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Britannien: Zum Tod von Jimmy Reid

Nur Ratten schwimmen immer mit

19. August 2010 | Der schottische Werftarbeiter zeigte 1971, dass ArbeiterInnen mindestens genauso viel von ihren Unternehmen verstehen wie das Management.

Wenn Lohnabhängige gegeneinander konkurrieren und Belegschaften nur noch auf den Erhalt ihres Standorts schauen, wenn Studierende gegeneinander arbeiten und nur auf den eigenen Vorteil bedacht sind – dann sei das ein «Rattenrennen», sagte er einmal in einer Rede an der University of Glasgow. «Wir aber sind keine Ratten», fügte Jimmy Reid hinzu, «wir sind menschliche Wesen». Und dann, an die StudentInnen gewandt, die ihn gerade zum Rektor der Universität gewählt hatten: «Widersetzt euch dem heimtückischen gesellschaftlichen Druck, der euch den kritischen Blick nehmen und euer Schweigen mit dem Versprechen auf eine Karriere erkaufen will.» Denn so beginne alles, «und bevor ihr merkt, wo ihr steht, seid ihr bereits Teil des Rattenrudels. Der Preis ist zu hoch.»

Die «New York Times» war damals, 1971, so beeindruckt von Reids Rede, dass sie ihren Wortlaut in voller Länge abdruckte und sie auch noch mit Abraham Lincolns Gettysburg-Ansprache verglich. Aber womöglich war es gar nicht die Rede, die die Redaktion so sehr faszinierte, sondern eher der Redner – Jimmy Reid, der vielleicht wortgewaltigste, radikalste, charismatischste und taktisch klügste britische Arbeiterführer der siebziger Jahre, und ein Kommunist dazu. Denn während Reid an der Glasgow University sprach, hielten seine KollegInnen die Upper-Clyde-Schiffswerft (UCS) von Glasgow besetzt – und das war ein Kampf, der seinerzeit eine ganze Generation inspirierte, überall in der industrialisierten Welt.

Jimmy Reid wuchs als Sohn eines Werftarbeiters im Hafenviertel von Glasgow auf; er verliess mit vierzehn die Schule, absolvierte eine Mechanikerlehre, organisierte einen Streik der Auszubildenden und trat der Kommunistischen Partei bei, die damals in Schottland noch eine politische Kraft darstellte. Nach etlichen Jahren als KP-Funktionär arbeitete er ab 1969 auf der staatseigenen UCS, die der damalige Labour-Technologieminister Tony Benn kurz zuvor durch eine Fusion von fünf Werften geschaffen hatte. Reids grosse Stunde kam, als die neugewählte konservative Regierung von Edward Heath 1971 beschloss, dem grössten Schiffbauunternehmen Schottlands einen Kredit in Höhe von sechs Millionen Pfund zu verweigern – und 6000 der rund 8000 ArbeiterInnen innert dreier Monate zu entlassen.

Wie reagieren? Teile der Belegschaft wollten sofort die einzige Antwort umsetzen, die die britische Arbeiterbewegung bis dahin kannte: Streik. Doch Jimmy Reid, bereits ein einflussreicher Führer des Komitees der Gewerkschaftsvertrauensleute, lehnte ab: Damit würde man der Regierung nur ins Messer laufen. Sein Gegenvorschlag: «Ohne Vandalismus, ohne Sauferei» die Werften besetzen und weiterarbeiten. Die Idee setzte sich durch, und so okkupierten die Belegschaften die Hallen und Kais und führten ihre Tätigkeit fort – ohne Chefs und gegen den Willen der Regierung.

Selten zuvor hatten Beschäftigte das von der Gewerkschaftsbewegung seit langem geforderte Recht auf Arbeit so eindrücklich umgesetzt. Das Work-in der UCS-ArbeiterInnen stiess auf eine gewaltige Resonanz: Überall in Britannien bildeten sich Solidaritätskomitees, die Geld für die BesetzerInnen sammelten (auch John Lennon schickte einen Scheck über 5000 Pfund); in Schottland protestierten die IndustriearbeiterInnen in zwei eintägigen Generalstreiks gegen die Tory-Regierung, und nach dem UCS-Work-in kam es in England und Schottland zu 200 Werksbesetzungen gegen geplante Betriebsstilllegungen. Es war nicht Reid allein, der das Work-in anführte; aber er war der Sprecher. Und seine zentrale Botschaft, die er in unzähligen Reden vermittelte, elektrisierte die Menschen so sehr, dass zum ersten Mal Studierende einen Arbeiter zu ihrem Rektor wählten: Die Lohnabhängigen wissen oft besser über ihre Branche und ihren Betrieb Bescheid als die Managerinnen und die Financiers.

Fünfzehn Monate demonstrierten die Glasgower WerftarbeiterInnen, was industrielle Demokratie bewirken kann – dann gab die Regierung nach. Und bewilligte neue Kredite. Noch heute bauen an der Upper Clyde 5000 WerftarbeiterInnen Schiffe.

Den Sprung in die grosse Politik hat der visionäre und «womöglich grösste linke Führer des modernen Britannien» («Guardian») selbst zum Bedauern der stockkonservativen Tageszeitung «Daily Telegraph» nie geschafft. Anfangs stand Jimmy Reid die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei im Weg; später verfehlte er als Mitglied der damals tendenziell linken Labour-Partei knapp den Einzug ins Unterhaus. Die KP hatte er verlassen, weil sie ihm politisch zu dogmatisch war, von Labour wandte er sich nach Tony Blairs Umbau der Partei ab.

Überhaupt hatten beide Parteien und auch die orthodoxe Linke wenig Freude an seinem Eigensinn, seiner kritischen Intelligenz. Als Arthur Scargill, mit dem er lange Zeit zusammengearbeitet hatte, die Bergarbeitergewerkschaft NUM 1984 in einen einsamen Kampf gegen die konservative Regierung von Margaret Thatcher führte, bekam auch der sein Fett ab: Scargills autoritärer Ansatz ruiniere die NUM, warnte Reid: «Wenn Kamikazepiloten eine eigene Gewerkschaft bilden würden, wäre Arthur der ideale Vorsitzende.»

Auch die Scottish National Party (SNP), der Reid 2005 beitrat, wäre auf Dauer wahrscheinlich kaum glücklich geworden mit dem langjährigen Journalisten, der im Jahr 2000 die linke Zweimonatszeitschrift «Scottish Left Review» mitbegründete. Mit seiner Ablehnung der britischen Kriege im Irak und in Afghanistan lag er zwar auf SNP-Kurs, aber einbinden liess er sich nie – auch nicht in den Mainstream eines sozialdemokratischen Nationalismus. Denn nur Ratten schwimmen immer mit. Jimmy Reid starb letzte Woche an einer Gehirnblutung. (pw)