Nordirland und der Brexit

Die Grenze im Kopf

13. Oktober 2019 | Der Brexit zerreisst nicht nur Britannien, er vertieft auch in Nordirland alte Gräben. Aber vielleicht führt er auf der Insel auch zur Wiedervereinigung von Nord und Süd.

Irgendwo hier muss sie doch sein, diese vermaledeite Grenze, die seit Jahren Schlagzeilen macht und die britische Politik ins Chaos stürzte. Aber wo genau? Am linken oder am rechten Rand der schmalen Strasse, die sich durch die sanften Hügel zwischen Monaghan und Middletown schlängelt? Nirgendwo ein Strich auf dem Asphalt, ein Hoheitszeichen oder ein Hinweis darauf, dass ab hier Entfernungen in Meilen statt Kilometern angegeben werden. Tommy McKearney denkt eine Weile nach, dann erinnert er sich: «Sie kommt von dort übers Feld, biegt auf die Strasse ein, wechselt dann die Seite, zieht sich den anderen Rand entlang und verschwindet dort drüben zwischen den Hecken.» Irgendwie so müsse sie verlaufen, sagt das frühere Mitglied der Irischen Republikanischen Armee (IRA). Fremde, die hier entlang fahren, merken nicht, dass sie von einem Land ins andere wechseln; aber Fremde verirren sich nur selten hierher. McKearney hingegen hatte in den siebziger Jahren öfters den Weg genommen, um unbemerkt von Monaghan (in der irischen Republik) an Middletown (Vereintes Königreich) vorbei Richtung Armagh und weiter in die nordirische Grafschaft Tyrone zu kommen, wo er vor allem operierte.

«Die Briten wussten natürlich, dass wir hier unterwegs waren», erzählt McKearney, der bereits in jungen Jahren Kommandant der IRA von South Tyrone gewesen war. Aber was hätten sie dagegen tun können? Das Gelände ist unübersichtlich: Zahllose Hecken, Steinmauern, Zäune, da und dort eine Herde Rinder zwischen den Bäumen, Scheunen und Schafe. «Nun, sie haben einen Krater in die Strasse gesprengt. Doch zwei Tage später war ein provisorischer Umweg über die Wiese dort drüben planiert», der heute noch erkennbar ist. Von wem? «Von uns, den Bauern und den Schmugglern.»

McKearney kennt sich aus in der Region. In seiner aktiven Zeit als IRA-Freiwilliger (er trat 1971 der Untergrundorganisation bei, wurde 1977 gefasst und sass danach sechzehn Jahre in Haft) wechselte er rund hundert Mal über die Grenze – hier oder ein Dutzend Kilometer weiter gen Westen bei Knockatallon, wo die Grenze über ein Hochmoor verläuft. «Wir haben selten denselben Weg genommen, das wäre zu gefährlich gewesen.» Gefährlich war es auch so schon genug – für ihn und seine MitkämpferInnen, wenn sie ihre Verstecke verliessen, mit Autos bis in Grenznähe fuhren und sich dann stets nachts und meist bewaffnet zu Fuss auf den Weg machten. Und für die britischen Militärs, wenn diese – ebenfalls an der Grenze – unvorsichtigerweise einem der Sprengsätze zu nahe kamen, die über eine sehr lange Lunte von der Republik aus gezündet wurden.

Zwölf Mal in zweieinhalb Stunden

Und diese Grenze soll mit dem Brexit, dem Austritt des Vereinten Königreichs aus der EU, zur EU-Aussengrenze werden, im Falle eines ungeregelten Ausstiegs («harter» Brexit) mit Personenkontrollen und Zollstationen? Ein Ding der Unmöglichkeit. Das hatte die nordirische Polizei schneller erkannt als die britischen PolitikerInnen und schon kurz nach dem Brexit-Referendum im Juni 2016 gewarnt: «Das geht nicht.» Schliesslich hatten die Polizei und die britischen Militärs während der langen Jahre des bewaffneten Konflikts so ihre Erfahrungen im «Banditenland» gemacht, dem Grenzgebiet von South Armagh weiter im Osten.

Damals hatten die Sicherheitskräfte die Grenze zu kontrollieren versucht – mit Wachtürmen, Militärstützpunkten, Stacheldraht, Infrarotkameras und schwer bewaffneten Patrouillen. Gleichwohl war in den achtziger Jahren, als der Krieg in vollem Gange war, die Grenze problemlos passierbar gewesen – zwölf Mal in zweieinhalb Stunden in einem alten Toyota, mit einem Lokalpolitiker der irisch-republikanischen Partei Sinn Féin am Steuer, der vergnügt davon erzählte, dass sich die «Besatzungsarmee» im Banditenland meist nur per Helikopter bewege, weil alles andere für die britischen Soldaten im Gebiet um Crossmaglen zu riskant gewesen wäre.

Eine befestigte Grenze, so schätzte schon damals Jim McAllister die Lage ein, würde niemals akzeptiert werden, schon gar nicht von den Bauern, die ihr Vieh beidseits der imaginären Linie weiden lassen und staatliche Vorschriften ohnehin nicht so mögen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Das wissen alle nordirischen PolitikerInnen, das weiss auch die Regierung in Dublin. Nur in London hat sich das noch nicht bei allen herumgesprochen.

Von der Verteidigung zum Krieg

Seit der irischen Teilung vor bald hundert Jahren verläuft die 499 Kilometer lange Grenze im Zickzack um die sechs nordirischen Grafschaften. Damals, 1921, musste sich die britische Kolonialmacht nach einem jahrelangen, von der IRA geführten Unabhängigkeitskampf aus dem Süden der irischen Insel zurückziehen, behielt aber den vorwiegend von protestantischen SiedlerInnen bevölkerten Nordosten der Insel im Königreich. Und während sich in der neuen Republik im Süden eine von der katholischen Kirche dominierte, strukturell agrarisch-konservative Gesellschaft formierte, beherrschten im Nordosten ebenso konservative pro-britische Unionisten die Politik: Sie verteidigten mit allen Mitteln – mit Ausnahmegesetzen, Wahlkreismanipulationen und einer eklatanten Diskrimierung der irisch-nationalen, vorwiegend katholischen Minderheit – ihre Einparteienherrschaft und die Union mit Britannien.

Das änderte sich erst 1968, als StudentInnen derQueen's University in Belfast die Gruppe People's Democracy gründeten, aus der eine breite Bürgerrechtsbewegung hervorging. Deren Demonstrationen, Märsche und Sit-Ins stiessen sofort auf eine harsche Reaktion der nordirischen Staatsgewalt und der Loyalisten, bewaffneten Gruppen aus der protestantisch-unionistischen Arbeiterklasse. Sie attackierten die jugendlichen Protestierenden und steckten im August 1969 – vor fünfzig Jahren – in Westbelfast ganze Häuserzeilen in Brand, in denen irisch-nationalistische Lohnabhängige lebten.

An die Fluchtbewegung, die daraufhin einsetzte (mit Flüchtlingslagern südlich der inneririschen Grenze), kann sich Francie McGuigan noch gut erinnern. Er hat die Verzweiflung, die Tausende ergriff, hautnah miterlebt: «Wer verteidigt uns? Das war die entscheidende Frage damals», sagt der heute 70-Jährige. Also machte er sich auf, bereiste die ganze Insel, sammelte die alten Gewehre und Pistolen ein, die nach dem Unabhängigkeitskrieg 1919-1921 vergraben worden waren und richtete nahe Dundalk im Süden ein Waffendepot ein, von dem aus die «Verteidigung der nationalistischen Community» munitioniert wurde. Viele Freiwillige formierten sich bald zur IRA, die kurz danach den Kampf gegen die Besatzungsmacht aufnahm mit dem Ziel, den nordirisch-unionistischen Staat zu zerschlagen. Der Rest ist bekannt: Knapp dreissig Jahre währte der Krieg, in dem alle drei Kriegsparteien – die IRA, der britische Staat und die loyalistischen Killerkommandos – mit unterschiedlichen Zielen operierten, viele Unbeteiligten töteten oder verwundeten und der erst mit dem Friedensabkommen vom Karfreitag 1998 offiziell endete (vgl. «Der Vertrag von Belfast» in der Randspalte). Über 3500 Todesopfer hatte der bewaffnete Konflikt gefordert, der noch lange nicht aufgearbeitet ist: Wer hat welche Kriegsverbrechen begangen, wo sind die Verschwundenen geblieben, wann widerfährt den vielen Opfern endlich Gerechtigkeit? Aber immerhin: Die schlimmen Jahre sind vorbei. Das hoffen alle.

Die Auffanglösung

Eine Rückkehr in die alten Zeiten dürfe es nicht geben, das Karfreitagsabkommen müsse unbedingt Bestand haben – darin sind sich viele einig. Aus diesem Grund pochte die EU bei ihren Verhandlungen über die britischen Austritt auf eine Übergangsregelung, den sogenannten Backstop. Er sieht vor, dass bis zum Abschluss eines neuen Handelsvertrags zwischen dem Vereinten Königreich und der EU das ganze Land in der Zollunion und Nordirland dazu noch im Binnenmarkt bleiben soll. Das hatte die frühere Premierministerin Theresa May auch akzeptiert, war damit aber drei Mal im Unterhaus gescheitert und schliesslich zurückgetreten. Vor allem viele konservative Abgeordnete wollten nicht akzeptieren, dass für das Königreich auf unabsehbare Zeit weiterhin die EU-Handelsregeln und für Nordirland zusätzlich jene EU-Personenfreizügigkeit gelten soll, die im Karfreitagsabkommen festgelegt wurde. Darauf aber hatte nicht zuletzt die Republik Irland bestanden.

Der Regierung in Dublin ging und geht es freilich nicht nur um den Erhalt des Friedensvertrags von 1998. Sie fürchtet auch die wirtschaftlichen Folgen, die im Falle eines Brexits drohen. Und die sind erheblich, wie Michael Taft erläutert, Ökonom der gesamtirischen Gewerkschaft Siptu . Ganz exakt könne man die Auswirkungen zwar nicht beziffern, «doch wir müssen uns auf eine Ausnahmesituation einstellen». Dabei sei die Krise, in die das Land nach dem Crash 2009 stürzte, noch lange nicht überwunden. Auch die irische Zentralbank befürchtet, dass Irland – das zuletzt ein Wirtschaftswachstum von sechs Prozent verzeichnete – in eine Rezession schlittern könnte; der Nachbarstaat ist schliesslich der wichtigste Handelspartner.

«Besonders die grenznahen Regionen werden einen harten Brexit zu spüren bekommen», sagt Wissenschaftler Taft in der Siptu-Zentrale in Dublin. «Rund ein Viertel aller Arbeitsplätze in den ökonomisch ohnehin schwachen irischen Grafschaften Monaghan und Cavan hängen vom grenzüberschreitenden Handel und vom Tourismus ab.» Sollte es eine harte Grenze geben, würde das allein im Fremdenverkehr innert Monaten 10000 Arbeitsplätze kosten. Bedroht ist auch der Agrarsektor auf beiden Seiten: Rund ein Drittel der in Nordirland erzeugten Milch wird im Süden zu Butter und Käse verarbeitet, hiess es auf einer Krisenkonferenz Anfang September, zu der die irische Regierung Unternehmen geladen hatte; etwa 400.000 Schafe gelangen jährlich aus Nordirland in irische Schlachthöfe, während wöchentlich 200 Tonnen Pilze aus Irland über die Grenze ins Königreich wechseln. Zwar habe die irische Regierung aus den Fehlern gelernt, die nach 2009 gemacht wurden, so Taft; sie sei beispielsweise nicht mehr auf einen ausgeglichenen Haushalt fixiert, «aber erholt hat sich das Land noch lange nicht». Rund vierzig Prozent der irischen Bevölkerung lebe an oder unter der Armutsgrenze, «und im wirtschaftlich schwachen Norden sieht es nicht besser aus».

Noch ist offen, ob es zu einem «harten» Brexit ohne Übergangsvereinbarung kommt, zu einem «weichen» mit Backstop oder zu gar keinem Austritt. Darüber tobt im Unterhaus ein heftiger Streit, der in Nordirland Widerhall findet. Die rechtsklerikale protestantische Democratic Unionist Party (DUP) und die ehemaligen loyalistischen Paramilitärs lehnen den Backstop kategorisch ab. Denn mit ihm würde die Grenze de facto in die Irische See zwischen Nordirland und Britannien verlegt.

Das Gespenst des bewaffneten Kampfs

«Wenn der Backstop zeitlich begrenzt wäre, sagen wir auf fünf Jahre, dann würden wir vielleicht mit uns reden lassen», sagen Jim Wilson und Rab Williamson in einem Ostbelfaster Gemeindezentrum. Vor ihrem Büro überspannen Wimpelreihen mit kleinen Union Jacks die Strasse, an jedem Mast wehen nordirische Fahnen, die Wandmalereien an den Häusern rühmen die Heldentaten der Ulster Volunteer Force (UVF) und der Red Hand Commandos, die jahrzehntelang loyal zur Krone standen und KatholikInnen massakriert hatten. In den von zahlreichen Mauern durchzogenen Belfaster Arbeiterquartieren weiss man immer, woran man ist.

Auch Wilson, der wegen seine UVF-Mitgliedschaft längere Zeit in Haft sass, lässt keine Zweifel aufkommen.«Der Backstop bindet uns an Irland, da wäre ja ein Verbleib in der EU noch besser gewesen», sagt er. «Er nimmt uns unsere demokratischen Rechte, verletzt unsere Souveränität und liefert uns an die Republik aus», sekundiert Williamson, der wie Wilson – im Unterschied zur Mehrheit der nordirischen Bevölkerung – für den Brexit votiert hatte. Verbliebe Nordirland nicht trotzdem im Königreich? «Nur der Form nach», lautet die Antwort, «faktisch wären wir im eigenen Land Bürger zweiter Klasse.» Sie jedenfalls, führt Wilson aus, hätten «früher nur gebombt und getötet, um die Union zu verteidigen und eine Situation geschaffen, in der eine Konfliktlösung möglich wurde».

Aber werden sie nicht gerade von britischen Konservativen verraten, denen – einer Umfrage unter Tory-Mitgliedern zufolge – der Brexit wichtiger ist als Nordirland? «Den britischen Politikern haben wir nie getraut», sagen beide, «Margaret Thatcher nicht, Theresa May nicht und schon gar nicht Boris Johnson.» Dieser hatte zwischendurch sogar eine Nordirland-Backstop-Variante ins Spiel gebracht, die umfassende Grenzkontrollen zwischen Nordirland und Britannien unabdingbar gemacht hätte. «Wir können uns nur auf uns selbst verlassen», darin sind sich Wilson und Williamson einig. Und auch darin: «Von uns will niemand zurück zum Krieg – es sei denn, ein mögliches nordirisches Referendum würde nur sehr knapp zugunsten einer Vereinigung mit der Republik ausgehen. Das nehmen wir nicht hin.» Die Waffen dafür haben sie jedenfalls – wie alle Paramilitärs händigten auch die Loyalisten nur einen Teil ihres Arsenals aus.

Es geistert also weiterhin durch die Raum, das Gespenst des bewaffneten Kampfs. Auf der republikanischen Gegenseite vergeht kaum eine Woche ohne einen Anschlagsversuch: Hier eine Bombe, die noch rechtzeitig entdeckt wurde, da Scharmützel mit der Polizei, dort ein Überfall. Erst im April war in Derry eine Journalistin von einem Querschläger getötet worden. Besteht eine reale Gefahr? «Eine Rückkehr in die alte Zeit ist ausgeschlossen», sagt Tommy McKearney, der die Lage gut einzuschätzen weiss. «Das würde die Bevölkerung nie akzeptieren, und dann sind Gruppen wie die neu entstandene New IRA von Polizei- und Geheimdienstspitzeln durchsetzt.» Ein Wiederaufleben des bewaffneten Konflikts werde nur von jenen an die Wand gemalt, «die sich von der Drohung einen argumentativen Vorteil versprechen» – sei es die EU, Dublin, London oder nordirischen Parteien.

Unvorstellbare Änderungen

Wie Williamson und Wilson ist auch Sam Nicholson ein glühender Verfechter der Union mit Britannien – und doch liegen Welten zwischen ihm und den Loyalisten im früheren Ostbelfaster Werftquartier. Der Architekt und Gemeinderat von Armagh ist zwar ebenfalls ganz entschieden gegen eine Backstop-Lösung, weil diese «die Grenze zwischen uns und Britannien verlegen würde»; andererseits war für ihn schon die Brexit-Entscheidung ein grosser Fehler. «Ein Verbleib in der EU hätte den Zusammenhalt von Nordirland und Britannien stabilisiert – und uns die vielen Ungewissheiten erspart», sagt das Mitglied der Ulster Unionist Party, der liberaleren und inzwischen kleineren der beiden unionistischen Parteien Nordirlands. Vor allem für die eng verzahnte Landwirtschaft hüben wie drüben sei der Brexit desaströs: «Die Bauern hier im Norden bangen um die Agrarzuschüsse der EU, die ein gut Teil ihrer Einkommen ausmachen.» Auch in vielen anderen Sektoren, beispielsweise der Logistikbranche, wüssten Unternehmen nicht, wie es weitergehen soll.

Gäbe es nicht auch eine ganz andere Lösung, den Zusammenschluss von Nord- und Südirland? «Für mich als Unionist wäre das eine Katastrophe», stöhnt Nicholson, der in den neunziger Jahren in Dublin studiert hatte, was für NordirInnen seinerzeit höchst ungewöhnlich war. Andererseits, sagt er nachdenklich, «wäre ein Vereintes Irland ökonomisch wahrscheinlich vorteilhaft» – eine Einschätzung, die übrigens auch der Dubliner Gewerkschaftsökonom Taft teilt. «Überhaupt ist das heutige Irland nicht mehr von dem in den siebziger und achtziger Jahren zu vergleichen, als die Macht der katholischen Kirche noch ungebrochen war», sagt Nicholson und zählt auf: Reform des Scheidungsrechts, Aufhebung des Abtreibungsverbot, Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe.

«Ein solches Irland hätten wir uns früher nicht vorstellen können.» Vor kurzem nicht vorstellbar war für ihn auch die Haltung der Jungen: «In Zeiten der Globalisierung schwindet bei vielen Jugendlichen offenbar die Bedeutung von kultureller und nationaler Identität», sagt Nicholson, «sie haben wichtigere Themen, beispielsweise den Klimawandel.» Am Tag des Gesprächs hatte der «Belfast Telegraph» eine neue Umfrage zum Zugehörigkeitsgefühl der NordirInnen publiziert. Ihr zufolge wünschen sich 51 Prozent der Befragten ein Vereintes Irland, 49 Prozent die Beibehaltung der Union. Auffallend dabei: Von den unter 25-Jährigen sprachen sich 60 Prozent für eine irische Wiedervereinigung aus.

«Der Zerfall ist unausweichlich»

Dreizehn Meilen nördlich von Armagh mit seinen zwei Kathedralen liegt Dungannon, das Zentrum der nordirischen Fleischindustrie. Nirgendwo in Nordirland ist der Anteil der MigrantInnen so hoch wie hier, die zumeist in Zuchtbetrieben, Schlachthöfen und Fleischfabriken schuften. Allein beim Geflügelunternehmen Moy Park Chicken, das dem brasilianischen Agrarkonzern JBS gehört, stehen 5000 Arbeitskräfte auf der Lohnliste, darunter viele AusländerInnen. «Wir werden momentan völlig überrannt, es herrscht Panik», berichtet Bernadette McAliskey, Direktorin des Hilfswerks Step, das unter anderen MigrantInnen berät. «Viele wollen noch vor dem 31. Oktober ihre Familien nachkommen lassen oder fragen, wie sie sich registrieren lassen können.» Am 31. Oktober verlässt – falls sich das Unterhaus nicht durchsetzt – das Königreich die EU. Dabei hätten die Leute bis Ende 2020 Zeit, «aber das sagt ihnen niemand».

Und die Zukunft des Königreichs? «Es wird in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten auseinanderfallen», da ist die Frau mit dem grossen Gespür für soziale und politische Entwicklungen sicher, «der Brexit hat die Wiedervereinigung Irlands auf den Tisch gebracht, und dort wird sie auch bleiben.» In den sechziger und siebziger Jahren war McAliskey, damals unter ihrem Mädchennamen Bernadette Devlin bekannt, die Ikone der nordirischen Bürgerrechtsbewegung; im jugendlichen Alter ins Unterhaus gewählt, wo sie nach dem Blutsonntag von Derry 1972 – als die britische Armee vierzehn Demonstration erschoss – den damaligen Innenminister ohrfeigte, war sie bei einem loyalistischen Anschlag schwer verletzt worden, hat aber ihre politische Position nie verlassen.

Wie kommt sie darauf? «Hast du die Szenen im Unterhaus gesehen, als Johnson das Parlament in Zwangsurlaub schickte? Das erinnerte mich an den allerersten Bürgerrechtsmarsch 1968 von Coalisland nach Dungannon.» Damals hatte die Polizei die Innenstadt abriegelt, niemand wusste weiter und «so haben wir in unserer Ratlosigkeit das Lied ‹A Nation Once Again› angestimmt.» Als jetzt im Unterhaus die oppositionellen Parteien nicht weichen wollten, standen zuerst die walisischen Abgeordneten auf und sangen auf Walisisch eine walisische Hymne. Dann erhoben die Schotten und schmetterten einen schottischen Song. «Weil sie nicht weiter wussten, haben die aufgewühlten Politiker instinktiv auf ihre kulturelle Identität zurückgegriffen.» Der Zerfall sei unausweichlich. «Die Schotten werden gehen, ebenso die Nordiren.»

Neue Herausforderungen

Man kennt Mícheál Mac Donncha in Dublin. Anfang der neunziger Jahre war er Chefredakteur der Zeitung «An Phoblacht» gewesen, dem Parteiorgan von Sinn Féin, einst der politische Flügel der IRA. Und dann, 2014, wurde er als erster Sinn-Féin-Stadtrat von Dublin zum Oberbürgermeister der irischen Hauptstadt gewählt – ein Prestigeerfolg für die Partei, die im Norden mit sieben Unterhausabgeordneten die zweitstärkste Partei ist und auch im Süden trotz einiger Rückschläge eine gewichtige Rolle spielt. Sinn Féin, sagt Mac Donncha, habe seit jeher das Ziel eines vereinten, «demokratischen und sozialistischen» Irlands vertreten; an dem Adjektiv «sozialistisch» hält er – im Unterschied zu grossen Teilen seiner Partei – weiterhin fest.

In der Republik, sagt er, «sind rund siebzig Prozent der Bevölkerung für den Zusammenschluss von Nord und Süd, allerdings haben manche immer noch Angst vor einer Rückkehr zu den Troubles», wie der bewaffnete Konflikt genannt wurde. «Gleichwohl werden wir auf die Wiedervereinigung pochen», das sei schliesslich das Hauptziel der IRA gewesen. Allerdings dürfe das Ganze nicht auf einen simplen Anschluss des Nordens an den Süden hinauslaufen, also keine Vereinigung à la Germany. Das sehen McAliskey und Michael Taft ähnlich. «Wir sollten möglichst bald eine Konferenz der Linken anberaumen, die sich der Frage widmet: Welche Irland wollen wir eigentlich», meint die Bürgerrechtlerin. «Das dürfen wir nicht Varadkar [dem konservativen irischen Ministerpräsidenten Leo Varadkar] und der DUP überlassen. Es stehe momentan ja auch viel auf dem Spiel: «Das kapitalistische System steht vor dem Kollaps, das zeigt schon die Klimakrise, und niemand weiss, wie es zu reparieren wäre.» Dabei gäbe es durchaus Chancen, wie der Ökonom Taft erläutert: «Gemeinsam wären wir ökonomisch stärker und könnten die grossen Herausforderungen meistern» – etwa durch die Bündelung von Synergien und den Ausbau eines nachhaltigen Energiesektors durch Nutzung der Gezeiten, der Ozeanwellen, der Temperaturunterschiede des Wassers oder Windkraft. «Das ist deutlich effizienter als die Verdoppelung der Schafherden, die derzeit von der irischen Regierung geplant wird.»

Vieles ist in Bewegung geraten. «Die irische Vereinigung steht auf der Tagesordnung wie nie zuvor», sagt McGuigan, dem vor Tagen ein Gericht bestätigte, dass er in den siebziger Jahren von britischen Sicherheitskräften gefoltert worden war. Und Tommy McKearney ergänzt: «Sie wird kommen – nicht einem Jahr, nicht in fünf Jahren, aber vielleicht in zehn». Dann zählt er einige Faktoren auf: Die demografische Entwicklung im Norden, wo die irisch-nationalistische Gemeinschaft mittlerweile gleich gross ist wie die britisch-unionistische. Dann das Wohlstandsgefälle: Im Süden liegt das Pro-Kopf-Bruttoinlandprodukt deutlich über dem Britanniens. Und schliesslich die Jugend, die die Bewegungsfreiheit in der EU nicht missen will. So gesehen hat der Brexit – «initiiert von rechten Klein-Engländern, die glauben, uns ausserhalb der EU besser niedermachen zu können» (McAliskey) – auch was Gutes: Er könnte die 800-jährige Herrschaft Britanniens über Irland beenden. (pw)




Der Vertrag von Belfast

Nach mehreren Waffenstillstands-erklärungen der IRA, die von der kriegsmüden Bevölkerung einhellig begrüsst wurden, und nach zähen Verhandlungen unterzeichneten die Regierungen von London und Dublin sowie VertreterInnen der meisten nordirischen Parteien am 10. April 1998 den Vertrag von Belfast, gemeinhin Karfreitags-abkommen (KFA) genannt. Schirmherren der Vereinbarung waren die EU und die damalige US-Regierung. In zwei separaten Referenden stimmten die irische Bevölkerung (mit 94 Prozent) und die nordirische (71 Prozent) zu.

Mit dem KFA wurden ein nordirisches Regionalparlament, eine Regionalregierung und eine grenzüberschreitende Kooperation in Form eines Ministerrats und parlamentarischer Gremien beschlossen. Bedingung dafür war, dass alle paramilitärischen Verbände, vor allem die IRA und die Ulster Volunteer Force (UVF), ihre Waffen abgeben; dafür kamen die inhaftierten UntergrundkämpferInnen frei. Parallel dazu wurde die bis dahin fast exklusiv protestantische Polizei reformiert und die Europäische Menschenrechtskonvention ins Gesetzbuch aufgenommen.

Ausserdem schrieb das KFA fest, was vorher schon Praxis war: die unbeschränkte Personenfreizügigkeit auf der ganzen Insel. Und eine duale Staatsbürgerschaft. So können BürgerInnen im Norden wie im Süden neben dem eigenen Pass auch den des Nachbarstaats beantragen. Diese Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit ist der Grund für den Backstop.

Zudem kann jederzeit ein nordirisches Referendum stattfinden, wenn der britische Nordirlandminister den Eindruck hat, dass eine substanzielle Mehrheit der nordirischen Bevölkerung das will. An das Resultat dieses Referendums, das bei Bedarf nach sieben Jahre wiederholt werden kann, ist London gebunden. (pw