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Deutschland: Regierung gegen Bevölkerung

Chaostage in Berlin

17. Juni 2010 | Zerrüttung im bürgerlichen Kabinett, Dauerstreit zwischen Union und den Liberalen: Das rabiate Sparprogramm sorgt nicht nur bei den Armen für Unsicherheit.

Selten zuvor hat es so viel Spass gemacht, bürgerlichen Parteien beim Regieren zuzusehen. Da wird gehauen und gestochen, intrigiert und demontiert, dass einem das Herz im Leibe hüpft. Arbeits- und Sozialministerin Ursula van der Leyen (CDU), die vor kurzem noch als Spitzenkandidatin für das Präsidialamt gehandelt wurde: von Angela Merkel brüskiert. Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP), der eine Staatshilfe für den angeschlagenen Autokonzern Opel ablehnte: in den Senkel gestellt von der Kanzlerin, die kurz danach Brüderles Entscheidung bestätigte. Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), Deutschlands beliebtester Politiker: so desavouiert, dass er seinen Rücktritt angeboten haben soll. FDP- und CSU-Gesundheitspolitiker knallen einander Kosewörter wie «Wildsau» und «Gurkentruppe» vor den Latz – und bei der FDP läuft derzeit alles aus dem Ruder, wie die Rücktrittsforderungen an FDP-Chef Guido Westerwelle zeigen: Sie kommen von der eigenen Basis.

Laut Meinungsumfragen erwartet eine Mehrheit der Bevölkerung mittlerweile ein vorzeitiges Scheitern von Schwarz-Gelb. Aber da dürfte der Wunsch Vater des Gedankens sein. Denn trotz des klug gewählten Zeitpunkts – nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, als es ohnehin nichts mehr zu verlieren gab, und kurz vor der Fussball-WM, die alle Aufmerksamkeit bindet – ist niemandem entgangen, was die Berliner Koalitionsregierung an ihrer Klausurtagung vorletztes Wochenende ausgeheckt hat: den grössten Sozialabbau in der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Gespart wird nur unten

Innerhalb der nächsten vier Jahre will Schwarz-Gelb insgesamt achtzig Milliarden Euro einsparen – über ein Drittel davon im Sozialbereich. Langzeitarbeitslosen und sozial Schwachen (den sogenannten Hartz-IV-EmpfängerInnen, die monatlich maximal 359 Euro erhalten) soll das Elterngeld ersatzlos gestrichen werden, 300 Euro im Monat, die sie für ihre Kleinkinder dringend brauchen. Sie sollen auch den staatlichen Zuschuss an die Rentenversicherung verlieren – mit der Folge, dass die Altersarmut weiter zunimmt. Und Jobsuchende, die nach einem Jahr Erwerbslosigkeit in Hartz IV abrutschen, müssen (sollte sich die Regierung durchsetzen) künftig ohne das bisher gewährte monatliche Übergangsgeld in Höhe von 160 Euro im ersten und 80 Euro im zweiten Jahr auskommen. Auch der Heizkostenzuschuss für WohngeldempfängerInnen soll wegfallen, und von den Arbeits- und Sozialämtern wird erwartet, dass sie ihren Ermessenspielraum bei der Gewährungen von Leistungen nutzen, um weitere zwei Milliarden pro Jahr einzusparen. Parallel dazu will Merkels Koalition den Staat, ohnehin einer der schlanksten in Westeuropa, weiter schrumpfen: 15 000 Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel.

Die Regierung begründet die Sparmassnahmen mit einem Anstieg der Staatsschulden seit 2008 um 180 Milliarden Euro; rund 100 Milliarden davon gehen allerdings auf das Konto der Bankenrettung. Doch die Banken, die Vermögenden, reiche Erben und hohe Einkommen schont sie. Sie plant eine Bankenabgabe, die aber soll gerade mal zwei Milliarden im Jahr bringen. Sie will Bahngewinne einziehen, obwohl der Sanierungsbedarf der DB gigantisch ist. Sie denkt an eine Energieabgabe für Stromkonzerne, verknüpft dies aber mit der höchst umstrittenen Verlängerung der AKW-Laufzeiten. Ausserdem sollen auch Firmen eine Ökosteuer zahlen – aber nur solche, die nicht im globalen Wettbewerb stehen (und welches Unternehmen hat in Deutschlands exportfixierter Ökonomie keine internationalen Kontakte?).

Mit diesem Programm, das noch durchs Parlament geboxt werden muss, beschleunigt Merkels schwarz-gelbe Regierung einen Trend, den das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) jetzt untersucht hat. In einer am Dienstag veröffentlichten Studie schreiben die DIW-Wissenschaftler: «Die Einkommensschere zwischen niedrigen und hohen Einkommen hat sich in Deutschland weit geöffnet.» Während die Armen «nicht nur immer mehr, sondern auch immer ärmer» werden, «steigt die Zahl der Menschen, die in Luxus leben». Mitte vergangener Woche zitierte die «Financial Times Deutschland» eine internationale Untersuchung, laut der im Krisenjahr 2009 in Deutschland 430 000 Haushalte über ein von Banken verwaltetes Vermögen von einer Million US-Dollar und mehr verfügten – 22 Prozent mehr als im Jahr zuvor.

Mit der FDP geht gar nichts

Die Mittelschicht erodiert. Viele mit mittleren Einkommen befürchten, in die Unterschicht abzustürzen. Das erklärt, weshalb das Thema soziale Gerechtigkeit auch für politisch konservativ gesinnte Menschen an Bedeutung gewinnt – und das Sparprogramm der Koalition auch an der Unionsbasis auf Widerspruch stösst. Es gibt Alternativen zum schwarz-gelben Sparprogramm: Allein eine Rückkehr zu den Steuersätzen während der Regentschaft von Helmut Kohl (CDU) würde siebzig Milliarden bringen – im Jahr. Die Einkünfte aus Bankenabgaben und einer Finanztransaktionssteuer (die problemlos möglich wäre) sind da noch nicht mitgerechnet. Wer aber soll eine andere Politik durchsetzen? Die Union kann das nicht, solange sie die FDP am Bein hat. Die SPD, die im Bündnis mit den Grünen die Besteuerung der Reichen, der Banken, der Unternehmen massiv reduziert hatte, rennt wie ein gerupftes Huhn über den politischen Hinterhof. Und die Linkspartei, gegen die die grossen Medienverlage unverändert schiessen, ist zu schwach.

Bei der ausserparlamentarischen Opposition sieht es nicht viel besser aus: Auf zwei nationalen Kundgebungen in Berlin und Stuttgart demonstrierten am vergangenen Wochenende gerade mal 40 000 Menschen gegen den Sozialabbau. Der Deutsche Gewerkschaftsbund, seit Jahrzehnten ein Papiertiger, glaubt noch immer, Proteste je nach politischer Wetterlage ein- und ausknipsen zu können – und wundert sich, wenn nicht mehr Menschen daran teilnehmen. Die IG Metall verfolgt seit Jahren eine Standortstrategie, die nur ihre Kernbelegschaften schützen soll. Und die grosse Dienstleistungsgewerkschaft Verdi tut nicht mal das, wie ihre Intervention bei der Insolvenz des grossen Kaufhauskonzerns Karstadt zeigte: Da fiel die Verdi-Spitze den BelegschaftsvertreterInnen in den Rücken, die um 25 000 Arbeitsplätze kämpfen.

Angesichts dieser Opposition wird Merkel wohl noch eine Weile durchhalten – egal, was die Zeitungen derzeit schreiben. Ihr Kabinett sorgt so lange für Unterhaltung. (pw)