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Britannien: Die Erinnerung an 2003

Lektion gelernt

4. September 2013 | Die Entscheidung des Unterhauses gegen einen Syrien-Einsatz ist der britischen Antikriegsbewegung zu verdanken. Und der Dummheit des Premierministers.

Den Tausenden auf dem Londoner Trafalgar Square stand die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. Sie waren am vergangenen Samstag einem Aufruf der Antikriegskoalition gefolgt, die gegen die britische Beteiligung an einem drohenden Militärschlag auf Syrien protestieren wollte – und trotzdem gekommen, obwohl ihnen das Unterhaus am Donnerstag die Arbeit abgenommen hatte. «Die Abstimmung im Parlament war ein Resultat all unserer vielen Demonstrationen gegen Krieg und für Frieden», rief der Labourlinke Tony Benn, mit seinen 88 Jahren noch immer Präsident der Stop The War Coalition, der Menge zu.

Zum ersten Mal seit dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg hatte das Parlament einem Premierminister die militärische Gefolgschaft verweigert. Bis vergangene Woche war das Unterhaus der Regierung stets in den Krieg gefolgt – wie im Sommer 1919, als der damalige Kriegsminister Winston Churchill einen Giftgasangriff auf die Bevölkerung des revolutionären Russlands anordnete. Und auch bei den Attacken auf die Falkland-Inseln (1982), Afghanistan (2001), Irak (2003) und Libyen (2011) waren sich Opposition und Regierung bisher stets einig gewesen.

Fünfzig Selbstmorde im Jahr

Dass es diesmal anders kam, lag vor allem an David Cameron. Der Premierminister hatte weder die Stimmung in der Bevölkerung (zu zwei Dritteln gegen einen bewaffneten Einsatz) noch in der eigenen Partei begriffen. Zwar war ihm schon vorher mitgeteilt worden, dass nur 20 der 304 konservativen Abgeordneten vorbehaltlos eine Militäraktion gegen das syrische Regime unterstützen würden. Doch Cameron glaubte, es Tony Blair gleichtun zu können. Dieser hatte Anfang 2003 einer skeptischen Bevölkerung die Existenz von irakischen Massenvernichtungswaffen vorgelogen, die mit zwei Millionen TeilnehmerInnen grösste Anti-Kriegsdemonstration in der britischen Geschichte ignoriert und anschliessend das Land in einen kriminellen und verheerenden Krieg geführt.

Auch Cameron sprach von «eindeutigen Beweisen» und von der «Alternativlosigkeit» eines Vergeltungsangriffs auf Damaskus. Doch diesmal funktionierte das nicht. Zum einen wollten ältere Abgeordnete die Schmach loswerden, dass sie Blair vor zehn Jahren auf den Leim gegangen waren. Andere – wie die frühere Ärztin und konservative Hinterbänklerin Sarah Wollaston – erinnerten daran, dass der Westen bei Saddam Husseins Giftgasangriff auf KurdInnen (1985) weggeschaut habe und die USA selber chemische Waffen wie Phosphorbomben im Arsenal führen. Und manche werden auch gewusst haben, wie viele Menschen weiterhin an Kriegsfolgen leiden: Allein 2012 begingen fünfzig britische Soldaten und Afghanistan- und Irakveteranen Selbstmord – mehr als im selben Jahr bei Kämpfen in Afghanistan starben.

Und dann mag auch eine Rolle gespielt haben, dass Blair, seit einigen Jahren selbsternannter Friedensbotschafter in Nahost, schon früh auf einen Militärschlag drängte. Der konservativ-liberalen Regierung tat er damit sicher keinen Gefallen.

Und so stimmten dreissig konservative Abgeordnete und neun ParlamentarierInnen der Liberaldemokraten mit der oppositionellen Labour Partei. Deren Vorsitzender Ed Miliband – er war 2010 auch dank seiner Kritik an Blairs Irakkrieg zum Labour-Chef gewählt worden – schwankte anfangs ein bisschen. Aber dann brachte ihn eine Revolte der Partei und die Kündigung eines Mitglieds seines Schattenkabinetts zur Räson.

Nur mit Russland

Wenn die eigenen Abgeordneten Cameron nicht in den Arm gefallen wären, hätte US-Präsident Barack Obama wohl schon am vergangenen Wochenende den Angriffsbefehl gegeben. Aber ein Eingreifen nur mit Frankreich an der Seite und die begeistert applaudierenden Regierungen von Israel und der Türkei im Rücken – das wäre für ihn dann doch eine zu schmale Neuauflage von George Bushs «Koalition der Willigen» gewesen. Also braucht er zumindest das Plazet des US-Kongresses.

Ob Cameron die Botschaft verstanden hat, wie er nach der Unterhausabstimmung sagte, wird sich in den nächsten Tagen zeigen. Entwickelt seine Regierung nun politische Vorschläge zur Beendigung des vertrackten syrischen Bürgerkriegs? Drängt er die US-Regierung zu direkten Verhandlungen mit Moskau und zu Zugeständnissen an die russischen Machtinteressen in Nahost? Denn nur mit Russland – das die syrische Regierung ebenso unter Druck setzen könnte wie der Westen die Aufständischen – ist eine politische Lösung denkbar. Und kann er den Friedensnobelpreisträger Obama – der im Unterschied zu den BritInnen die Lektionen aus den desaströsen Kriegen in Afghanistan und Irak immer noch nicht gelernt hat – am G-20-Gipfel in St. Petersburg den Deal mit den Republikanern ausreden? Inzwischen scheint es durchaus möglich, dass der Kongress einer Intervention zustimmt – sofern diese auch auf den Sturz der syrischen Regierung abzielt. Sollte Cameron all das nicht einfallen und er weiter in militärischen Kategorien denken, steht nicht nur die britische Antikriegskoalition vor bewegten Zeiten. (pw)