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Nordirland: Die Wut der jungen LoyalistInnen

Rückkehr zu den «Troubles»?

9. April 2021 | Seit über einer Woche randalieren in den nordirischen Armutsvierteln Jugendliche, die Polizei setzt inzwischen Waffenwerfer und Hunde ein. Kommt da noch mehr?

Es geht hoch her in den unionistisch-protestantischen Wohnquartieren von Waterfront (Derry) und rund um die Belfaster Shankill Road. Jeden Abend versammeln sich dort Jugendliche und liefern sich Scharmützel mit der Polizei, es fliegen Steine, Latten und Feuerwerkskörper, Autos (und bisher ein Doppeldeckerbus) gehen in Flammen auf, nach Polizeiangaben wurden bisher rund siebzig BeamtInnen verletzt.

Der unmittelbare Anlass für die Straßenkämpfe: Letzte Woche gab die nordirische Staatsanwaltschaft bekannt, dass sie keine Anklage gegen TeilnehmerInnen – darunter führende PolitikerInnen der irisch-nationalistischen Partei Sinn Féin – an der Beerdigung eines einst hochrangigen IRA-Mitglieds erheben werde. Bobby Storey war im Juni letzten Jahres von über tausend Trauernden zu Grabe getragen worden – obwohl die Corona-Einschränkungen nur fünfzig Anwesende erlaubt hätten.

Ebenso eine Rolle gespielt haben mag, dass seit Jahrzehnten an Ostern die Wogen hochgehen im nur dürftig befriedeten Nordirland: Die Feiertage markieren den Beginn der unionistischen Marschsaison, gleichzeitig erinnert die irische-nationalistische Seite an den Osteraufstand von 1916, dem kurz darauf der Unabhängigkeitskrieg der IRA gegen die britische Kolonialmacht folgte.

Perspektivlosigkeit und Angst

Beides zusammen erklärt jedoch noch nicht die Vehemenz der Auseinandersetzungen. Ausschlaggebend sind andere Faktoren. Zum einen gehen nicht alle Jugendlichen von Nordirland auf die Straße – es sind vor allem die Heranwachsenden in den armen Quartieren, also dort, wo von Ende der sechziger bis Mitte der neunziger Jahre der Krieg geführt wurde, wo vor allem Arbeitslosen und schlecht qualifizierte, miserabel entlohnte ArbeiterInnen leben. Laut einer jüngeren Studie wachsen ein Viertel der jungen NordirInnen in prekären Verhältnissen auf, ohne Perspektive auf eine bessere Ausbildung in den noch immer nach Religionszugehörigkeit separierten Schulen, ohne Aussicht auf eine Lehrstelle oder halbwegs sichere Jobs. Entlang der pro-britisch-unionistischen Shankill Road oder der irisch-nationalistischen Springfield Road sind rund die Hälfte aller Lohnabhängigen ohne festen Arbeitsplatz, unter den Jungen liegt der Anteil der Armen noch höher. Die mit dem Karfreitagsabkommen von 1998 in Aussicht gestellte «Friedensdividende» kam hier nie an.

Dafür wuchs in der unionistischen Bevölkerung, die unbedingt die Union mit Britannien erhalten will die Sorge um ihre Zukunft, befeuert von den Folgen des Brexits. Viele von ihnen hatten beim Brexit-Referendum 2016 für einen Austritt des Vereinten Königreichs (UK) aus der Europäischen Union gestimmt (die Mehrheit der NordirInnen war dagegen). Vor allem die starke Democratic Unionist Party (DUP) hatte sich – wie die britischen Tories – dafür stark gemacht. Was den Menschen seinerzeit jedoch nicht verraten wurde, waren die Begleiterscheinungen, die der inzwischen erfolgte Brexit haben würde: Um das Karfreitagskommen nicht zu gefährden und eine neue harte Grenze zwischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland zu vermeiden, hatten die Londoner Regierung auf Druck der EU einer Sonderregelung für Nordirland zugestimmt. Der irische Nordosten sollte Teil des EU-Binnenmarkts und in der europäischen Zollunion bleiben.

Das bedeutete jedoch, dass eine neue Handelsgrenze zwischen Nordirland und Britannien errichtet wurde. Seit Anfang Januar findet die Kontrolle des Warenverkehrs in den Häfen an der Irischen See statt. Diese eher handelstechnische Maßnahme hat jedoch im vorwiegend protestantischen unionistischen Teil der nordirischen Bevölkerung eine enorme politisch-psychologische Wirkung entfaltet: Er fühlt sich vom Mutterland abgestoßen und verkauft; Anfang Jahr kam es daher immer wieder zu Blockaden der Belfaster Docks, Zollinspekteure wurden bedroht. Aus diesem Grund hat Anfang März der Loyalist Communities Council, die Vereinigung der loyalistischen Paramilitärs, seine Unterstützung des Karfreitagsabkommens aufgekündigt. Den pro-britischen Kampfverbänden war es lange Zeit ohnehin schwer gefallen, den Friedensprozess und die damit einhergehende Machtteilung auf regionaler Ebene zu akzeptieren (siehe dazu «Rücken an Rücken»).

Immer wieder Krawall

Während also auf der irisch-nationalistischen Seite Zuversicht herrscht und viele eine Wiedervereinigung mit der Republik Irland für möglich halten (siehe «Die Grenze im Kopf»), fürchtet der ehemals dominante unionistische Bevölkerungsteil um seine politisch-kulturelle Identität. Das schafft Unruhe, die sich in den Straßenschlachten ausdrückt.

Rutscht Nordirland dadurch zurück in die Kriegszeit? Das ist unwahrscheinlich. Erstens hat es in den vergangenen Jahren immer wieder Auseinandersetzungen gegeben, die ausbrachen und wieder abebbten («Ein Sommer der Krawalle»). Zweitens sind die früheren loyalistischen Todesschwadrone von der Ulster Defense Association oder der Ulster Volunteer Force längst vor allem in der organisierten Kriminalität aufgegangen. Und drittens fehlt für einen Bürgerkrieg der Widerpart – die IRA besteht bestenfalls noch aus ein paar Veteranengruppen, die – unterwandert von der britischen Geheimpolizei – vielleicht noch den alten Zeiten nachtrauern, zu militärischem Handeln aber kaum fähig sind.

Das bedeutet jedoch nicht, dass bald Ruhe einkehrt. Je näher der Zeitpunkt rückt, an dem das im Karfreitagsabkommen festgelegte Referendum über den Verbleib Nordirlands beim UK oder dem Anschluss an die Republik rückt, desto häufiger werden die Scharmützel werden. Aber wohl nicht mehr zwischen bewaffneten LoyalistInnen und RepublikanerInnen, sondern zwischen deprivierten Jugendlichen und der Staatsmacht. (pw)



Der Vertrag von Belfast

Nach mehreren Waffenstillstandserklärungen der IRA, die von der kriegsmüden Bevölkerung einhellig begrüsst wurden, und nach zähen Verhandlungen unterzeichneten die Regierungen von London und Dublin sowie VertreterInnen der meisten nordirischen Parteien am 10. April 1998 den Vertrag von Belfast, gemeinhin Karfreitags-abkommen (KFA) genannt. Schirmherren der Vereinbarung waren die EU und die damalige US-Regierung. In zwei separaten Referenden stimmten die irische Bevölkerung (mit 94 Prozent) und die nordirische (71 Prozent) zu.

Mit dem KFA wurden ein nordirisches Regionalparlament, eine Regionalregierung und eine grenzüberschreitende Kooperation in Form eines Ministerrats und parlamentarischer Gremien beschlossen. Bedingung dafür war, dass alle paramilitärischen Verbände, vor allem die IRA und die Ulster Volunteer Force (UVF), ihre Waffen abgeben; dafür kamen die inhaftierten UntergrundkämpferInnen frei. Parallel dazu wurde die bis dahin fast exklusiv protestantische Polizei reformiert und die Europäische Menschenrechtskonvention ins Gesetzbuch aufgenommen.

Ausserdem schrieb das KFA fest, was vorher schon Praxis war: die unbeschränkte Personenfreizügigkeit auf der ganzen Insel. Und eine duale Staatsbürgerschaft. So können BürgerInnen im Norden wie im Süden neben dem eigenen Pass auch den des Nachbarstaats beantragen. Diese Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit ist der Grund für den Backstop.

Zudem kann jederzeit ein nordirisches Referendum stattfinden, wenn der britische Nordirlandminister den Eindruck hat, dass eine substanzielle Mehrheit der nordirischen Bevölkerung das will. An das Resultat dieses Referendums, das bei Bedarf nach sieben Jahre wiederholt werden kann, ist London gebunden. (pw)