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Britannien: Labours Zaghaftigkeit

Ohne Ideen, ohne Konzept

24. Februar 2017 | So gut und wichtig Jeremy Corbyns Siege über die innerparteiliche Konkurrenz auch waren: Was Labour unter seiner Führung derzeit bietet, ist erschreckend einfallslos.

Man kann Tony Blair vieles vorwerfen. Dass er dem früheren US-Präsidenten George Bush bedingungslose folgte und mit Lügen Britannien 2003 in den Irakkrieg führte, dessen Folgen den gesamten Nahen Osten destabilisierte. Dass er mit seiner Vorliebe für private Finanzierungsinitiativen den Staat zugunsten von Großkonzernen dauerhaft verschuldete. Dass er die von Margaret Thatcher initiierte Privatisierungspolitik weiter vorantrieb. Oder dass er trotz seiner massiven Labour-Mehrheit im Unterhaus nichts unternahm, um die weitgehend rechtlosen britischen Gewerkschaften zu stärken und beispielsweise die Antigewerkschaftsgesetze zu revidieren.

Aber nicht, dass Blair kein Gespür für Stimmungen hätte. Das zeigte er zuletzt Mitte Februar, als er die Gründung einer Stiftung gegen den bevorstehende Brexit ankündigte. Grosse Folgen wird sein Projekt wohl kaum haben – dazu ist der Initiator zu unpopulär im Land. Aber einen zentraen Punkt hat er gleichwohl getroffen.

Von seinem Nachnachfolger an der Parteispitze kann man das derzeit nicht behaupten. Jeremy Corbyn, der bei seinen beiden Wahlkämpfen 2015 und 2016 viele Säle füllen konnte und an der Parteibasis ungemein populär ist, hat da weniger Phantasie. Gewiss, die Töne, die er anschlägt, kommen bei vielen seiner Fans weiterhin gut an: für eine Stärkung des Nationalen Gesundheitswesens (NHS), für atomare Abrüstung, für eine Wiedervergesellschaftung der Bahn. Und gegen weiteren Sozialabbau, gegen Steuererleichterungen für Reiche, gegen noch mehr Privatisierung, gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Das klassisch-linke Programm eben. Aber reicht das? So angespannt, wie die innenpolitische Lage des auseinander driftenden Landes ist?

Neue Aufstände?

Seit dem knappen Votum der britischen Bevölkerung im vergangenen Juni kennt die britische Öffentlichkeit eigentlich nur ein Thema: den bevorstehenden Brexit. Weniger im Mittelpunkt des Interesses steht die zunehmende Verarmung – und Verzweiflung – eines grossen Teils der Bevölkerung. Die rabiaten Kürzungen bei der Behindertenhilfe, beim Mietzuschuss für Bedürftige, bei den Sozialleistungen für Arme, Alte, Arbeitslose; die Schliessung vieler Sozialzentren (von Büchereien bis Jugendclubs); die anhaltenden Schikanen gegenüber Anspruchsberechtigten; die im Südosten des Landes galoppierenden Mieten (und Immobilienpreise); das trotz karger Lohnerhöhungen immer noch niedrige Lohnniveau (unter dem Stand von 2008). All das hat eine Stimmung erzeugt, die potenziell explosiv ist.

Jedenfalls befürchten selbst Konservative «Riots», also Aufstände. Das schreibt jedenfalls die Sonntagszeitung «Observer». In seinem Text zitiert der Autor Andrew Rawsley einen hochrangigen Tory mit den Worten «Ich befürchte öffentliche Unruhen in den nächsten zwei Jahren.» Die meisten Leute – und damit meint die ungenannte Quelle das Establishment – würden unterschätzen, wie extrem steinig die kommenden 24 Monate werden würden. Die anhaltenden Sozialkürzungen, die existentielle Krise des NHS, bevorstehende Steuererhöhungen auch für untere Einkommensschichten (die auch deswegen mehr zur Kasse gebeten werden, weil die Unternehmenssteuern weiter sinken), die schwächelnde Wirtschaft, dann noch die unabsehbaren Kosten des Brexits – der Sprengstoff häuft sich an.

Nun sind hausgemachte Unruhen eigentlich nichts, was die regierenden Tories wirklich gefährden könnten – jedenfalls dann nicht, wenn sie so ziellos ablaufen wie 2011. Dafür ist der Staat gerüstet, auch wenn die Polizeiführungen immer lauter die mangelhafte Ausstattung und einen ungenügenden Personalbestand beklagt. Eine Chance für die Linke böten sie freilich nicht. Dazu müsste diese mehr zu offerieren haben als rückwärts gerichtete Ziele und eine an den 1970er Jahren orientierte Vision.

Wie hilflos die gespaltene Labour-Partei ist, zeigt sich beim alles dominierenden Thema. Zur Brexit-Abstimmung im Londoner Unterhaus hatte Parteichef Corbyn die Devise ausgegeben, dass natürlich der Wille der Bevölkerung respektiert werde (sie hatte mit 51,9 gegen 48,1 Prozent für den Brexit votiert) und alle Labourabgeordneten geschlossen mit den Tories für den Austritt aus der EU stimmen müssten – also auch die VertreterInnen jener Wahlkreise, deren BewohnerInnen massiv für den Verbleib in der EU gestimmt hatten, etwa in London, den nordenglischen Grossstädten wie Liverpool, Manchester, Leeds, in Schottland sowieso. Gleich dreimal hatte die Labourspitze den Befehl zur Fraktionsdisziplin unterstreichen lassen; mehr Druck geht kaum. Dennoch haben ein Fünftel der Labourabgeordneten gegen die Anordnung ihres Parteivorsitzenden votiert, der in seinen drei Jahrzehnten als Hinterbänkler selber rund 500 Mal ähnliche Anweisungen ignoriert hatte.

Votum für den Austieg

Corbyns Argument («die Mehrheit hat entschieden») ist vordergründig schlüssig. Man kann sich auch lebhaft das Gejohle der Konservativen und die rechten Medien vorstellen, wenn sich Labour in dieser Frage gegen das Referendumsergebnis gestellt hätte. Ebenfalls zu berücksichtigen ist, dass die Mehrheit der bisherigen Labour-WählerInnen zwar gegen, die Stimmberechtigten in den von Labour gehaltenen Wahlkreise aber für den Brexit votiert hatten. Und dass den dortigen Abgeordneten die rabiat rechte EU-feindliche United Kingdom Independence Party UKIP im Nacken sitzt.

Dennoch: Sonderlich kreativ ist diese Oppositionspolitik nicht. Corbyn und der Labourvorstand hätten ja auch anders argumentieren können. Sie hätten darauf verweisen können, dass die Abstimmung nur wegen eines innerparteilichen Gerangels der Tories überhaupt angesetzt wurde. Dass der Wahlkampf von der rassistischen, fremdenfeindlichen Rechten dominiert war. Dass praktisch alle Aussagen und Versprechungen der Brexiteers frei erfunden und haltlos waren. Und dass die Linke den Fehler gemacht hatte, ihre differenzierte Position («nein zur marktorientierten EU, ja zur sozialen Union und zur europäischen Kooperation») und die Alternativen nicht klar aufzuzeigen.

Sie hätten die vielen Proteste aufgreifen und verstärken können, die seit dem Referendum stattgefunden haben – und immer noch stattfinden. Sie hätten auf die Kosten des Ausstiegs verweisen können und darauf, wer sie zu tragen hat. Sie hätten den Schulterschluss mit den 3,5 Millionen EU-AusländerInnen suchen (und finden) können, die jetzt um ihre Zukunft bangen. Sie hätten eine Bewegung initiieren können, die ihnen wieder zu Bedeutung verhilft – und damit die innenpolitischen Verhältnisse aufbrechen können.

So aber überlässt Labour das Feld anderen: der liberaldemokratischen Partei, die nach ihrer desaströsen Koalition mit den Konservativen (2010 bis 2015) in der Versenkung verschwunden war. Und – in Schottland – der Scottish National Party SNP, die bei der Unterhausabstimmung geschlossen gegen die Anwendung des EU-Ausstiegsparagrafen 50 war. Schottland kann Labour seit Corbyns Brexit-Akzeptanz für die nächsten Jahrzehnte vergessen. Ohne Schottland aber wird Labour nie wieder zur stärksten Partei im Vereinigten Königreich.

Und so sitzt die Partei in der Falle. Sie hat sich in den letzten zwei Jahren zwar deutlich nach links orientiert und auch verjüngt, sie hat rund 300.000 neue Mitglieder gewonnen und ist bewegungsfähiger geworden. Nun aber muss sie sich vorhalten lassen, die wohl wichtigste Entscheidung seit Jahrzehnten mitgetragen zu haben – und wird daher auch für die Folgen des Brexits mitverantwortlich gemacht. Sie steckt mithin im alten sozialdemokratischen Dilemma des widerwilligen Mitmachens. Dabei wollte Corbyn eigentlich politische Alternativen entwickeln. (pw)