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Deutschland: Zwei Jahre nach dem «Schwarzen Donnerstag»

In aller Ruhe keine Ruhe geben

2. Oktober 2012 | «Umfairteilen» – mit dieser Forderung zogen am Samstag Zigtausende durch vierzig deutsche Städte, auch in Stuttgart. Dort richtete sich der Protest vor allem gegen das neoliberale Bahnprojekt.

Es war dieselbe bunte Mischung aus Leuten wie früher: Lohnabhängige und Selbständige, Junge, mehr Ältere, viele Frauen – und den Zorn haben sie trotz aller Rückschläge in ihrem jahrelangen Kampf gegen das Bahn- und Immobilienprojekt Stuttgart 21 (S21) auch nicht verloren. Nur sind es nicht mehr ganz so viele. «Vor ein, zwei Jahren konnten wir zu den Grossdemonstrationen problemlos 20000, 30000 Menschen mobilisieren», sagt Tom Adler vom Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21, «heute sind es weniger». Dennoch waren es über 10000 DemonstrantInnen, die am Samstag vom Hauptbahnhof zum Schlossplatz marschierten, um an den «Schwarzen Donnerstag» am 30. September 2010 zu erinnern. Vor zwei Jahren hatte eine brutalisierte Polizei mehrere hundert Menschen zum Teil schwer verletzt.

Politisch sind sie seither radikaler geworden: Es stehen nicht mehr nur der alte Bahnhof im Mittelpunkt, der einem milliardenschweren Immobilienprojekt weichen soll, und nicht mehr die leistungsschwächere Tunnelbahnhaltestelle mit ihren acht Gleisen, die mindestens fünf Milliarden Euro kostet, vielleicht aber auch das Doppelte. Ihnen geht es inzwischen auch um die grossen Fragen: die fortdauernde Umverteilung von unten nach oben weltweit und die Aushöhlung der Demokratie. Für sie – das zeigten die Reden und die Reaktionen der Menge – ist Stuttgart 21 nicht bloss ein Ausrutscher bornierter ProvinzlerInnen, sondern ein «neoliberales Projekt» (so der Theaterregisseur Volker Lösch), mit dem öffentliches Eigentum in die Taschen von ImmobilienspekulantInnen fliesst. Und in das sich mittlerweile auch die in Baden-Württemberg regierenden Grünen haben einbinden lassen.

Spitzeleien und Geheimniskrämerei

Dass ein Teil der Stuttgarter Bevölkerung im Zuge der Proteste einen «politischen Bildungsprozess» durchlaufen hat, wie der Betriebs- und Stadtrat Adler das nennt, ist unter anderem den Behörden, der grün-roten Landesregierung und der Deutschen Bahn AG (DB) zuzuschreiben. Bis heute gibt es keine öffentlich-offizielle Aufarbeitung der Vorfälle vom «Schwarzen Donnerstag». Bis heute standen vor allem friedlich demonstrierende S21-GegnerInnen vor Gericht, während gegen die Verantwortlichen des Polizeieinsatzes nicht einmal ermittelt wurde. Die Staatsanwaltschaft verheimlicht sogar die Zahl der Verfahren, lässt aber weiter S21-KritikerInnen bespitzeln (darunter einen ehemaligen Vorsitzenden Richter am Landgericht Stuttgart). Und die neue Landesregierung deckt die Handlungen ihrer schwarz-gelben Vorgängerin.

Dazu kommt die Geheimniskrämerei der DB, die schrittweise den Regionalverkehr abbaut, Baukostenschätzungen verheimlicht und geologische Gutachten unter Verschluss hält. Der Stuttgarter Untergrund (er soll in einer Gesamtlänge von über 61 Kilometern für neue Schienentrassen durchbohrt werden) ist mit seinen Hohlräumen und den anhydrithaltigen Gipskeupern heikel. Kommt dieses Gestein mit Wasser in Berührung, quillt es auf und hebt die dicht besiedelte Oberfläche an. Welche Folgen das haben kann, ist in der Schwarzwaldstadt Staufen zu sehen. Dort beschädigte aufquellender Keuper 270 Häuser; in Stuttgart wäre es um ein Vielfaches mehr. Erst vergangene Woche musste der Stuttgarter Gemeinderat der Bahn Bohrungen im Gipskeuper verbieten; der Beschluss wurde einstimmig gefasst. Inzwischen merken auch die Bürgerlichen, was auf die Stadt zukommen könnte.

Die Bürgermeisterwahl

Dass ausgerechnet in dieser vielleicht behäbigsten aller deutschen Grossstädte die BürgerInnen nicht locker lassen, hat also nicht allein mit ihren Erfahrungen zu tun – den Schlichtungsverhandlungen Ende 2010 (die DB kassierte danach ihre Zusagen), dem getürkten DB-Leistungsfähigkeitstest des geplanten Kellerbahnhofs im Sommer 2011, der Volksabstimmung im November 2011, bei der die S21-BefürworterInnen mit gezinkte Karten spielten (siehe auch den Artikel Es geht munter weiter).

«In aller Ruhe keine Ruhe geben» – mit diesem Satz forderte der Schauspieler Walter Sittler am Samstag zum Durchhalten auf. Schwäbischer kann man das kaum formulieren. Und durchhalten werden sie, weil immer wieder neue Skandale die Runde machen und weil Stuttgart 21 noch lange nicht in trockenen Tüchern ist. Oben auf den Fildern hat noch nicht einmal das Planfeststellungsverfahren begonnen, der Stuttgarter Untergrund könnte weitere Überraschungen bieten, die vereinbarte und vielfach zugesicherte Kostenobergrenze von 4,5 Milliarden Euro wird sicher überschritten. Und wer weiss, vielleicht wachen ja auch noch die Gemeinden im Einzugsbereich der Gäubahn von Stuttgart nach Singen auf. Egon Hopfenzitz, der frühere Vorsteher des Stuttgarter Hauptbahnhofs, berichtete in seiner Rede am Samstag, dass die DB auf dieser Strecke den Bahnverkehr reduzieren will.

Auch die Infrastruktur ist noch da. Noch immer bieten die 200 Freiwilligen der Mahnwache am Hauptbahnhof Informationen rund um die Uhr. Die Wochenzeitung «Kontext» und die in Zusammenhang mit dem Kampf um s21 entstandene Monatszeitung «Einund20» halten die S21-GegnerInnen auf dem Laufenden. Und dann sind da immer noch die Montagsdemonstrationen mit ihren 2000 bis 3000 TeilnehmerInnen. Zwei Tage nach den Samstagskundgebungen trafen sich also viele wieder, und diskutierten am Rand der 142. Montagsdemo auch über die Stuttgarter Bürgermeisterwahl am kommenden Sonntag, der vielleicht interessantesten deutschen Lokalabstimmung in diesem Jahr. Vier KandidatInnen liegen laut Umfragen vorne: Der bundesweit bekannte konservativ-grüne Politiker Fritz Kuhn, ein von CDU, FDP und den Freien Wählern unterstützter Multimillionär, eine von der SPD portierte Verwaltungsfachfrau und Hannes Rockenbauch, lange Zeit Sprecher des Anti-S21-Aktionsbündnisses. Es könnte spannend werden. Denn Stuttgart, wo über Jahrzehnte hinweg CDU-Oberbürgermeister gewählt wurden, ist keine mehrheitlich bürgerliche Stadt mehr. (pw)