home
zur Übersicht ↑ Britannien

Britannien: Labours zweite Wahl

Stillstand oder Öffnung?

4. August 2016 | Während die konservativen Tories nach dem Brexit-Votum einen halbwegs geregelten Führungwechsel hinbekamen, zerlegt sich die Oppositionspartei Labour. Warum?

Wie sich die Bilder doch gleichen. Es ist noch kein Jahr her, dass Jeremy Corbyn mit einem massiven Votum der Parteibasis zum Vorsitzenden der ehemaligen Arbeiterpartei gewählt wurde – und nun steht er wieder im Wahlkampf. Hunderte, ja Tausende strömen zu seinen Veranstaltungen; am vergangenen Freitag musste die Polizei den St. George's Square sperren, den grössten Platz von Liverpool, weil rund 5000 Menschen den Mann hören wollten, der durch einen Putschversuch der eigenen Unterhausabgeordneten hinweggefegt werden sollte. Sein Gegenkandidat Owen Smith hingegen hat Mühe, mehr als ein paar Dutzend Parteimitglieder zu mobilisieren. Auch er war vor kurzem in Liverpool. Aber nicht einmal hundert Leute wollten seine Rede hören.

Das war vor einem Jahr ähnlich gewesen, als Corbyn – seinerzeit eher zögerlich – die drei KandidatInnen der damaligen Labour-Führung herausgefordert hatte. Er sprach in überfüllten Räumen; seine MitbewerberInnen um den Labourvorsitz referierten in Hinterzimmern. Im Laufe seines Wahlkampfs verdoppelte sich die Mitgliederzahl auf rund eine halbe Million; bei der Urwahl votierten knapp sechzig Prozent für den Hinterbänkler.

Rücktritt und Misstrauensvotum

Trotz dieser Mehrheit und der beachtlichen Massenmobilisierung war von Anfang an erkennbar, dass die von AnhängerInnen der früheren Labourvorsitzenden Tony Blair und Gordon Brown durchsetzte Fraktion das Ergebnis nicht einfach akzeptieren würde – und so handelte die bisherige Parteielite, als nach dem Brexit-Referendum eine vorgezogene Parlamentswahl absehbar schien: Zuerst traten die meisten Mitglieder des Schattenkabinetts zurück, dann sprachen über achtzig Prozent der Parlamentsabgeordneten Corbyn ihr Misstrauen aus und forderten ihn zum Rücktritt auf. Was Corbyn mit Verweis auf seine Wahl durch die Parteimitglieder ablehnte.

Und nun also ein neuer Urnengang. Zuerst wollte Angela Eagle gegen Corbyn antreten (zur Empörung der Mitglieder ihres Wahlkreises, die postwendend ihre Absetzung verlangten), jetzt zieht Owen Smith durch das Land. Smith, seit sechs Jahren Unterhausabgeordneter und bis Ende Juni Schattenarbeitsminister unter Corbyn, hatte vor seiner politischen Karriere als BBC-Produzent, als Lobbyist für den US-amerikanischen Pharmakonzern Pfizer und als politischer Berater gearbeitet. Dass Smith – er gilt inzwischen als moderater Linker – den Vorzug vor Eagle bekam, hat einen einfachen Grund: 2003, als Blair in treuer Gefolgschaft des damaligen US-Präsidenten George W. Bush den Irakkrieg lostrat, sass er noch nicht im Parlament. Und konnte daher, anders als Eagle und viele andere altgediente Labourabgeordnete, der Invasion nicht zustimmen.

Wie Eagle und viele andere Labourabgeordnete enthielt er sich jedoch bei einer zentralen Abstimmung im Juli 2015, als die konservative Regierung dem Unterhaus weitere empfindliche Kürzungen im Sozialetat vorlegte, die vor allem gegen Behinderte gerichtet waren. Genau darum geht es nun bei der Auseinandersetzung in der Labour Partei. Hier der prinzipienfeste Altlinke Corbyn, der den Reichtum umverteilen und die Macht der (Finanz-)Konzerne begrenzen will, Gemeinnutz vor Privateigentum stellt, jedwede Austeritätspolitik, militärische Interventionen und Freihandelsabkommen wie TTIP konsequent ablehnt – und sich auch nicht scheut, die Eigentumsverhältnisse bei den Grossverlagen in Frage zu stellen (was ihm eine denkbar schlechte Presse beschert). Und dort der Kandidat des alten Parteiestablishments, das sich längst mit den Machtverhältnissen arrangiert hat: Die neoliberale Wirtschaftspolitik ist alternativlos; die Finanzelite der Londoner City muss erhalten bleiben; die gerade beschlossene Modernisierung der atomaren Trident-U-Bootflotte (Gesamtkosten laut der Online-Zeitung «Independent»: knapp 200 Milliarden Euro) war richtig; Sozialkürzungen sind zwar bedauerlich, aber leider nicht zu vermeiden.

Wer mobilisiert die Marginalisierten?

Noch ist nicht absehbar, wohin der Machtkampf Labour führt und wie er ausgehen wird. Sicher ist nur, dass die Partei danach ganz anders aussieht. Setzt sich die Fraktionsmehrheit durch, fällt Labour zurück in die Zeit, als sie noch New Labour hiess – und das bedeutet: weitere Deregulierungen und Privatisierungen, Abbau sozialstaatlicher Mindeststandards, mehr prekäre Beschäftigungsverhältnisse, mehr kriegerische Interventionen, noch mehr Gängelung der Gewerkschaften.

Gewinnt hingegen die in der Unterhausfraktion seit jeher marginalisierte Linke um den Vorsitzenden Jeremy Corbyn, könnte aus der Partei das werden, was die ehemalige Gewerkschaftspartei einmal war: keine durchweg sozialistische Partei (das war Labour nie gewesen), aber das parlamentarische Spielbein einer breiten, vielfältigen Bewegung, die sich der Solidarität, der sozialen Gerechtigkeit, des gesellschaftlichen Miteinanders verpflichtet fühlt.

Corbyn, sagen seine parteiinternen KritikerInnen, sei ja «ein anständiger Kerl» und auch «sehr integer», aber halt «kein Parteiführer». Nur: Wer braucht noch in einer Zeit, in der das Vertrauen in die politischen Eliten – siehe Brexit – zunehmend erodiert, eine Führung in herkömmlichen Sinne? Wer kann die Machtlosen und an den Rand Gedrängten für eine Zukunft begeistern – wenn nicht Corbyn?

Inzwischen gehen viele davon aus, dass er seinen Vorsitz verteidigen kann. Was dann passieert, ist offen. Einer nochmaliger Putschversuch der Parlamentarischen Labour Partei ist eher unwahrscheinlich. Bleibt die Parteirechte auf ihrem Anti-Corbyn-Kurs, ist eine Spaltung der Partei – wie 1981 – nicht ausgeschlossen. (pw)