zu einer geführten Bergtour eingeladen – Prominente wie Bundesrat Joseph Deiss (Pigne d'Arolla), Astronaut Claude Nicollier (Mönch), Nationalratspräsidentin Liliane Maury Pasquier (Aletschgletscherwanderung), Abfahrtsweltmeister Bernhard Russi (Galenstock) oder Pia Hollenstein (Piz Morteratsch). Und weniger Prominente, wie Gefängnisinsassen der Haftanstalt Witzwil (Hockerhorn), eine Gruppe von Sehbehinderten (Clariden) oder die Kinder eines Unicef-Forums in Grindelwald (Mönchsjochhütte). Für den Post-CEO Ulrich Gygi war das Grossgrünhorn (4043 Meter) im Berner Oberland vorgesehen – sein erster Viertausender in den Alpen.

Konflikte zwischen oben und unten

«Wir wollen mit dieser Aktion das Verständnis der Unterländer für die Nöte der Bergbevölkerung fördern», begründet Wolfgang Wörnhard, Geschäftsführer des Schweizer Bergführerverbandes, die Aktion. In allen Bereichen, sagt er, würden die Berggebiete von den Unterländern ausgenutzt – «die bauen oben Stauseen, suchen dort die heile Welt, wünschen die Annehmlichkeiten eines modernen Tourismus und erwarten billige Arbeitskräfte. Und wenn wir für die Beibehaltung des bisschen Heli-Skiings plädieren, wird heftig protestiert.» Dabei gehe es auch da um die Sicherung von Arbeitsplätzen.

Für diese Art von Umweltschutz hätten seine Mitglieder jedenfalls wenig Verständnis. «‹Wie sieht es denn im Limmattal aus›, fragen sie, ‹und wie viel Natur wird zerstört bei der Neutrassierung der Bahnstrecke Zürich-Bern, die nur gebaut wird, damit die Zürcher drei Minuten schneller in der Hauptstadt ankommen?›» Die Oberländer dagegen hätten jahrhundertelang Sorge dafür getragen, dass die Natur noch so unberührt ist.

So unberührt ist diese freilich nicht mehr – dank den UnterländerInnen. Vom Gletschertisch sind es nur ein paar hundert Meter bis zur grossen Leiter, die zur Konkordia-Hütte führt. Im Minutentakt hört man Steine rutschen. Der Weg über das Geröll ist mühsam, scheinbar fest gefügte Blocksteine wackeln bei jedem Schritt, der eisige Untergrund gibt nach. Hier hilft eine im Fels verschraubte Stahltreppe. Den Weg zur nahe gelegenen Oberaletschhütte aber können nur noch geübte BergsteigerInnen bewältigen.

Auch andernorts, in der Bernina zum Beispiel, haben sich Zustiege durch die Klimaerwärmung verändert. So ist der vor kurzem noch übliche Anstieg zur Fuorcla Prievlusa, dem Ausgangspunkt für den Biancograt (wie lange der wohl noch so heissen wird?), mittlerweile viel zu gefährlich. Da sich der Permafrost in grössere Höhen zurückzieht, schlagen nun schon frühmorgens Steine auf die Eisflanke unterhalb der Scharte. Bergführer haben nun eine neue Route in den Fels gehauen. Auch am Piz Roseg mussten sie den Normalzustieg wegen eines Bergschrundes verlegen.

Im Vergleich dazu bietet die hundert Meter hohe Klimaleiter zur Konkordia-Hütte einfaches Steigen und nützliche Erkenntnisse. Nach fünfzehn Höhenmetern nämlich informiert eine Tafel, dass die Moräne, von der aus man die Leiter betritt, noch 1995 bis hierhin ragte. Weitere Tafeln folgen. 1976 zum Beispiel war die Moräne achtzehn Meter höher gewesen als 1995; 1957 neun Meter höher als 1976. Der Gletscherschwund gewinnt an Tempo. Zehn Eiswände könne er heutzutage nicht mehr besteigen, weil sie zu unsicher geworden seien, sagt Stefan.

Hohes Risiko, schlechter Lohn

Haben Klimaverschiebung und das zunehmend instabile Wetter auch noch in anderer Hinsicht das Bergführerdasein verändert? Immerhin war in diesem Jahr etwa das Matterhorn, ein wichtiger Arbeitsort, nur an rund zehn Tagen gut «machbar». Zumindest die rund 200 Vollprofis unter den insgesamt 1400 Schweizer BergführerInnen werden flexibler, sagt Wolfgang Wörnhard. «Es gibt ja zunehmend zwei Arten von Bergführern – die einen gehen auf immer die gleichen Berge mit wechselnden Gästen, die anderen mit gleichen Gästen auf immer neue Berge.» Die einen hatten diesen Sommer Pech. Die anderen, und das geschieht immer häufiger, weichen aus – dann wird die fest gebuchte Tourenwoche eben nach Südtirol, an den Montblanc oder in die Pyrenäen verlegt. Immer geht das jedoch nicht. Besonders die freischaffenden BergführerInnen – also jene, die nicht in Sportgeschäften, bei Behörden, als Handwerker, als LehrerInnen oder als Angestellte von Bergsteigerschulen ihr Auskommen finden – leiden unter den Klimakapriolen. Zumal oft ungeklärt ist, wer für den Schlechtwetter-Ausfall aufkommen muss – die Führerin oder der Gast, der seinen Traumberg nicht machen kann.

Das Berufsrisiko ist enorm. Bei «zweihundert Arbeitstagen am Berg passiert manchmal was», sagt Stefan Jossen, der bisher immer glimpflich davonkam (und einmal einen 150-Meter-Sturz überlebte). Allein im letzten Jahr aber starben zehn Schweizer Bergführer in Ausübung ihrer Tätigkeit. Dazu kommt die Fürsorgepflicht für die Kundschaft – nach jedem Unfall steht die Polizei vor der Tür. Angesichts solcher Gefahren, der hohen Anforderungen schon zu Beginn der Ausbildung und der kurzen Saison (Anfang Juli bis Ende September und vielleicht noch Januar bis Mai, falls auch Skitouren angeboten werden) ist das Honorar bescheiden: 450 Franken pro Tag will der Verband als Mindesthonorar durchsetzen (Modeberge wie das Matterhorn sind etwas teurer). Das ist weniger, als ein Handwerker verdient (und viel weniger, als ein CEO erhält). Und der Tag eines Bergführers ist lang.

Das Grünegghorn

Für Stefan beginnt er am nächsten Morgen vor vier Uhr früh. Die Wolken hängen tief, vor der Hütte herrscht dichter Nebel, der Wetterbericht war besser gewesen. Also weckt er seine Leute später als vorgesehen. Abmarsch um halb sechs, eine Stunde später als sonst üblich. Im Schein der Stirnlampe die Klimaleiter runter auf eine Höhe von 2700 Meter, dann erst gemächlich, später immer steiler über den Grüneggfirn. Seil raus, Stirnlampe runter, Steigeisen anschnallen; das Aletschhorn leuchtet in einem fahlen Gelb. Der Puls kommt langsam in Fahrt, doch der regelmässige Tritt, der in solchen Höhen nützlich ist, will nicht klappen: Bei jedem dritten Schritt sinkt man knietief ein. Es ist viel zu warm, Schlechtwetterwolken verengen die Aussicht. Auf dem Grünegghorn (3860 Meter) empfielt Stefan den Abbruch der Tour – es sieht nach Regen aus. Regen könnte in den steilen Schneehängen, die wir beim Abstieg queren müssen, Lawinen auslösen. Ausserdem ist unser Ziel, das Grossgrünhorn, längst hinter einer Nebelbank verschwunden. Also wieder runter.

Die Entscheidung war vernünftig – und Ulrich Gygi hatte auch nichts dagegen. Irgendwann demnächst wird er (mit Hilfe eines Bergführers) auf einem Schweizer Viertausender stehen, vielleicht auf einem, der einfacher ist als das Grossgrünhorn. Gut gefallen hat ihm die Tour auf jeden Fall. Und er war von der Landschaft mindestens so begeistert wie jene hundert TouristInnen, die am gleichen Wochenende nach einem Fondue-Abend auf der Konkordia-Hütte ihren Trek auf dem Aletschgletscher fortsetzen – jeweils zu zehnt am Seil von Bergführern, die sich auch mit solchen Bergkarawanen den Unterhalt verdienen.


PS: Nachfrage auf der Heimreise im Eurocity ab Brig. Hat der erfahrene Berggänger Gygi neue Erkenntnisse gewonnen, hat die Aktion des Bergführerverbandes Wirkung gezeigt? «Vieles war mir schon vorher bewusst», sagt der Post-Chef, «aber ich habe von Stefan auch viel gelernt.» Und was setzt er davon um in seinem Betrieb? «Die Post lebt von der Mobilität, da kann ich mich nicht als Mobilitätsfeind profilieren. Aber wir kalkulieren nicht nur wirtschaftlich, sondern berücksichtigen auch die Umwelt. Wir setzen weiter auf die Bahn, jede Nacht sind 180 Postzüge unterwegs, obwohl der Strassentransport sicher billiger wäre.» Aber produziert die so genannte Liberalisierung nicht noch mehr Verkehr? «Ich bin im Grundsatz für ein gewisses Mass an Wettbewerb. Die Öffnung des Marktes hat jedoch auch ökologische Konsequenzen.

Konkurrierende Zustellnetze führen dazu, dass jetzt private Kuriere mit halb leeren Lieferwagen durch die Gegend fahren, um Kleinpakete auszuliefern. Vom ökologischen Gesichtspunkt her ist das kaum vertretbar.» Was tun in dieser Situation? «Die Politik könnte regulierend eingreifen – hier hat der Staat seine Funktion. Die Unternehmen werden sich immer vordringlich um das eigene Überleben sorgen und dann erst um das der Welt. Ein Verzicht auf Wirtschaftlichkeit zugunsten der Ökologie ist in der Marktwirtschaft nicht durchsetzbar – es sei denn, der Staat erlässt Regeln, die für alle gelten.»

Der Bergführerverband wird da noch viel Überzeugungsarbeit leisten müssen. (pw)


Mehr zum Verband, zu den Bergführern und ihren Tarifen bietet die Website www.4000plus.ch.